Das Andrew-System als benutzerfreundlicher Vorreiter an US-amerikanischen Hochschulen:Kapazität und Komfort für DV-Laien im Zugriff

10.04.1987

Finanzielles wie auch persönliches Engagement begleiten den Einsatz der Informations- und Kommunikationstechnik an US-amerikanischen Universitäten. Mit Pionieranwendungen bei Educational Software und im Workstationverbund gibt besonders die Carnegie-Mellon University die Richtung an. Denn dort schreiben auch Programmier-Laien komplexe Teachware-Programme.

Seit der Krise der US-Stahlindustrie hat sich Pittsburgh durch zwei seiner Universitäten in eine Software-Stadt verwandelt.

Die Pionierrolle hat dabei die Carnegie-Mellon-Universität (CMU) im Bereich des Software-Engineering im allgemeinen und in richtungweisenden Entwicklungen in Netzwerkanwendungen und Unterrichtssoftware (Educational Software) im besonderen übernommen. Daneben steht die University of Pittsburgh. Bisher leerstehende Fabrikhallen wurden von kleinen aufstrebenden Software- und Systemhäusern übernommen.

Um und innerhalb der Carnegie-Mellon-Universität haben sich in den letzten Jahren einige innovative Informatik-Institute und -Organisationen etabliert, die ein beträchtliches Potential an Fachkräften und Know-how aufweisen und sich anspruchsvolle Forschungsziele setzen.

Einige Beispiele: 1984 wurde das Softwarehaus Engineering Institute (SEI) gegründet mit der finanziellen Unterstützung des Verteidigungsministeriums in Höhe von 103 Millionen Dollar. Sein Ziel: Methoden der Softwareentwicklung als Wissenschaft zu begründen und neuartige Software-Tools zu entwickeln. Unter anderem wird an neuen Studienplänen und Kursunterlagen für das Fach Software-Engineering gearbeitet. Ein anderes Projekt des Instituts befaßt sich mit der Software-Copyright-Problematik (Software Licencing Project).

Mit dem SEI sind mehrere Industriefirmen und Universitäten assoziiert. Ein anderes CMU-Institut ist das Zentrum für Entwurf von Unterrichtssoftware (Center for Design of Educational Computing). Hier werden unter anderem Software-Tools für grafisches Programmieren (CMU-Tutor) entwickelt. Ferner arbeitet dieses Institut zur Zeit an einem Projekt für interaktiven Einsatz von Videodisks bei Geisteswissenschaften.

Ein weiteres Beispiel: das Information Technology Center. Dieses Institut ist 1982 als gemeinsame Unternehmung von CMU und IBM gegründet worden, mit dem Ziel ein verteiltes, aber integriertes Rechnersystem für Bildungszwecke auf die Beine zu stellen. Aus dieser Zusammenarbeit ist das System "Andrew" entstanden. Dieses Netzwerk verbindet mehrere hundert Workstations und ermöglicht jedem Studenten direkten Rechneranschluß von seinem Zimmer aus. Die Zielvorgabe sind 10 000 gleichwertige Anschlüsse; eine Zahl, größer als die aller Studenten und Professoren zusammen.

Computertechnik für Studium und Unterricht

Beim Besuch von CMU, MIT oder einer anderen bekannten amerikanischen Universität sind die scharenweise vorhandenen PCs kaum zu übersehen - meistens Apple- und IBM-Systeme. In einigen Fächern wie Ingenieur- und Naturwissenschaften ist es oft Pflicht, einen PC zu besitzen. Aber auch an den Business Schools kann man als Student ohne eigenen Mikro kaum mithalten. Die Finanzierung des Rechners ist Bestandteil der Kalkulation der Studienkosten, sie wird auch bei Vergabe von Stipendien und Darlehen berücksichtigt. Es gibt verbilligte Einkaufsmöglichkeiten in den von den

Universitäten getragenen "Computer Stores" sowohl für Hardware als auch Software.

Befürworter der "Computerisation" des Bildungswesens betonen, daß die Inhalte des Lern- und Forschungsprozesses hierdurch nicht wesentlich verändert werden. Der Beitrag der neuen Bildungstechniken liegt vielmehr in der Steigerung der Lernproduktivität des Studenten und der Effizienz des Lernprozesses.

Die Anwendungen der Educational Software machen dabei nicht mehr Halt bei Ingenieur-Aufgabenstellungen - es werden bereits Programme angeboten, um zum Beispiel das literarische Wissen über Werke von Francis Bacon aus dem 17. Jahrhundert zu vertiefen. Oder man kann computergestützt an seiner schriftlichen Ausdrucksweise feilen, um seinen Aufsätzen mehr Überzeugungskraft zu verleihen.

