Standardsoftware

Der Trend geht von Paketen zu Päckchen

11.10.1996

CW: Vor einiger Zeit hat die Aussage eines Marktforschungsinstituts, R/3 sei bald museumsreif, die Anwender aufgeschreckt. Ist das Softwarekonzept von SAP bereits veraltet?

Gümbel: Heute gibt es kein Standardpaket, das alle Kriterien an eine moderne Software erfüllt. Angesichts des galoppierenden technologischen Fortschritts tritt eine schnelle Alterung der Produkte ein. Was man am Markt kaufen kann, ist eigentlich immer schon veraltet, weil die Entwicklungslabors bereits Besseres ausgetüftelt haben.

CW: Wie müßte eine durch und durch moderne Anwendungssoftware heute aussehen?

Gümbel: Es gibt mehrere Adjektive, die relevant sind: objektorientiert, komponentenbasiert, multimedial, Internet-fähig, Workflow-basiert und prozeßorientiert.

CW: Gibt es ein Produkt, das diesen Ansprüchen genügt?

Gümbel: Nein. Ein Hersteller, der diese Anforderungen hundertprozentig erfüllen würde, wäre schnell pleite. So toll einige theoretische Konzepte auch erscheinen mögen, die Hersteller müssen den täglichen Spagat zwischen alt und neu schaffen.

CW: Das kann aber nicht heißen, R/3 forever.

Gümbel: Kein Hersteller, wie groß sein Marktanteil auch sein mag, kann sich heute einen Stillstand leisten. Andererseits kann man aber auch den Anwendern nicht alle fünf bis zehn Jahre die aufwendige Migration zu einer neuen Produktgeneration zumuten. Der Markt erwartet also beides, Evolution und Revolution. Anders ausgedrückt: Wenn SAP weiter führend sein will, müssen die Manager in Walldorf ein strammes Entwicklungstempo vorlegen.

CW: Auf der Benutzerkonferenz im August in Philadelphia hat SAP die Zerlegung von R/3 in sogenannte Komponenten angekündigt, was bei Anwendern und Analysten viel Verwirrung angerichtet hat.

Gümbel: Lassen Sie uns diese Ankündigung einmal näher betrachten: Wenn die SAP den Bruch zu einer neuen Architektur vermeiden möchte, muß sie das R/3-System für neue Möglichkeiten öffnen. Erstens muß R/3 Internet-fähig werden, zweitens Fremdsysteme einfacher anbinden und drittens als dediziertes System flexibel zu konfigurieren sein. Solange R/3 ein monolithisches Großsystem ist, lassen sich diese Anforderungen nicht realisieren. Notwendig wird Objektorientierung. Mit den BAPIs (Business Application Programming Interfaces, Anm. d. Red.) hat SAP den ersten Schritt dazu gemacht. Die Zerlegung des Systems in Komponenten ist die Weiterentwicklung dieses Ansatzes.

CW: Wie sind diese Komponenten softwaretechnisch definiert?

Gümbel: Die Zerlegung der Anwendungspakete in kleinere Päckchen zeichnet sich als allgemeiner Trend im Softwaremarkt ab. Auch Microsoft beispielsweise hat diesen Weg eingeschlagen. Im Unterschied zu Objekten sind Komponenten nicht daten-, sondern funktionsorientiert. SAP hat angekündigt, daß es solche Komponenten ab der Version 4.0, die im Herbst nächsten Jahres kommen soll, etwa für Personalwirtschaft, Produktdaten-Management und Treasury geben wird.

CW: Welche Vorteile bietet diese Zerschlagung des Monolithen für den Anwender?

Gümbel: Entscheidend ist, daß die Konfiguration der Anwendungssysteme flexibler wird. Die Business-Komponenten sind eigenständige Funktionseinheiten. Zum einen kann der Anwender von verschiedenen Herstellern einzelne Komponenten beziehen und sich daraus sein Idealsystem zusammenbasteln. Zum andern können Großkunden von SAP, die weltweite Anwendungsinfrastrukturen betreiben, dedizierte R/3-Systeme aufbauen, also den betriebswirtschaftlichen Bereich Personal beispielsweise nur am Standort X und Finanzen am Standort Y. Bislang ist das nur mit großem Konfigurationsaufwand möglich, weil das R/3-System modulübergreifende Funktionalitäten hat, zum Beispiel die Stammdatenverwaltung.

