". . . das gibt zur Hoffnung Anlaß, daß wir wirklich einmal ein in jeder Hinsicht offenes System bekommen"\

10.05.1985

Mit Günther Böhmer, bei der Honeywell Bull AG als Abteilungsleiter zuständig, sprach CW-Redakteurin Claudia Marwede-Dengg- Die Open-Systems-Philosophie gewinnt vor allem in Europa immer mehr Anhänger. Beispiele sind hier unter anderem die Initiative der "Standard Promotion and Application Group" wie auch die im Oktober 1984 verabschiedeten X.400-Empfehlungen des CCITT. Welche Bedeutung haben solche Schritte?

BÖHMER: Normierung, ob auf nationaler oder internationaler Ebene, wird von drei Kräften gemacht: In den entsprechenden Gremien sind Anwender vertreten, zum Teil auch Behörden und last but not least die Hersteller, und diese drei versuchen dann, zu unabhängigen Standards zu kommen. An dieser Dreiteilung kann man erkennen, daß Normierung nicht allein Sache der DV-Hersteller ist, sondern hier spielt der Anwender eine ganz entscheidende Rolle und natürlich auch, als Nutzergruppe und als Öffnungsträger im politischen Sinn, die Behörden. Offene Systeme können nur in dieser klassischen Form erzeugt werden, daß sich Leute an einen Tisch setzen und versuchen, Standards festzulegen. Man hätte sich das Leben viel leichter machen können und die vorhandenen Standards oder von mir aus auch die sogenannten Industriestandards verwenden können - wobei mir das Wort Industriestandards weh tut, weil das eine das andere eigentlich ausschließt.

Insgesamt: die Normung braucht Weile, aber durch die deutschen EHKP-Protokolle zum Beispiel ist in die ISO doch ein gewisser Druck hereingekommen und man hat sich dort beeilt, die Dinge voranzutreiben. So ist heute bis zur Ebene 5 im vielzietierten ISO-7-Schichten-Modell doch einiges spezifiziert. Was die oberen Schichten anbelangt, da gibt es ja bereits umfangreiche Arbeitspapiere. Das ist natürlich noch ein langer Prozeß, weil bei der anwendungsnahen Ebene natürlich sehr viel mehr Aspekte zu berücksichtigen sind als auf der reinen Transport- oder der Session-Ebene. Das macht wahrscheinlich die Sache schwierig, das kurzfristig zu normieren, aber ich bin da nach wie vor optimistisch.

- Die X.400-Empfehlungen des CCITT finden zunehmend Anklang bei den Herstellern und damit Eingang in Konzepte und Produkte.

BÖHMER: Das ist ganz klar der Standard und der wird auch von uns für Message-Systeme und Textverwaltungssysteme voll übernommen. An diesen Empfehlungen zeigt sich, daß hier nicht nur ISO-Protokolle Einfluß gewinnen werden: Der CCITT war schon immer klassisch auf der reinen Kommunikationsebene - siehe X.25 und ähnliches - tätig und mit X.400 steigt man nun auch in die höhere Ebene ein. Im Grunde ist es gleichgültig, von welchem Normungsbereich diese Standards kommen, wichtig ist, daß sie überhaupt kommen, und zwar in der eingangs erwähnten Unabhängigkeit.

- Bull und die anderen elf großen DV-Hersteller haben sich gegenüber der Kommission der europäischen Gemeinschaft verpflichtet, künftig beim Aufbau verteilter Systeme internationale Standards zu verwenden beziehungsweise zu implementieren. Wie sieht das konkret aus?

BÖHMER: Nun, die Implementierungen sind nicht immer ganz einfach, je nachdem, wie die jeweilige Herstellerarchitektur aussieht, muß man mehr oder weniger Entwicklungsarbeit aufwenden. Wir hatten ein bißchen Glück, weil der Entwickler unserer Netzwerkarchitektur, Charles Bachmann, bei der Erarbeitung des ISO-Modells gleichzeitig auch Chairman in dem entsprechenden ISO-Komitee war. Daher ist unsere Architektur zum ISO-Modell 1 zu 1 kompatibel.

Wir haben mittlerweile diese Protokolle bis zur Schicht 5 einschließlich entwickelt und auch eine Strategie, wie man die fehlenden Schichten zur Verfügung stellen kann: Wir machen das im Rahmen der sogenannten ISO-DSA-Spezifikationen, wobei wir einerseits beschreiben, wie die unteren fünf Schichten auszusehen haben, und zum anderen sehr genau die Implementierung der Schichten 6 und 7 in unseren DV-Systemen im Rahmen von DSA darstellen.

Die Anwender solcher Systeme haben dann die Möglichkeit, diese Implementierungsbeschreibung anderen DV-Herstellern mitzuteilen, das heißt, wir gehen davon aus, daß auch in den Fremdrechnern dieser ISO-Stecker, wie wir ihn nennen, vorhanden ist und dann ist es dem Anwender unbenommen, unsere Ebenen 6 und 7 zu implementieren oder die anderer Hersteller. Wir haben inzwischen die entsprechenden Dokumente fertig und die Implementierung kommt in einem kurzfristig verfügbaren Release.

