Detaillierte CAD-Daten werden zum Flaschenhals Die virtuelle Fabrik erfordert noch weitgehend Kompromisse

17.03.1995

MUENCHEN (ue) - Die Entwicklung von Virtual-Reality-Systemen wird bislang eher vom technischen Pioniergeist als von reeller Anwendernachfrage gepraegt, so der Tenor auf dem Stuttgarter Kongress

"Virtual Reality World '95". Das Konferenzprogramm bestaetigte diese Situation: Die praesentierten Applikationen fuer virtuelle Fabriken und Roboter stammen derzeit noch ueberwiegend aus den Laboratorien der Forschungsinstitute und Hersteller. Der grosse Durchbruch wird erst dann erwartet, wenn auch die Industrie auf das Potential dieser Technik setzt.

Konservatives Denken seitens Behoerden und Branchen gerade in dem fuer Virtual Reality (VR) praedestinierten Bereich der Architektur machen Experten dafuer verantwortlich, dass heutzutage immer noch ueberwiegend mit 2D-Plaenen gearbeitet wird. Als Hemmschuh der VR- Entwicklung im deutschsprachigen Raum nennt der Innsbrucker Branchenspezialist Christian Bauer auch das zoegerliche Verhalten der mittleren und Grossindustrie. Die potentiellen Anwendergruppen der Automobil-, Flugzeug- und Raumfahrtkonzerne zeigten sich zwar durchaus interessiert an der neuen Technik und wuerden sich auch regelmaessig zu internationalen VR-Tagungen wie in Stuttgart treffen, zu groesseren Investitionen habe sich bislang allerdings nur eine Gruppe innerhalb der Daimler-Benz AG durchringen koennen. Firmen wie Volkswagen, Audi, Porsche, Opel und BMW verhielten sich dagegen eher zurueckhaltend. Hier sieht Bauer einen Teufelskreis: Im Vergleich zu amerikanischen Verhaeltnissen, wo die Unternehmen zum Bau von Prototypen und ersten Produktversionen auch mit unausgereiften jungen Techniken experimentieren, sei die Risikobereitschaft in Europa dazu eher gering - eine fuer Hersteller schlechte Voraussetzung, um VR-Produkte zur Marktreife zu entwickeln.

Bei Daimler-Benz ruehmt man sich dagegen, bereits zu Zeiten auf dem Gebiet der Virtual Reality geforscht zu haben, als man diese Bezeichnung noch gar nicht kannte. Aktuelle und zum Stuttgarter Kongress vorgestellte Projekte betreffen die Telemanipulation von Robotern fuer den Weltraum, neue Flug- und Fahrsimulatoren sowie Techniken zur ergonomischen Gestaltung des Fahrzeuginnenraums. Speziell bei Mercedes-Benz arbeitet man derzeit an der Simulation eines robotergesteuerten Einbaus von Fahrzeugkomponenten wie Kraftstoffbehaelter und Armaturenbrett.

Die weitgehende Integration saemtlicher CAx-Entwicklungsschritte fuer Produkte und deren Design ist dabei allerdings ambivalent zu betrachten. Die logische Uebernahme von Konstruktionsdaten in eine Simulation wird aufgrund der Detailfuelle zum Flaschenhals. Um etwa potentielle Kollisionsgefahren waehrend des Tankeinbaus zu erkennen, mussten die Stuttgarter Experten ueber 70 Prozent der gesamten Versuchszeit zur Schaffung eines geeigneten, deutlich vereinfachten geometrischen Modells aufwenden. Lediglich 28 Prozent entfielen auf die Programmierung der virtuellen Roboter und die eigentliche Simulation. Die Datenquelle werde damit zum groessten Problem auch fuer andere VR-Anwendungen, heisst es bei Mercedes-Benz. Ein Durchbruch dieser Technik sei erst dann zu erwarten, wenn der Modellierungsaufwand erheblich reduziert wird.

