Jahresrückblick/"Internet" war das Wort der IT-Community

Das Netz der Netze stand im virtuellen Mittelpunkt

20.12.1996

Unmut über schlaffe Wachstumszahlen, schlechtes Investitionsklima und überbordende Reglementierungen der Wirtschaft in deutschen Landen macht sich auf neue Weise Luft: Mit kurzem http://www.xyz.de oder xy.com zeigten Unternehmen ihren Lebenswillen und "outeten" sich 1996 mit Stolz als "new members" im globalen Dorf. Frei von gesetzlichen Vorschriften und Ladenschlußzeiten boomt das Web und bescherte zumindest schon mal einschlägigen Ausrüstern sowie Service-Providern guten Umsatz - und trotz aller Unkenrufe ist das Netz noch nicht gesperrt, zensiert oder zusammengebrochen.

Den gläsernen Kunden im Netz einkreisen

Echte Millionen ließen sich im globalen Dorf im Normalfall im Netz auch 1996 noch nicht verdienen, aber schon die statistischen Zahlen, die dem Netz zugeordnet werden, gehen leicht in diese Bereiche. Das Web verweigert sich geschickt durch seinen Aufbau als freies Trägermedium den so beliebten Analysen, und so seien hier nur zwei Richtwerte genannt, die einigermaßen stimmig sind. Die Zahl der Anwender, die weltweit Zugriff haben, soll sich im Laufe des Jahres von 30 bis 40 Millionen auf rund 70 Millionen verdoppelt haben. Eine grobe Schätzung der Netzadressen (URLs: Uniform Resource Locations), nicht der Server, spricht weltweit von rund 100 Millionen.

Geld und Spaß bestimmen immer noch die Welt des Internet, geeint über die Faszination, in New York mal kurz ein Buch zu kaufen, in Tokio Börsenkurse abzurufen und daheim am eigenen Herd ins Pantoffelkino durchzustarten. Während im Jahr 1995 nur rund 20 Millionen Werbedollars im Internet umgesetzt wurden, ist dieses Jahr mit großer Wahrscheinlichkeit die Eine-Milliarde-Dollar-Grenze erreicht. Und die Strategen werden nicht müde, den gläsernen Kunden über das Netz einzukreisen.

Einige Begriffe, die im Laufe des Jahres aus der Taufe gehoben wurden oder neue Bedeutung gewonnen haben, sind "intelligente Web-Anwendungen", "offene Plattformen", "interaktive Seiten", "Java", "Data Blades" und "Net Computer". Dazu gesellten sich dann noch so kleine Goodies wie das Telefonieren per Internet, TV per Netz oder Teleworking. Und gäbe es ein "Wort des Jahres" im professionellen DV-Bereich, so dürfte es wohl Intranet heißen.

Auf der Basis des Internet-Protokolls und der WWW-Sprache HTML, versehen mit einem Browser, entwickelte sich schon zu Jahresbeginn in vielen Unternehmen vor allem auch jenseits des großen Teichs der Gedanke, über diese Komponenten eine kostengünstige Plattform für die unternehmenseigene Kommunikation aufzubauen. Intranets, so hieß es dann in einer Untersuchung der COMPUTERWOCHE zum Oktober, seien bei 70 Prozent der berücksichtigten 445 Unternehmen einer CW-Analyse bereits mit einem Intranet aktiv, befänden sich in der Einführungsphase oder hegten zumindest Pläne für die nahe Zukunft.

Intranet-Umsatzprognosen verheißen gute Geschäfte. Der Markt, der sich im Laufe dieses Jahres auch von der Akzeptanz her deutlich herauskristallisiert, verspricht bis 1999 ein Wachstum auf insgesamt 28 Milliarden Dollar.

Einem Bericht des "Wall Street Journal" vom September ist zu entnehmen, daß nun bereits Browser von Accent und Alix aus Kanada auf Unicode arbeiten - mit immerhin 65000 Zeichen, die verarbeitet werden können. Hiermit tragen die Unternehmen auch Studien Rechnung, die das größte Wachstum von Internet-Anwendungen im asiatischen, europäischen und pazifischen Raum ausmachen. Der große Kampf um den Markt allerdings findet nach wie vor zwischen Netscape mit seinem Navigator und Microsoft mit seinem Internet Explorer statt.