CW: Welche Gefahren stecken in diesem Komponentenansatz?

Gümbel: SAPs Anspruch ist sehr groß und vielversprechend. Das Unternehmen wandelt sich damit vom Hersteller einer homogenen Integrationslandschaft zum Anbieter einer Integrationsplattform. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob dieser Umbau des R/3- Systems bis zum nächsten Herbst wirklich zu schaffen ist. Denn es geht nicht nur um eine Zerlegung in kleinere Funktionseinheiten. Gleichzeitig soll ja die Fiktion der Integration erhalten bleiben. Zum andern müssen sich die Anwender im klaren sein, daß eine bunt zusammengewürfelte Anwendungslandschaft bei der Wartung und Pflege natürlich auch Probleme bereitet.

CW: Thema Internet. Welche Bedeutung besitzt das World Wide Web generell für Standard-Anwendungssoftware?

Gümbel: Zweifellos eine sehr große. Internet ist kein kurzlebiger Modetrend, der die DV-Welt heute aufrüttelt und spätestens übermorgen wieder ein alter Hut ist. Anbieter und Anwender müssen sich darauf einstellen, daß Internet und World Wide Web eine Neuorientierung in der Datenverarbeitung einläuten, die sich nachhaltig auch auf die Anwendungslandschaft der Unternehmen auswirken wird. Auch wenn viele Entwicklungen noch in den Kinderschuhen stecken und heute noch kein Hersteller ein überzeugendes Produkt vorweisen kann, gilt es als sicher, daß Internet-Fähigkeit zu den Hauptkriterien moderner Standardanwendungssoftware gehören wird.

Damit verbunden ist die Abkehr von dem bislang gültigen Paradigma, daß Anwendungs-Software das Herz der Unternehmens-DV darstellt. Von dieser introvertierten Sicht müssen sich Anbieter und Anwender im Zeitalter der Daten-Highways und Cyber-Wirtschaft verabschieden. Das Internet ermöglicht den Sprung über die Unternehmensgrenzen und schafft Voraussetzungen für eine neue IT- Infrastruktur, in der Standardlösungen nur noch das Zwischenstück sind, über das übergreifende Geschäftsprozesse abgewickelt werden.

CW: Welche Einsatzszenarien sind heute sinnvoll, welche sind Marketing-Gags?

Gümbel: Eine WWW-Adresse auf der Werbebroschüre macht noch keine Internet-Strategie. Täglich bieten neue Unternehmen einfache Kiosklösungen, indem sie einige mehr oder weniger bunt bebilderte Web-Seiten mit Informationen und vielleicht der Möglichkeit des Online-Shoppings über einen Auskunfts-Server anbieten. Besonders spannend ist das noch nicht. Cyber-Business beginnt erst damit, daß Kunden-Lieferanten-Beziehungen und Bestellungen über das Internet abgewickelt werden. Der eigentliche Vorteil des Internet liegt darin, daß man auf externe Datenbestände zugreifen und diese Quellen in die eigene Anwendung einblenden kann.

CW: Und wie weit sind die Anwender?

Gümbel: Von Data-Warehouse-Anwendungen, die interne und externe Datennetze verbinden, ist man heute noch weit entfernt. Solche Szenarien stellen nicht nur hohe technische Anforderungen. Ein größerer Bremsklotz ist die organisatorische Struktur der Unternehmen, die eine radikale Änderung in Richtung offene, globale Kommunikation derzeit verhindert. Zum Denken in den Unternehmen paßt heute eher eine Standleitung als ein weltweites Kommunikationsforum für jeden.

CW: Worauf sollen Käufer von Standardsoftware heute schon in puncto Internet und World Wide Web achten?

Gümbel: Am wichtigsten ist die Frage, ob der Hersteller eine Strategie zur Erweiterung seiner Lösung für den Austausch von Business-Objekten anbietet. Bevor man darangeht, Internet- Anwendungen aufzubauen, sollte man sich versichern, daß der Anbieter bereits ernsthafte Projekte vorweisen kann. Auch beim Aufbau von Internet-Anwendungen kann man schnell einige Hunderttausende an Beratungskosten loswerden.

CW: Die Anbieter nutzen nun alle Internet und WWW in ihren Portfolios. Gibt es Unterschiede in der Vorgehensweise? Welches sind die Stärken und Schwächen der einzelnen Internet-Strategien?