In virtuellen Fabriken bewegt sich auch das Heinz Nixdorf Institut der Universitaet-GH Paderborn. Unter Leitung von Professor Juergen Gausemeier will man dort ein Unternehmen mit seinen typischen Geschaeftsprozessen Planung, Produktionsvorbereitung und Auftragsbearbeitung simulieren. Ein detailliertes Computermodell soll die 3D-Visualisierung in Echtzeit ermoeglichen. Um die Situation moeglichst realistisch zu halten, werden kommerziell verfuegbare CAD/CAM- und PPS-Programme integriert. Der Anwender soll spaeter mit Hilfe von Head-mounted-Displays einzelne Produktionszellen betreten und die Programme bedienen koennen.

Das Projekt befindet sich derzeit in der ersten Phase, in der Prototypen fuer einzelne Fertigungsstufen realisiert werden. Die Paderborner gehen davon aus, dass dieser Schritt die groessten Anforderungen an die Grafik und Interaktion stellt. Dabei bedient man sich einer zweistufigen Systemarchitektur: Ein Teil entfaellt auf die Generierung der Szenerie, der andere auf die Berechnung des technischen und physikalischen Verhaltens der virtuellen Maschinen.

Das Datenmodell ist konsequent objektorientiert aufgebaut und enthaelt zahlreiche Submodelle, so etwa im Grafikbereich fuer Polygone, Beleuchtung, Animation und Texturen. Das hierarchisch angeordnete Klassenmodell ist moeglichst einfach gehalten und bildet eine der Schluesselkomponenten fuer die sogenannte Virtual Environment.

Herzstueck der Hardware ist eine SGI-Workstation "Onyx/RE2" mit vier RISC-Prozessoren (R4400, 150 Megahertz), 256 MB RAM und Multi Channel Option (MCO) fuer die Grafikausgabe an die beiden Helm- Displays. Waehrend die Onyx-Maschine hauptsaechlich fuer die Rendering-Aufgaben reserviert ist, uebernimmt eine Indy-Workstation alle uebrigen Berechnungen, die nichts mit dem Bildaufbau zu tun haben. Beide Rechner sind via Ethernet miteinander verbunden.

Der aktive Benutzer (Active Visitor) wird mit einem Headmounted-Display (HMD) und einer Flying-3D-Mouse ausgestattet. Um auch ein groesseres Publikum (Passive Visitors) an dem Rundgang teilnehmen zu lassen, werden die Bildsignale parallel zum HMD zu einer stereoskopischen Projektionswand geschickt. Bei der Software verwenden die Paderborner als Basisprogramm "DVS" von der britischen Division Ltd., die den Vorteil bietet, eine VR- Applikation auch ueber ein Netzwerk auf verteilten Rechnern laufen zu lassen.

Die Technik fuer VR-Anwendungen ist mit dieser oder aehnlichen Anlagen zwar vorhanden, steckt aber noch in den Kinderschuhen. Auf diesen Nenner lassen sich die Erfahrungen bringen, die am Department of Manufacturing Engineering and Operations Management der University of Nottingham, England, mit VR-Teilnehmern gesammelt und in Stuttgart vorgetragen wurden. Industrievertreter hatten am Forschungsinstitut die Gelegenheit zu einem eintaegigen Spaziergang durch eine simulierte Produktionszelle, in der im Spritzgussverfahren Plastik-Puppenwagen fuer Kinder hergestellt wurden.

Abgebildet wurde der gesamte Fertigungsprozess einschliesslich des Produkttransports ins Lager via Gabelstapler. Als wichtigstes Feature wurde die Interaktion des Teilnehmers mit dem System genannt: Er hatte die Moeglichkeit die Maschinen zu starten, konnte deren Seitenverkleidungen abnehmen, um den Produktionsprozess im Inneren aus verschiedenen Blickwinkeln zu beobachten und hatte darueber hinaus Einfluss auf das Produktdesign.

Derartige Systeme seien zwar nuetzlich, mit der zur Zeit verfuegbaren Interface-Technik aber noch wenig komfortabel und fuer komplexe Modellierungsaufgaben nicht geeignet, so die Reaktionen. Die Designfunktionen reichten allenfalls fuer erste Entwuerfe aus und koennten CAD-Programme nicht ersetzen.