Intranet-Zwischenbilanz/Ohne Stau auf der Datenautobahn durch die multimediale Stadt

Der einstige Kohlenpott probt den Auftritt als Infocity NRW

04.07.1997

Das Projekt Infocity NRW soll zeigen, was eine "echte" Datenautobahn sein kann: Nutzer und Inhalteanbieter (Content-Provider) haben Anschluß an ein 2,5-Gbit-Glasfasernetz, das Metropolitan Area Networks (MAN), die digitale Hochleistungsnetze in einigen Städten des Rhein-Ruhr-Gebiets, miteinander verbindet.

Infocity NRW ist eins der wenigen Breitband-Multimedia-Pilotprojekte in Europa, das unter kommerziellen Gesichtspunkten entsteht. Es bietet MultimediaDienste mit Echtzeit-Audio- und Video-Applikationen im gesamten Rhein-Ruhr-Raum, für Unternehmen, Forschungseinrichtungen, Kliniken, Hochschulen, Städte und private Haushalte an.

Infocity hat seit Ende 1995 eine Ausnahmegenehmigung des Bundesministeriums für Post und Telekommunikation für die multimediale Versorgung von bis zu 10000 Privathaushalten auf eigener Infrastruktur. Es versteht sich als einer der entscheidenden Meilensteine zur Realisierung der auf EU-Ebene angestrebten europäischen Infobahn. Nach Wegfall des Telekom-Monopols wird es seine Dienste auch bundesweit anbieten können.

Otelo, mit 1,6 Millionen versorgten Kabelhaushalten der zweitgrößte Anbieter von Kabel-TV-Diensten, stellt den Backbone und baut das Glasfasernetz aus. Die Technologiepartner der Vebacom-RWE-Telliance-Tochter sind unter anderem Cubiscom, Ericsson, Nortel Dasa und Sybase. Zu den über 60 Content-Providern der derzeitigen Projektphase gehören die Unternehmen Otto-Versand, Gerling Konzern, Ra- vensburger, sowie aus der Medienbranche Axel Springer Verlag, Rheinische Post, Burda, Heinrich Bauer Verlag, CLT/RTL, Vox, WDR, ZDF und andere.

Zielgruppen sind einerseits professionelle Nutzer von komplexen multimedialen Hochgeschwindigkeits-VPNs ("Virtual Private Networks") und andererseits private Endkunden, die mehrwertige Multimedia-Dienste kommerzieller und nichtkommerzieller Anbieter in Anspruch nehmen möchten. Allen Nutzern steht ein schneller Gateway zum Internet zur Verfügung.

"Wir haben die technologischen Voraussetzungen dafür geschaffen, zwei Massenmärkte miteinander zu verknüpfen", erläutert Ekkehart Gerlach, der Leiter des Multimedia Competence Centers bei Otelo und Geschäftsführer der Infocity GmbH, "und zwar PC-Online-Dienste, wie sie nur annäherungsweise vom Internet bekannt sind, und verbraucherorientierte interaktive Fernsehdienste über das heimische TV-Gerät."

Die Kunden können die Dienste in bisher nicht für den Massenmarkt verfügbaren Geschwindigkeiten also entweder über ein Kabelmodem am PC oder über eine neu entwickelte Set-top-Box am Fernseher nutzen. Genau dies ist auch einer der interessantesten Aspekt für die Inhalteanbieter. Gerlach: "Es ist schon ein Unterschied, ob ein Teleshopping-Kunde Minuten wartet, bis die Abbildung eines T-Shirts auf dem Bildschirm aufgebaut ist, oder ob Produktangebote mit unterhaltenderen Bewegtbildern in Echtzeit verbunden sind."

Ein weiterer Pluspunkt aus Sicht der Inhalteanbieter ist der bequeme Migrationspfad von den bereits gewohnten Internet-orientierten Angeboten zur multimedialen und interaktiven Kommunikation mit dem Kunden. Mit Koax-Kabeln zur Versorgung privater Haushalte mit Kabelfernsehen lassen sich Mulitmedia-Dienste mit relativ geringem technischem Aufrüstungsaufwand einem breiten Publikum zugänglich machen. Die Ziele auf einem kostengünstigen Weg zu erreichen sei allerdings nicht gerade einfach gewesen, merkt Ekkehart Gerlach an, denn die Initiatoren wollten "aus Prinzip keine proprietären Systeme entwickeln, sondern ausschließlich mit Standards arbeiten. Man bedenke etwa, daß wir Datenströme aus unterschiedlichen Standards zusammenführen müssen, um auf Standard-TV-Geräten individuell zugeschnittene, interaktive Dienste über Broadcasting-Medien nutzen zu können."

Weitere Stolpersteine auf dem Weg in die multimediale Zukunft waren das Abrechnungswesen ("Billing und Accounting") sowie die Sicherheit. Peter Trinkl, der Leiter Dienste-Management bei Infocity NRW, schildert die Herausforderung: "Die Schwierigkeit bestand darin, in einer verteilten, nicht homogenen Umgebung sowohl die unterschiedlich definierbaren Zugriffsberechtigungen einzuhalten, als auch die Abrechenbarkeit der einzelnen Leistungen zu garantieren. Dabei muß die Verknüpfung zwischen den sogenannten User-Events, den Produkten und ihren Preisen nachvollziehbar bleiben."

