Das "virtuelle Dokument" gewinnt an Bedeutung

10.06.1994

Dokumente seien die eigentliche Waehrung des Geschaeftslebens, brachte es einmal Mike Anderson von der Gartner Group auf den Punkt. Bedenkt man, dass ueber 90 Prozent der Informationen in einem Unternehmen in Form von Dokumenten gespeichert sind (Gartner Group), so stellt dieses "geronnene" Wissen in der Tat ein wesentliches Kapital dar.

Taeglich werden weltweit zirka 1,5 Milliarden Dokumentseiten erzeugt, mit einer Steigerungsrate von 25 Prozent im Jahr (Xerox). Allerdings scheinen sie stets in irgendwelchen dunklen Kanaelen zu verschwinden, denn lediglich zehn Prozent der papierbasierten Informationen sind nach ihrer Erstellung noch verfuegbar (Seybold), und selbst von den elektronisch gespeicherten Dokumenten muessen zwei Drittel als unwiederbringlich verloren angesehen werden (Delphi 1993). So erstaunt es auch nicht, dass Fuehrungskraefte von Unternehmen je nach Stellung zwischen 150 und 750 Stunden jaehrlich mit der Suche nach Dokumenten und damit nach offenbar schlecht verfuegbarer Information verbringen (Delphi 1993).

Es wird heute oft beklagt, dass die Bueroautomatisierung durch Einsatz elektronischer Mittel bei weitem nicht den Rationalisierungseffekt gebracht hat, wie wir ihn vom Fertigungsbereich kennen (Lean Production): Die fehlende "Verfuegbarkeit der Dokumente" scheint eine der Hauptursachen fuer das sogenannte Fat Office zu sein.

Dokumente sind im Buero und das heisst im Geschaeftsleben zugleich das wesentliche Produkt und ein bevorzugtes Medium: Ideen und Informationen werden in Form von Dokumenten generiert und verbreitet. Dokumente werden so zum dauerhaften Traeger des "Corporate Knowledge", unabhaengig vom Wechsel der Mitarbeiter und der Unternehmensstrukturen.

In der aktuellen Diskussion um das Lean Office liegt das Hauptaugenmerk auf dem Re-Engineering der Geschaeftsstrukturen. In diesem Zusammenhang ist auch die elektronische Vorgangsbearbeitung (Workflow Management) populaer geworden.

Dokumente als Traeger des "Corporate Knowledge"

Die Unternehmen werden sich daneben aber auch damit beschaeftigen muessen, wie sie die Inhalte, das heisst die Informationen in den Griff bekommen. Das "Document-centric Business" erkennt die Bedeutung dieses Informationstraegers und nimmt das Management der Dokumente als kritischen Faktor des Geschaeftserfolgs ernst.

Das Produkt und Medium Dokument zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Bandbreite kommerzieller Anwendungen: von den allgemeinen Buero- und Verwaltungstaetigkeiten ueber die ueblichen betriebswirtschaftlichen und branchenspezifischen Applikationen bis hin zur datenorientierten OLTP-Welt. Ueberall spielen Dokumente in Form von Briefen, Berichten oder Formularen eine zentrale Rolle.

In den meisten Unternehmen sind heute zwar erst 25 bis 50 Prozent aller Dokumente elektronisch verfuegbar, doch wird sich dies, so die Gartner Group, deutlich aendern: In den kommenden Jahren werden es schon zwischen 50 und mehr als 70 Prozent sein. Insofern sehen sich die Firmen wenigstens mittelfristig mit der Aufgabe konfrontiert, eine unternehmensuebergreifende Umgebung zu schaffen, in der die Informationen fuer alle Mitarbeiter in sinnvoller und effizienter Weise verfuegbar sind.

Dabei spielt es nur eine untergeordnete Rolle, wie und in welcher Form die Dokumente erzeugt wurden, wie und wo man sie speichert. Bedingung ist allerdings, dass sich die Benutzer nicht mit der eingesetzten Technik befassen muessen (vgl. Abbildung unten).

Diese Zieldefinition laesst erahnen, dass der Informationstraeger Dokument offenbar sehr unterschiedlicher Natur sein kann.

In der Buerowelt wird darunter im allgemeinen eine Art "Behaelter" verstanden, der formatierten Text, Daten in Tabellen und Grafiken enthalten kann und ueblicherweise eine Seitenstruktur aufweist. Dieses Verstaendnis wird auch bei der elektronischen Erstellung von Dokumenten abgebildet und beim ueblichen Ausdruck auf Papier erhalten. Zunehmend dient das Dokument jedoch auch als Traeger fuer Informationen wie Sprachanmerkungen und Videosequenzen.