Wir hatten in einigen konkreten Fällen in Kundengesprächen auch bereits Kontakt zu Mitbewerbern, wo wir versucht haben, noch in diesem Jahr auf Basis der ISO-Protokolle in einem Rechnerverbund voranzukommen. Das scheiterte zunächst daran, daß in diesem speziellen Fall beim Mitbewerber die Protokolle frühestens in einem Jahr verfügbar sein werden. Generell würde ich sagen, die nächste Hannover-Messe wird uns da ein bißchen weiterbringen.

- Normen haben ja auch eine wirtschaftspolitische Funktion, insbesondere die EG will durch europaweite Normen die bisher abgeschotteten Märkte vergrößern. Wie ist die politische Unterstützung durch die einzelnen Regierungen und durch die EG-Kommission?

BÖHMER: Im Rahmen der Spag-Gruppe, in der Bull Chairman ist, besteht ein direkter Kontakt zur EG-Kommission und ich glaube, daß man diese Dinge auch tatsächlich zum Durchbruch bringen will. Die Unterstützung durch die Regierungen kann man am besten daran aufzeigen, was sich hier bei uns tut. So berücksichtigt das Bundesinnenministerium die Entwicklung bei den Normen und macht sie sehr ernsthaft zur Grundlage aller heterogenen Netze in der Bundesverwaltung. Man erkennt zwar mittlerweile an, insofern hat sich die Haltung etwas gelockert, daß es Herstellerarchitekturen wie zum Beispiel SNA oder DSA gibt. Man will aber, wenn beispielsweise Rechner dieser beiden Hersteller zu verbinden sind, nicht mehr länger Gateway-Lösungen akzeptieren, die ja auch technisch sehr problematisch sind. Hier fordert man - und ich habe den Eindruck, durchaus im Rahmen eines K.o.-Systems -, daß diese ISO-Protokolle als Bindeglied zwischen den beiden Architekturen angeboten werden. Es kann also Fälle geben, in denen der Innenminister, falls er das letzte Wort hat, sagt, wenn hier nicht der Übergang zwischen den beiden Netzen mit Hilfe der ISO-Protokolle durchgeführt wird, werden wir dieser Installation zum Beispiel nicht zustimmen.

- Wie stark ist eigentlich das Interesse der Amerikaner an den Standardisierungsbemühungen der Europäer oder gibt es sogar eine Zusammenarbeit?

BÖHMER: Vor einiger Zeit haben sich insgesamt zehn US-Hersteller mit den Spag-Mitgliedern getroffen. Wie es hieß, fand die Initiative der Europäer ein sehr positives Echo, und ich glaube, in den USA machen sich die gleichen Ideen breit, vielleicht nicht so stark wie in Europa, aber grundsätzlich liegt es auf der Hand, daß man nur so mehr Freiräume schaffen kann.

Es geht auch nicht nur um den Freiraum des Benutzers, daß er frei wählen kann zwischen unterschiedlichen DV-Systemen - das ist sicherlich eine Sache, die aus Anwendersicht durchaus wünschenswert ist und dieses Risiko wollen wir und die anderen Hersteller sicherlich auch eingehen, daß hier Verschiebungen passieren können. Wesentlich wichtiger ist doch bei der Standardisierung solcher Verfahren, daß man den Anschluß an künftige Technologien, was die Datenübertragung anbelangt, nicht verpaßt. Wenn ich daran denke, wie schwierig es war, in manchen Herstellerarchitektur X.25-Support einzubauen, dann, spricht das doch für eine Öffnung und damit für solche Standards, sei es im Hinblick auf ISDN oder die Satellitenkommunikation beispielsweise.

- Und wie verhält sich IBM?

BÖHMER: Ich kenne bisher keine offizielle Aussage der IBM, ich weiß nur, daß IBM diese ISO-Protokolle hat und das auch bekanntgibt. Mir ist nicht bekannt, inwieweit das als offizielles Produkt verfügbar ist, aber IBM macht keinen Hehl daraus, daß sie diese unteren fünf Protokollebenen hat. Was für/mich im Moment nicht so ganz klar ist, wie diese eingebettet sind in die SNA-Architektur, wie der Zugriff dort vorgesehen ist oder ob es etwa bestimmte Hilfen für den Anwender gibt. Da IBM auch über die nationalen Normungsgremien in ISO vertreten ist, ist sie natürlich auch herzlich eingeladen, bei der Spag mitzumachen.

- Es hätte ja sein können, daß IBM sagt, nun gut - das wurde ja in der Vergangenheit schon öfter praktiziert - wir arbeiten in allen Gremien mit, hinterher aber sahen die Produkte etwas anders als der Standard aus.

BÖHMER: Nun, IBM begrüßt ja offiziell diesen Schritt der 12 und das gibt zur Hoffnung Anlaß, daß wir wirklich einmal ein in jeder Hinsicht offenes System bekommen.

Die "Standard Promotion and Applications Group", kurz Spag, wurde im März 1984 gegründet, als die zwölf große europäischen DV- und Telefon-Hersteller beschlossen, von 1985 an offene Systeme mit Hilfe internationaler Kommunikationsnormen, wie sie in der ISO und im CCITT beschlossen werden, durchzusetzen. Mitglieder bei der Spag sind AEG, die Bull-Gruppe, CGE, GEC, ICL, Nixdorf, Olivetti, Philips, Plessey, Siemens, Stet und Thomson. Den Vorsitz führt Emmanuel de Robien von der Gruppe Bull.