Das Andrew-Konzept - ein ambitioniertes Projekt

Neben den üblichen PCs sieht man an der CMU des öfteren auch Arbeitsplatzrechner größeren Kalibers: SUN, MicroVax, IBM RT. Diese sind die Bausteine des "Andrew"-Verbundes.

Dem "Andrew"-Konzept liegt zugrunde, die Vorteile der Dateiverfügbarkeit in einem Timesharing-System mit den Grafikfähigkeiten und Rechnerleistungen der neuen Arbeitsplatzrechner zu verbinden und dieses Leistungspaket allen Studenten und Professoren an der Uni zur Verfügung zu stellen. Neben dem Athena-Projekt vom Massachusetts Institut of Technology (MIT) ist das "Andrew"-Projekt derzeit wohl die ambitionierteste Unternehmung dieser Art im amerikanischen Bildungswesen.

Beim Systementwurf ging man davon aus, daß leistungsfähige Arbeitsplatzrechner (mehrere MB Speicher, wenigstens ein Mips und eine Million Pixel, großer Grafikdisplay) in 1987 lediglich 3000 Dollar statt 30 000 Dollar in 1982 kosten werden. Wenn diese Preisschwelle voraussichtlich dieses Jahr erreicht wird, werden auch Studenten und Professoren mit Hilfe von CMU in die Lage versetzt, eine eigene Workstation zu besitzen.

Für Arbeitsweise von Hochschulen geschneidert

Als Basis-Entwicklungsmaschine für das "Andrew"-System wurde daher bereits 1983 der SUN-Arbeitsplatzrechner gewählt, da er den geforderten Spezifikationen am meisten entsprach.

Im September 1986 waren dann schon über 400 Arbeitsplatzrechner angeschlossen, die Zielvorgabe liegt bei 5000.

Die Arbeitsplatzrechner mit dem generischen Namen "Virtue" sind über ein gemeinsames Dateiverwaltungs- und Kommunikationssystem "Vice" (siehe Abbildung) verbunden. Das verteilte Dateiverwaltungssystem speichert und verwaltet Dateien unabhängig von der einzelnen Workstation. Die von "Vice" verwalteten Daten sind jedem angeschlossenen "Virtue "-Arbeitsplatzrechner zugänglich. Für jeden "Virtue"-Rechner erscheint das "Vice"-Dateiverwaltungssystem als ein einheitliches Dateiensystem, in dem die kleinste Dateneinheit eine einzelne Datei ist. Dies entspricht der Arbeitsweise einer Hochschule, wo die am häufigsten ausgetauschte Information Forschungsberichte, Notizen und Computerprogramme darstellen, die als einzelne Dateien betrachtet werden können. Im Dateiverwaltungssystem "Vice" gibt es für alle "Virtue" -Stationen gemeinsamen Dateinamenraum. Daher kann eine Datei, die von einem "Virtue" -Rechner angelegt worden ist, von jeder beliebigen anderen "Virtue"-Station angesprochen werden.

Als File-Server werden SUN- und VAX-Rechner mit jeweils zwei bis drei 400-MB-Laufwerken verwendet.

Der Caching-Mechanismus überträgt komplette Dateien. Dadurch wird der Netzverkehr entlastet, weil Lese- und Schreiboperationen während der Dateibearbeitung das Netz nicht belasten. Nur beim Dateiöffnen und -schließen wird die Netzübertragung aktiviert.

Der gemeinsame Dateinamenraum und das Datei-Caching ermöglichen auch, daß der Anwender vom beliebigen an "Vice" angeschlossenen Arbeitsplatzrechner seine Arbeit fortsetzen kann, als ob es sein eigenes Gerät wäre.

Die Kommunikationsarchitektur besteht aus einzelnen Arbeitsplatzrechner-Clustern und Cluster-Servern, die über bereits früher vorhandene Ethernet-Ringe verbunden sind. Die Ethernet-LANs werden jedoch kurzfristig durch die IBM-Token-Ring-Architektur ersetzt. Die Kommunikationsgeschwindigkeit im lokalen Uni-Netz beträgt 4 bis 10 Megabit pro Sekunde. Innerhalb des Netzes wird das TCP/IP-Protokoll verwendet. Für Verbindungen zu externen IBM-Systemen ist auch das SNA-Protokoll implementiert worden. Zwischen den einzelnen Gebäuden der CMU sind Glasfaserkabel verlegt worden.

Unix für aktive Anwendungen

Für Verbindungen nach draußen - zu Studenten oder zu Privatwohnungen der Lehrkräfte - gibt es ein Kommunikationsnetz mit 64 Kilobit pro Sekunde, das unter dem Namen "Metropolitan Campus Network" implementiert wurde. Die Betriebsgebühren für Einzelanwendungen betragen 25 Dollar im Monat.