Neue Technologien wie "Object Links" erzeugen unkonventionelle, nichtlineare Dokumentstrukturen (zum Beispiel Hypertext). Beides bewirkt, dass sich die Dokumente teilweise dem Papierausdruck entziehen und nur noch elektronisch darstellbar sind. Ein modernes "Document Management" (DM) muss demnach konzeptionell alle Doku- mentarten vom einfachen Memo bis zur "Verbundform" (Compound Document) ueber ihren gesamten Lebenszyklus beruecksichtigen und unterstuetzen. Ein solches ganzheitlich orientiertes DM umfasst daher prinzipiell folgende Aspekte:

- "Document Manufacturing" bezeichnet den Produktionsprozess von Dokumenten mit allen dazugehoerigen Werkzeugen zur Edition der verschiedenen Informationsarten oder zur digitalen Aufbereitung vorhandener Informationen (zum Beispiel als Image).

- "Document Interchange" meint die Distribution der Dokumente im Unternehmen: Techniken zur Ausgabe auf Papier und auf elektronischen Medien; weiterhin Mittel zur Ermoeglichung des interpersonellen Austausch von Dokumenten unterschiedlicher Formate;

- schliesslich Mechanismen fuer den gemeinsamen Zugriff und die Bearbeitung im Team, zur Weiterleitung von Dokumenten und die Verfolgung des Dokumentenflusses bis hin zur Automatisierung der immer dokumentenbasierten Vorgaenge.

In dem Masse, wie Dokumenten-Management ueber den persoenlichen Arbeitsplatz hinaus auf die Workgroup oder gar unternehmensweit ausgedehnt wird, gewinnt die Idee eines "virtuellen Dokuments" an Bedeutung: Derzeit ist nicht absehbar, dass sich ein einziges Format allgemein durchsetzen wird. Daher muss unternehmensweites DM wenigstens einen Read-only-Zugriff fuer die Arbeitsplaetze mit ihren unterschiedlichen Software-Ausstattungen ermoeglichen.

- "Library Services" ermoeglichen wie eine Bibliothek schliesslich die Ablage und das Wiederfinden der Dokumente. Hierzu gehoeren zum einen Werkzeuge und Dienste fuer die Speicherung und Verwaltung. Das Archivieren auf optischen Medien stellt dabei generell kein eigenes Anwendungsfeld dar, sondern ist integraler Bestandteil des Systems. Diese Dienste bieten heute Merkmale, die - derzeit - noch nicht von Leistungen des verwendeten Dateisystems abgedeckt werden, naemlich Hilfsmittel fuer die Konsistenzerhaltung beim gleichzeitigen Zugriff und das Versions- und Konfigurations- Management der Dokumentbestaende. Darueber hinaus ist hier der eigentliche Informationszugriff zu nennen: zum Teil hochentwickelte Mechanismen zum Navigieren in der Dokumentenbibliothek oder fuer die Recherche nach bestimmten Dokumenten ueber ein Set von Attributen und das Volltext-Retrieval.

Enterprise Library Services (ELS) stellen so den eigentlichen Kern eines DM-Systems dar, der allerdings eine gute Integrationsfaehigkeit fuer die Werkzeuge und Dienste zur Produktion und Distribution der Dokumente aufweisen muss. Dabei geht der Trend weg vom kompletten, geschlossenen DM-Produkt, das auch eigene Mailing- oder Workflow-Komponenten mitbringt: ELS werden zur "Middleware", die anderen Bueroanwendungen von der Standardtextverarbeitung bis zum Workflow Management ihre DM- Dienste verfuegbar macht ("DM-Enabling"), wobei der Benutzer idealerweise gar nicht merkt, dass er gerade mit dem ELS arbeitet.

Der Markt fuer solche Umgebungen zum Dokumenten-Management entwickelt sich gerade erst, ein klarer Gewinner steht noch nicht fest. Das gilt auch fuer die Standardisierungsbemuehungen fuer Dienste und Schnittstellen.

Erwaehnenswert sind besonders der ISO-Standard "Document Filing and Retrieval" (DFR) und die Herstellerinitiative "Shamrock". Die Marktforscher der Gartner Group gehen jedoch davon aus, dass sich ELS in den kommenden Jahren zu den wichtigsten Unternehmensservices nach den Kommunikationsdiensten entwickeln werden. Daher werden fuer DM ueberdurchschnittliche Zuwachsraten prognostiziert. Insofern besteht heute Handlungsbedarf, sich im Rahmen der Lean-Office-Bestrebungen mit diesem Thema zu beschaeftigen und erste Weichenstellungen im Unternehmen vorzunehmen. Hierzu gehoeren unter anderem auch so scheinbar banale Dinge wie die Ueberpruefung der Arbeitsplatzausstattung fuer ein solches Client-Server-orientiertes DM: Wie alle neuen Windows- Applikationen benoetigen auch die ELS-Clients fuer ihre visuell anspruchsvolle Navigation und Anzeige von Compound Documents - einschliesslich Multimedia - eine gut ausgeruestete PC-Hardware (Minimum: 386/40 MHz, 8 MByte RAM, Super-VGA, 300 MByte) - wenigstens dort, wo Dokumenten-Management intensiv genutzt wird. Aber wo ist das im Buero nicht der Fall?

Gebaendigte Information

Eine zentrale Funktion wird Dokumenten-Management in allen Arten der Informationsverarbeitung haben. Die bunte Vielfalt von Formaten, Informationsarten und -prozessen sowie -funktionen gilt es elektronisch zu baendigen.