Von Internet-Euphorie war Anfang 1996 nur ein zarter Hauch zu spüren. Es galt damals, die Endgeräte billiger zu machen, denn die große Anwendergruppe für das Internet sei, so hieß es, im privaten Consumer-Markt angesiedelt. Ein Internet-fähiges Gerät unter 500 Dollar geistert folglich seit Jahresbeginn durch die Köpfe der Entwickler. Allerdings, so war von der Herbst-Comdex zu hören, machen die vorgestellten Netzwerkcomputer nicht den Eindruck von PC-Killern.

Im Netz erlebt das Radio eine echte Renaissance. Über 85 Stationen wurden von der "New York Times" im September allein im texanischen Audionet gezählt. Hier sind weitere Fortschritte zu erwarten, da auch die technische Qualität weiter verbessert wird. So präsentierte Progressive Networks laut "Web Week" die neue Version Real Audio 3.0, die auch eine lizenzierte Dolby-Stereo-Technologie beinhaltet und mit einem neuen Protokoll namens Robust UDP für bessere Klangqualität bei niedrigen Bit-Raten ausgestattet ist.

Gerät das Netz der Netze zum Mittelpunkt der Kommunikation, darf auch die Telefonie nicht fehlen. Die notwendige Software ist schon länger auf dem Markt, aber 1996 überraschten auch die Netzbetreiber mit einer Flucht nach vorn. Im August kündigte AT&T eine neue Technologie mit der Bezeichnung "Instant Answers" an, die Web-Usern einen Call-Button offeriert. Auf der Web-Page installiert, schafft er direkten Telefonkontakt zum Seiteninhaber - für Teilnehmer des AT&T Internet Access Service gibt es sogar Sonderkonditionen.

Die Anwendungen und Angebote aber wollen bezahlt werden - und hier liegt noch eine Crux, an der mit Hochdruck allerorts gewerkelt wird: die Sicherheit im Netz. Zwar einigten sich Mastercard und Visa Anfang des Jahres auf die Erarbeitung eines gemeinsamen Standards - dem Secure Electronics Transactions (SET) -, aber vielen Anwendern ist es trotzdem zu unsicher, ihre Kartennummer über das Web zu schicken.

Die Sicherheit ist auch eines der Hindernisse für extensive Bankenanwendungen. Zwar sind rund 400 Banken aus den USA mit Web-Pages präsent - und auch aus Deutschland werden zweistellige Zahlen gemeldet. Dennoch ist echtes Online-Banking rar und in der Bundesrepublik immer noch Domäne der geschlossenen Nutzergruppe über das alte Btx, das in T-Online aufgegangen ist.

Die Deutsche Bank kam zur Jahresmitte mit einem neuen Verfahren auf den Markt (siehe Seite 46), das gemeinsam mit Digi Cash aus Amsterdam entwickelt wurde: E-Cash. Echtes Geld wird vom Kunden auf ein Internet-Bankkonto eingezahlt. Über diesen dann digitalisierten Betrag verfügt der Kunde wie über Bargeld. Er hebt es ab, speichert es digital auf seiner Festplatte und kann damit auch Pfennigbeträge direkt an den Empfänger leiten. Abgebucht wird auf seiner Festplatte. Ist Ebbe in der Kasse, wird vom Internet Account per Mausklick aufgefüllt, sofern noch "Geld" vorhanden ist.

Als wohl erste Bank in Deutschland bot die Sparda-Bank in Hamburg für alte und neue Konteninhaber Home-Banking per Internet an, und zwar mit den banktechnischen Grundkomponenten Kontoauskunft, Überweisungen, Daueraufträge, Scheckbestellungen, Nachrichten und Gesamtobligo.

Das kostenlose Net-Banking-Paket enthält neben der CD mit Home-Banking-Software eine Besonderheit - den Me-Chip von der ESD GmbH als Parallelportadapter und ein Tastaturadapterkabel sowie ein separat zugesandtes Startpaßwort.

Der Me-Chip umgeht Gefahren durch einen patentierten direkten Anschluß an die PC-Tastatur. Am PC-Prozessor vorbei werden die Daten direkt in den Me-Chip geschickt, signiert und dann erst übertragen. Jeder Chip ist laut Beschreibung der ESD ein Unikat mit jeweils individuellem Schaltkreis. Dem Benutzer wird über diese Eigenart und die dazugehörige PIN quasi eine "digitale DNS" zugeordnet, die seinen Datenübertragungsverkehr sichert.

Internet-Banking:Durchbruch in 1997

Insgesamt erwarten Fachleute im Home-Banking-Bereich und in der Sicherheit der Netzübertragungen den großen Durchbruch im kommenden Jahr.