Gümbel: Man kann zwei Lager unterscheiden. Die meisten Anbieter haben sogenannte Internet-Bolt-ons entwickelt, womit sie aus ihren Anwendungen einen Übergang ins Netz schaffen. Diese Schnittstellen sind vergleichbar mit den früheren grafischen User-Interfaces, die 3270-Emulationen übergestülpt wurden und mit der Benutzerfreundlichkeit von PCs nur sehr entfernt etwas zu tun hatten.

Mutiger, aber auch aufwendiger ist die Entwicklung Internet- tauglicher Business-Objekte. Mittelfristig bietet dieser Ansatz eine wesentlich bessere Möglichkeit für verteilte Applikationen im Internet, weil es die teils doch sehr komplexen Anwendungen für den Datenaustausch in Messages von überschaubarer Größe zerlegt. Als einziger großer Anbieter von Geschäftssoftware hat bislang SAP diesen Weg eingeschlagen.

CW: Empfehlen Sie den Anwendern eine gehörige Portion Skepsis?

Gümbel: Grundsätzlich gilt, daß Ansätze, die auf ein hundertprozentiges Applikations-Management abzielen, kritisch zu betrachten sind. Bei verteilten Anwendungen im Internet muß man mit einem hohen Grad an Unvollkommenheit rechnen entsprechend muß der Applikationsadministrator ein erhebliches Maß an Chaos- Toleranz zulassen. Des weiteren ist bei Internet-Lösungen zu beachten, daß die Kommunikationsstandards noch nicht entschieden sind. Eine zu frühe Festlegung kann sehr gefährlich sein.

CW: Ist die enge Anlehnung an Microsoft, wie sie SAP vorführt, im Bereich Internet sinnvoll?

Gümbel: Microsoft ist ein Faktor, den keiner ignorieren kann. Ebenso sträflich ist es aber natürlich, wenn man neue Mitspieler wie etwa Netscape gar nicht zur Kenntnis nimmt. Dies wäre SAP nicht zu empfehlen, zumal es Bill Gates trotz erheblicher Anstrengungen noch nicht geschafft hat, die gesamte Internet-Welt in Microsoft zu vereinen.

CW: Welchen Einfluß hat dies auf den Bestand von Abap/4 als Entwicklungsumgebung?

Gümbel: Mit Java und Visual Basic stehen heute schon weitverbreitete Programmiersprachen zur Verfügung, die Abap/4 zur Seite drängen werden. Aber die SAP hat so hohe Investitionen in ihre Entwicklungsumgebung getätigt, daß diese mit Sicherheit weiterentwickelt und die Jahrtausendwende überstehen wird. Ein objektorientiertes Abap wird es gewiß geben.

CW: Wird ein Network Computer mit Browser und heruntergeladenen Applets der generelle Arbeitsplatz für Anwendungssoftware ê la R/3?

Gümbel: Nein, auf keinen Fall. Sicherlich wird es in Zukunft etliche Endbenutzer geben, die mit R/3 arbeiten, ohne daß ihnen dies bewußt wäre. Denken Sie beispielsweise an die Kunden, die sich via Internet in das Bestellsystem eines Versandhauses einwählen und - ohne es zu wissen - ihre Daten in das dort installierte R/3-System eingeben. Speziell im Home-Bereich wird es viele dieser Benutzer geben. Aber der Arbeitsplatz der typischen R/3-Anwender wird nach wie vor in eine Client-Server-Architektur eingebunden sein.

CW: Werden Internet und das WWW bisherige Konzepte zum Datenaustausch wie EDI überflüssig machen?

Gümbel: Im Gegenteil. Internet erweitert den formatierten Datenaustausch. Das größte Problem bei EDI ist ja bislang, daß die Dateninhalte oft nicht mit dem aktuellen Datenbestand übereinstimmen. Durch die Nutzung der Internet-Technologien wird man direkt auf die externen Daten- banken zugreifen. So kann der Kunde zum Beispiel online mit den Materialstammdaten des Lieferanten arbeiten. Dadurch ergibt sich eine höhere Qualität der EDI-Messages. Daß EDI abgelöst wird, ist schon deshalb nicht denkbar, weil das Internet beispielsweise keine Aussagen über Netzauslastungen und Störeinflüsse erlaubt. Außerdem ist EDI als Standard etabliert.

*Heidrun Haug ist freie Journalistin in Tübingen.