Der Gorbatschow-Impuls - Perestroika für DV-Anwender

28.10.1988

Günter Darazs, Vertriebsdirektor, Mannesmann-Kienzle, Villingen

Man kann sich des Eindrucks kaum erwehren, daß die Daten- und Informationsverarbeitung dabei ist eine erschreckende Dominanz über das gesamte Betriebsgeschehen zu gewinnen. Skeptiker ziehen oft den folgenden Vergleich: Früher habe die gewaltige Verbreitung von Kraftfahrzeugen dazu geführt, daß man die Städte autogerecht verändern mußte. Heute drohe die Gefahr, daß der massenhafte Einzug der Rechner in die Wirtschaft das computergerechte Unternehmen erzwinge. Die Anfänge seien schon überall zu orten - man möge nur daran denken, wie oft zum Beispiel die Fachabteilungen ihre Organisation an Softwarelösungen anpassen müßten.

Folgt man dieser Argumentation, so zeigt sich: Hier beginnt sich möglicherweise der Zweck am Mittel auszurichten. Diese Umkehrung würde letztlich aber bedeuten, daß wir den Erfolgsfaktor Information nur noch optimal nutzen können, wenn wir uns den von ihm geschaffenen Sachzwängen unterwerfen. Eine solch unerquickliche, ja groteske Situation mögen vielleicht eingefleischte Techno-Fetischisten für akzeptabel halten - für verantwortungsbewußte Zeitgenossen jedoch muß eine derartige Aussicht zum Alptraum werden.

Es gilt also, einer gefährlichen Fehlentwicklung massiv und rechtzeitig entgegezutreten. Aufgerufen sind dazu in erster Linie die Entscheidungsträger in den Unternehmen. So stehen - je länger desto unabweisbarer - vor der epochalen Aufgabe, jene grundlegenden Voraussetzungen herzustellen, unter denen die Daten- und Informationsverarbeitung ihren Wildwuchs-Charakter verliert und zu einem organisch integrierten, ziel- und damit erfolgsgerecht funktionierenden Instrumentarium werden kann.

Man kann davon ausgehen, daß die Erneuerung erstarrter Systeme - ob im Großen oder im Kleinen - grundsätzlich nach bestimmten Prinzipien erfolgen muß, wenn sie erfolgreich sein soll. Wenn es derzeit einen Profi gibt, der weiß, wie man zementierte Strukturen aufweicht und erneuert, so ist das der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow.

Wie immer seine Perestroika enden mag - soviel steht wohl fest: Die grundsätzliche Vorgehensweise, die Gorbatschow verfolgt, ist zumindest von der Logik her plausibel, überzeugend, in sich geschlossen und kann daher generell als richtungsweisend eingestuft werden. Dieser Ansatz erscheint besonders unter dem Aspekt interessant, daß viele Unternehmen hierzulande ähnliche systemimmanente Anachronismen aufweisen wie die sowjetische Wirtschaft im Ganzen. So wäre - keineswegs perfide - zu hinterfragen, ob nicht so manche Firma in der Marktwirtschaft ebenso eine "Revolution von oben" benötigt, wie sie der mutige Sowjet-Mensch auf staatlicher Ebene eingeleitet hat.

Sofern man gewillt ist, Gorbatschows Perestroika als wertvollen Impuls aufzunehmen, wird deutlich: Vieles, was er seinen Genossen in den Verwaltungen, den Fabriken und Kolchosen vorwirft, läßt sich unmittelbar auf rückständig geführte Unternehmen bei uns übertragen. Zum Beispiel:

- demotivierte Mitarbeiter,

- fehlende Kooperationsbereitschaft.

- keine offene Diskussion.

- ignorantes Verhalten der Führungskräfte,

- sinnlose Vergeudung von Ressourcen,

- gelähmter Innovationswillen,

- antiquierte Hierarchien,

- kein ganzheitliches, sondern insulares Denken,

- Fixierung auf Schablonen.

An zahlreichen Stellen seines Buches über die Perestroika hat Gorbatschow wichtige Leitlinien dargelegt, die er bei seinem Systemumbau verfolgt. Deren Interpretation im Sinne der infrastrukturellen Erneuerung in unseren Unternehmen kann durchaus gewagt werden - auch wenn sie so manchem sauer aufstoßen dürfte.

Beispiel 1: "Der Faktor Mensch ist im weitesten Sinne unsere wichtigste Reserve."

