Standardsoftware am Beispiel der Flachglas-Branche:

Der Planung liegt ein Monsterkunde zugrunde

18.09.1981

Ausgangspunkt für eine angestrebte Branchen-Software-Lösung ist meistens ein Einzelauftrag. Wenn dann der Auftraggeber noch im vollen Brustton der Überzeugung behauptet, sein Betrieb sei typisch für die gesamte Branche, geht der Programmierer frisch ans Werk. Seine Arbeit wird von den rosigsten Zukunftsträumen begleitet, was die künftige Vermarktung "seines" Programms betrifft. Soweit die übliche Einstiegssituation.

Spätestens der zweite Interessent berichtet dann aber, bei ihm liefe das alles ganz anders, und so könne er das Programm, das ja im großen und ganzen recht brauchbar sei, nicht einsetzen.

Kein Problem. Es wird erweitert, angepaßt und verändert, bis auch diese Lösung "steht" Programmvorstellung und Auftragsabwicklung beim dritten Kunden laufen ab wie beim zweiten. Der vierte Kunde bereits erhält eine Losung, die inzwischen eine so komplizierte Struktur besitzt und angeflickte Sonderlösungen enthält, daß selbst der Programmautor manchmal die Übersicht verliert. Ganz abgesehen davon, daß die Programme immer großer werden und gleichzeitig der Datendurchsatz abnimmt. Von Flexibilität in irgendeiner Richtung ist eh keine Rede mehr. Spätestens hier ist die Branchenlösung tot. Hat ein Software-Haus den Ehrgeiz, eine echte Branchen-Lösung zu schreiben, wird diese eingangs beschriebene Erfahrung nicht aus dem Auge gelassen werden.

Als erstes stellen sich sofort folgende Fragen:

- Benutzt der Pilot die richtige Hardware, bezogen auf das Preis-/Leistungsverhältnis in Verbindung mit dieser Branchensoftware?

- Ist eine Software-kompatible Systemfamilie vorhanden, um möglichst

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*Horst-Peter Lüllau ist kein gelernter EDVler. Er stammt aus der Flachglasbranche, für die Albat & Wirsam hauptsächlich Standardprogramme erstellt (Albat & Wirsam, Breiter Weg 114, 6301 Linden-Leihgestern, Telefon 0 64 03/65 74).

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viele Branchenmitglieder in allen Größenordnungen zu erfassen?

- Ist dieser Hardware-Hersteller überall mit Service und Fibu/Lohnprogrammen präsent?

- Beinhaltet das Leistungsverzeichnis wirklich alle Belange dieser Branche oder umfaßt die Aufgabe nur eine Untermenge aus der allgemeinen Problemstellung?

- Welche Abteilungen mit welchen Aufgabenstellungen könnte also ein Musterbetrieb haben, der alle Belange abdeckt?

Wo sind also im Zentralprogramm wohldefinierte Schnittstellen vorzusehen?

- Wo gibt es prinzipielle Abweichungen im Geschäftsgebaren, wie zum Beispiel Preisberechnung, Vertreterabrechnung etc.?

Sicherlich gibt es noch mehr Punkte, die zu beachten sind; sie alle aufzuzählen, würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. Festzuhalten ist also, daß der Planung ein "Monsterkunde" zugrunde liegen muß, bei dem theoretisch alle Verfahrensweisen vorkommen können.

Unnützer Ballast

Leider gibt es in der Software-Branche immer noch Leute, für die zwei größere Programme bereits eine halbe Rente bedeuten.

Wer so programmiert und anschließend zum Anwender kommen muß, nur weil sich die Preisliste oder der Mehrwertsteuersatz geändert hat, ist nach der fünften Installation bereits so zugedeckt mit Änderungs- und Anpassungsarbeiten, daß für neue Kunden keine Zeit mehr bleibt.

Es geht aber auch besser:

Konstantendateien für Angebote, Aufträge etc. Steuer- und Vertreterprovisionssätze können parametrisiert werden. Ebenso leicht können variable Preismatrixen bereitgestellt werden, die der Anwender selbst aufstellt und beschreibt. Als besonders hilfreich hat sich ein Formulargenerator herausgestellt, mit Hilfe dessen der Anwender im Dialog seinen Formularaufbau und das Format selbst festlegt.