Im Detail kann das so aussehen, daß sich ein Privatkunde an seinem PC über einen Browser mit seinem Paßwort anmeldet. Diese Information wird zum Infocity-Net- scape-Enterprise-Server geschickt und von dort an ein Firewall-System weitergeleitet. Eine Prüfung in der Kundendatenbank ergibt, ob der Betreffende zugreifen darf. Wenn ja, erhält er die Verbindung.

Der Nutzer kann nun verschiedene Dienste anwählen, für die er einen Vertrag abgeschlossen hat. Greift er auf eine Seite zu, protokollieren spezielle Zusatzprogramme (Daemons) des Billing- und Accounting-Systems diese Information in der Event-Datenbank. Die benötigten Daten holen sich die Daemons vom Enterprise-Server ab. Danach kann das Abrechnungssystem des Content-Providers oder das von Infocity beispielsweise nach aufgerufenen HTML-Seiten, übertragener Datenmenge, aufgerufenen Dateien etc. eine exakte Rechnung aufstellen.

Die Anforderungen an die DV-Systeme waren dementsprechend hoch - sei es zur effizienten Verwaltung der immensen Billing- und Accounting-Daten (in Sybase SQL Server 11) oder zur zügigen Entwicklung der Anwendungen mit 4GL-RAD-Systemen und Design-Tools (Powerbuilder und Powerdesigner). Eine besondere Herausforderung ist das stete Wachstum sowohl durch neue Benutzer als auch die eventuelle geografische Ausweitung auf andere Bundesländer nach 1998.

Die Vielfalt der Infocity-Dienste für private und kommerzielle Nutzer reicht jetzt bereits von Teleshopping über Telelearning, Information on demand, touristische Inhalte und Spiele bis hin zu digitalem und interaktivem Fernsehen.

Infocity NRW demonstriert, wie sich Internet-Technik heute als Grundlage für Intranet-typische Anwendungen nutzen und erweitern läßt. Die beteiligten Rundfunkanstalten etwa können ganze Spielfilme innerhalb von Sekunden aus dem Archiv in eine Redaktion übertragen. Ob Mediendienste, Teleworking oder Telelearning, immer sind Dinge einer spezifisch definierbaren Nutzergruppe zugänglich gemacht. Zugleich sind damit die Voraussetzungen für die kommerzielle Nutzung eines "extended Intranet" oder "Extranet" entstanden. Bei Infocity werden solche "Dienste im Dienst" mit eigenem Paßwort und eigener Abrechnung als "Gruppendienste" angeboten.

Die potentiellen Anwender reichen von Automobilzulieferern, die ein "virtuelles privates Netz" für den Austausch von CAD-Dateien einrichten, bis zu Anbietern von Produkten, die erst das neue Medium multimediale Breitbandkommunikation möglich macht. Ein Beispiel im Bereich der Telemedizin sind Kliniken, Radiologen, Kardiologen und niedergelassene Ärzte, die Unmengen digitalisierter Daten nicht nur erzeugen, sondern auch archivieren müssen. Es geht hier bundesweit um eine Datenmenge, die allein im letzten Jahr 3000 TB betrug.

Dank der hohen Übertragungsgeschwindigkeiten lassen sich diese Daten in externen, gemeinsam genutzten Telearchivzentren speichern und online verfügbar halten. Kliniken und Ärzte müssen nicht mehr in eine ausufernde Datenhaltung investieren und können Auswertungskapazitäten gemeinsam nutzen. Dabei bleibt stets der in diesem Bereich besonders sensible Datenschutz gewährleistet.

Die Möglichkeiten des Pilotprojekts Infocity weisen allerdings auch über die kommerzielle Dimension hinaus. So können etwa an der Fernuniversität Hagen die Bürger der Infocity bereits ein Studium absolvieren, bei dem sie interaktive Tutorials mit zunehmenden Bildanteilen wahrnehmen und direkt mit den Lehrenden kommunizieren. Was bisher wenigen Nutzern firmeneigener Hochgeschwindigkeitsnetze vorbehalten war, wird für jedermann zugänglich.

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Während Helmut Kohl inzwischen gelernt haben dürfte, daß der von vielen beklagte Stau auf den Datenautobahnen nichts mit vielen stehenden Rädern und kochenden Kühlern pro Kilometer zu tun hat, ist man im Bundesland Nordrhein-Westfalen mit der Realisierung eines schnellen Datennetzes sehr weit. In der Infocity NRW bilden Diensteanbieter und 10000 Privatkunden zahlreiche Intranets. Inzwischen ist das einstige Modellprojekt auf dem Sprung zu Extranets und einer bundesweiten Ausdehnung.

*Rolf Bastian leitet eine Presseagentur in Mainz.