Der bestmögliche Einsatz der Informationstechnologie und eine deutlich gesteigerte Ertrags- und Wettbewerbskraft sind künftig nur erreichbar, wenn die Arbeitsplatz-Organisationen in qualitativer, räumlicher und zeitlicher Hinsicht den Bedürfnissen der Mitarbeiter uneingeschränkt entsprechen. Zweifellos ist die funktionale und ökonomische Betrachtung des betrieblichen Leistungsprozesses die entscheidende Grundlage jeglichen Erfolgs. Doch sie muß nunmehr stärker als je zuvor mit der Aufgabenstellung gekoppelt werden, den Menschen in den Mittelpunkt aller konzeptionellen, innovativen und operationalen Überlegungen zu stellen. Die Mitarbeiter verlangen zunehmend anspruchsvollere Wege der Selbstverwirklichung - schließlich bietet der Einsatz der Informationstechnologie ja auch großzügige und verheißungsvolle Gestaltungs- und Freiräume. Die organisatorische Folgerung daraus kann nur lauten, daß Entscheidungen und Handlungsabläufe - wo immer möglich - dezentralisiert werden. Die Führungskräfte kommen nicht umhin zu erkennen, daß Automatisierung eine kompromißlose Humanisierung der Arbeit voraussetzt - eine andersartige Umgestaltung ist nicht mehr durchsetzbar.

Beispiel 2: "Wir müssen die Menschen dazu ermutigen, uns ihre Vorstellungen mitzuteilen, Anregungen zu geben, Vorschläge zu machen - und zwar auch im direkten Gespräch mit ihnen."

Keine Frage: Der unmittelbare Dialog - zum Beispiel zwischen DV- und Fachabteilung - geht im Streß des Alltags oftmals unter. Doch die lockere Zuruf-Kommunikation führt zu keinen Problemlösungen und schon gar nicht zur Akzeptanz tiefgreifender Innovationen. Wo die Nutzer informationstechnologischer Systeme über die zu erwartenden Änderungen indes vorbehaltlos unterrichtet werden und wo ihr kritischer Rat eingeholt wird, ist man auf dem richtigen Kurs. Das Management muß sich künftig weit mehr als bisher bemühen, Ursachen und Anlässe für bestehende oder sich anbahnende Widerstände gegen Neuerungen und Umstrukturierungen bei den Mitarbeitern zu ergründen.

Parallel dazu sollten Eigenverantwortung und -kontrolle sowie Mitgestaltung und -bestimmung nachhaltig erhöht werden. Denn: Im Wettbewerb um die fähigsten Mitarbeiter kann nur Erfolg haben, wer die befriedigendsten Tätigkeiten offeriert.

Beispiel 3: "Das verbreitete Denken in Schablonen kann nicht mit einem Schlag beseitigt werden."

Wer geronnene Strukturen aufbrechen und revolutionieren will, sollte berücksichtigen, daß Gewaltakte heute keine Chance mehr haben. Der Mensch ließ sich noch nie wie ein Computer umprogrammieren - in unserer Zeit vielfältiger Emanzipation schon gar nicht. Außerdem: Geduld ist eine Wunderwaffe, wenn es darum geht, menschliches Verhalten zu wandeln. Während der klassische Manager über strikte Direktiven, quantitative Vorgaben und zeitlichen Druck lenkte, praktiziert die moderne Führungskraft die partnerschaftliche Auseinandersetzung, die Delegation von Verantwortung und die Festlegung qualitativer Ziele. Die Informationstechnologie bietet geradezu ideale Voraussetzungen dafür, unternehmensorientiertes Denken und integratives Handeln zu fördern. Sie ermöglicht es, im offenen Meinungsaustausch zu erhöhter Identifikation mit dem Ganzen zu finden und abgenutzte Schablonen aufzugeben, um neue Chancen wahrnehmen zu können.

Perestroika in der deutschen Wirtschaft - in DV-Anwenderfirmen? Nicht ideologisch - aber methodisch! Freilich: Nicht jedes Unternehmen hat seinen Gorbatschow, aber es soll noch aufgeschlossene Manager geben. Zwar kann der sowjetische Generalsekretär auf eine weltweit wachsende Gemeinde von Bewunderern seiner Erneuerungspolitik schauen. Es könnte jedoch nicht schaden, wenn er zudem auch Nachahmer seiner bestechenden Strategie fände, die dann mit erweitertem "Bewußtsein das Sein" in ihren Unternehmen via Informationstechnologie zukunftskompatibel machen.