Prinzipielle Abweichungen, zum Beispiel in den Preisberechnungsprogrammen, müssen wohl fast immer in speziellen Programmoduln bereitgehalten werden, um die Platte nicht mit unnützem Ballast zu beschweren.

Drei Möglichkeiten

Es gibt also drei Möglichkeiten, Branchensoftware zu schreiben.

1. Man "bohrt" eine vorhandene Lösung auf und trickst sich so durch.

2. Die Pilotlösung wird anwendernah erstellt. Aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse prüft man erst anschließend die Forderungen an ein Branchenpaket und programmiert völlig neu.

3. Gleich zu Anfang werden die Erfordernisse der gesamten Branche eruiert; die Ergebnisse fließen bereits in das Struktogramm des Piloten mit ein.

Der erste Weg ist, so fürchte ich, der am häufigsten beschrittene. Der Erfolg läßt sich später am Bestand der herumstehenden - "Prozeßrechner" ablesen.

Der zweite Weg ist der zunächst billigste. Nachteilig aber besonders für den Piloten, weil dessen Lösung wahrscheinlich keine Ähnlichkeit mehr mit dem späteren Branchenprogramm hat. Ist das Branchenprogramm dann auch noch erfolgreich, muß er entweder umsteigen, oder seine Lösung wird wahrscheinlich "vergammeln".

Unser Haus ist den dritten Weg gegangen, und wir haben damit gute Erfahrungen gemacht. Bei unserer Lösung handelt es sich um ein Programmpaket für Flachglashändler/-verarbeiter, Isolierglasproduzenten gegliedert auch nach:

a) kommerzielle Software wie Auftragsbearbeitung, Statistik, Übergabe in ,,Fibu" etc.

b) technische Software wie Schnittoptimierung, Produktionssteuerung etc.

Die Programme sind 130mal im Einsatz und werden von zwei Personen gepflegt.

Wer nun aber glaubt, der Hardware-Hersteller hätte sich geradezu auf solch eine Branchenlösung gestürzt, um sie flächendeckend zu vermarkten, der irrt.

Jeder Vertriebsmann, der nach wie vor dem Unsinn des Vertriebs von allem an alle nachgehen muß, ist hoffnungslos überfordert, soll er sich neben dem allgemeinen Vertrieb noch in mehr als drei Branchenlösungen einarbeiten.

Finger verbrannt

Also muß das Software-Haus selbst ran.

Hier bieten sich mehrere Möglichkeiten an:

1. Akquisition im zuständigen Verband. Im günstigsten Fall kommt dabei eine zu nichts verpflichtete Empfehlung heraus, die in beschränkterem Ausmaß Kontakte schafft.

Meisten geschieht nichts, weil der Verband sich in der Vergangenheit schon mal an einer früheren "sogenannten Branchenlösung" die Finger verbrannt hat.

2. Beschaffung von Adressenmaterial und direkten Mailings, kombiniert mit Werbung in den zuständigen Fachzeitschriften.

Sehr zu empfehlen, da erfolgversprechend.

3. Präsenz auf den zuständigen Fachmessen. _

Unbedingt notwendig.

Zwei Wege gleichzeitig

Das Software-Haus, das nicht erst wartet, bis das Telefon klingelt sondern mit den gleichen professionellen Mitteln wie der Hardware-Anbieter den Markt angeht, ist auch erfolgreich.

Je mehr Installationen entstehen desto größer ist die Gefahr, daß auch bei sorgfältigster Planung die Kundenwünsche im Laufe der Zeit auseinanderdriften, es entstehen Insellösungen.

Um diese Erscheinung weitgehend zu vermeiden, beschreiten wir ständig zwei Wege:

1. Durch ständigen Kontakt mit der Branche kann frühzeitig neu entstehender Bedarf aufgespürt werden. (technisch neue Betriebsabläufe, generell sich ändernde Preisberechnungsprinzipien, etc.).

Die hierzu rechtzeitig angebotene Standardlösung hilft, die generelle Ausrichtung des Installationsbestandes konstant zu halten.

2. Unterstellt man, daß die Programme "laufen" und wir es mit einem zufriedenen Kunden zu tun haben, ist die Veranstaltung von Anwenderseminaren ein hervorragend geeignetes Mittel, neue Forderungen an die Standard-Lösung zum denkbar kleinsten gemeinsamen Nenner zu realisieren.

Branchenlösungen sind durchaus möglich und vor allen Dingen nötig.