Zwei Ereignisse gilt es noch zu erwähnen, wenn man das Internet-Jahr im Rückblick sieht: die Kompression der Daten und ihre Haltung in der Datenbank. Neue Verfahren wie die fraktale Komprimierung durch iterative Systeme oder die Wavelets erreichen Komprimierungsfaktoren bis 100 zu 1. Mit diesen Verfahren soll der allgemeinen Überlastung des Internet ein gewisser Riegel vorgeschoben und gleichzeitig der Weg für neue dreidimensionale Anwendungen geebnet werden. Die ersten 3D-Browser kamen 1996 auf den Markt.

Neue Anwendungen verspricht auch eine Fusion, die zu Beginn des Jahres durch alle Medien ging und in seinen Konsequenzen jetzt voll zum Tragen kommt. Informix verband seine Technologie der relationalen Datenbanken mit den Entwicklungen der University of California zu einem ORDBMS (Objekt Relational Database Management System). Über Data Blades, die an den jüngst vorgestellten Universal Server von Informix als Snap-Ins angeklinkt werden können, lassen sich komplexe Daten wie Audio, Video oder Zeitreihen und räumliche Daten verarbeiten. Den intelligenten Anwendungen steht somit nichts mehr im Wege - und auch 1997 wird sich die Dynamik des Netzes durch die gesammelte Kraft der Entwickler weiter voll entfalten. Möge das Web - schlicht und ergreifend - nicht zusammenbrechen.

Internet in Zahlen

Und es gibt sie doch, die Leute, die sich die mühevolle Arbeit machen, das Internet statistisch zu durchleuchten. So startet das RIPE Network Coordination Centre jeden Monat einen "Hostcount". Danach sind unter der führenden Domain ".de" für Deutschland am 30. November 1996 exakt 688 122 Subdomains (Hosts) gezählt worden. Die Veränderung zum Vormonat (31. Oktober 1996) liegt bei plus 35 557. Insgesamt bewegt sich die Zahl bei 3 435 255 Subdomains in Europa. Bei der ersten, noch nicht sehr präzisen Zählung vom Dezember 1990 waren es 29 230 Subdomains, im November 1991 dann 129 652. Seither hat sich die Zahl jedes Jahr ungefähr verdoppelt.

Mit einer ganz anderen Zählung befassen sich die Experten der Iosys GmbH aus Essen, die mit der deutsch-sprachigen Suchmaschine "Kolibri" http://www.kolibri.de seit Jahresmitte am Netz ist und im Januar 1997 mit voller Kraft die Arbeit aufnehmen will. An normalen Werktagen ergibt sich laut Iosys eine Abfragespitze von 10 bis 12 Uhr, dann ist Mittagszeit, und um 13 Uhr geht es wieder frisch gestärkt ins Internet. Zwischen 16 und 17 Uhr fällt der Andrang dann extrem ab, zwischen 20 und 23 Uhr folgen noch einmal Spitzenwerte. Am besten läßt es sich zwischen 4 und 6 Uhr morgens surfen. Eine Auswertung der Abfragen nach Stichworten fand den Begriff "Sex" an sechster Stelle, weit nach - in dieser Reihenfolge - Computer/Software/Internet, Geografie und Reisen, allgemeine Themen, Wirtschaft/Unternehmen und Film/ TV/Radio/Hollywood.

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Million(en) ist fast immer die kleinste Zahl, wenn es um das Netz der Netze geht, seien es Teilnehmer, Marktzahlen, Endgeräte, Server oder Übertragungsraten. Doch verdienen ließen sich Millionen - nachweisbar - bisher noch nicht allzu viele per Internet. Wenn - wie beim "Wall Steet Journal" geschehen - eine Abonnentenzahl für die elektronische Version dieses Blattes auf 30000 steigt, dann sind das spektakuläre Werte, die eben endlich auch einmal einen monetären Nutzen beweisen können. Doch ist auch die Finanzwelt selbst endlich in die Gänge gekommen: Internet-Banking verspricht demnächst über aktuelle Einzelangebote hinaus einen hohen Sicherheitsstandard. Damit wäre ein gewaltiger Schritt in Richtung Massenmarkt gemacht. Nicht nur an dieser Front tobt eine spannende Schlacht der SW-Technologien. Browser-Hersteller haben zur Zeit die größe Aufmerksamkeit. Jetzt entscheiden sich künftige Marktanteile am gesamten IT-Markt.

*Horst-Joachim Hoffmann ist freier Fachjournalist in München.