Das Betriebssystem von "Andrew" ist die Berkeley-Version von Unix. Der Hauptgrund, weshalb dieses Betriebssystem gewählt worden ist, liegt in seiner Portabilität. Das System kann auf SUN MicroVax oder IBM RT und anderen Rechnern laufen.

Trotz des Siegeszuges der MS-DOS-Umgebung hat man sich für diese Lösung entschieden, da der herkömmliche PC nur ungenügend Unterstützung für Rastergrafik bietet. Sie aber scheint eines der Hauptmerkmale der Unterrichtssoftware zu werden. Darüber hinaus arbeitet am CMU ein großer Anteil der Lehrkräfte und Studenten aktiv beim Programmieren eigener Anwendungen. Deshalb war eine produktive und leistungsfähige Programmierumgebung mit virtuellem Speicher und Multiprocessing unabdingbar, die in dieser Form in MS-DOS nicht verfügbar ist.

Innerhalb von "Andrew" ist eine spezielle Anwenderschnittstelle implementiert worden, um die Entwicklung von Unterrichts-Software zu erleichtern. Damit soll jene kritische Masse von Unterrichts-Software-Anwendungen geschaffen werden, die notwendig für eine weitverbreitete Nutzung dieser Unterrichtsmethoden ist.

Window-Manager als Baustein für Anwendungen

Der Baustein für alle Anwendungen ist der "Window-Manager". Er ermöglicht, den virtuellen Bildschirm in bis 16 nicht überlappende Fenster aufzuteilen. Die Größe und Form des Fensters werden vom Anwender vorgegeben. In jedem Fenster kann ein von anderen Fenstern und Prozessen unabhängiger Prozeß ablaufen. Statt hierarchischer Menüs werden Menüfunktionen in Form von überlappenden Karteikarten angezeigt. Der Window-Manager ist kompatibel mit dem Berkeley-Unix-Betriebssystem. Er kann an andere Displaygeräte angepaßt werden.

Die Window-Manager-Schnittstelle enthält mehrere Basisfunktionen für Fenster-Steuerung, Grafik- und Textdarstellungen mit Pixeladressierung sowie die Koordinierung von Maus- und Tastatureingabe. Diese Prozeduren können aus den Programmiersprachen C, Pascal, Fortran und Lisp aufgerufen werden.

Unter den Anwendungen, die mit Hilfe des Window-Managers und anderer Datenmanipulations-Routinen laufen, findet sich ein Texteditor, der, ähnlich wie ein "Wysiwyg"-Editor, den Text formatiert. Es besteht jedoch der Unterschied, daß das Textformat automatisch dem verfügbaren Fenster angepaßt wird. Das Schriftbild wird über "style"-Befehle gesteuert, wobei durch die Pixeladressierung viele Fonts erzeugt werden können. Ein Vorteil dieses Texteditors ist, daß er als Teil der Systembibliothek aufgerufen werden und für sämtliche Textbearbeitungsarten im vollen Leistungsumfang verwendet werden kann.

Datensicherheit - auch für Computer-Laien

Eine weitere populäre Anwendung ist Electronic-Mail und das "Aushangbrett", die mit dem "Grits"-Datenbank-System implementiert worden sind. Diese Datenbank besteht aus einer beliebigen Anzahl von Sätzen, die wiederum eine beliebige Anzahl von Feldern jeglicher Größe enthalten kann. Diese Flexibilität prädestiniert diese Datenbank für Bearbeitung schlecht strukturierter Daten.

Eine richtungweisende Anwendung ist die Implementierung der Tudor-Programmiersprache unter Nutzung der Grafikfähigkeiten von "Andrew". Hierdurch wird eine grafikorientierte Programmierumgebung geschaffen, die auch Nichtprogrammierern die notwendigen Mittel an die Hand gibt, komplexe Unterrichtssoftware zu schreiben.

Was an diesem Projekt beeindruckt, ist die Größe des Verbundsystems, in dem verteilte, jedoch einheitliche und datensichere Dateienverwaltung mit der Rechnerleistung einer Grafik-Workstation auch für Computerlaien gekoppelt wurde. Das System "Andrew" ist im Begriff zur Grundlage der Bildschirmarbeit, der Forschung sowie der Verwaltung auch des gesellschaftlichen Lebens an der Universität zu werden.

Die permanente Entwicklung von diesem System beläuft sich auf 150 Mannjahre mit einem Budget von 35 Millionen Dollar.

Es hat sich herausgestellt, daß die Wartung von solchen verteilten Systemen eine intensive Aufgabe ist die entsprechend personell dotiert werden muß. Auch umfangreichere Diagnostik-Tools sind vonnöten.

Die Akzeptanz der Anwender ist groß

Die Akzeptanz seitens der Anwender ist sehr groß; es wird viel experimentiert, was zu gelegentlicher Überlastung führt. Auch andere US-Bildungsinstitutionen haben bereits die "Andrew"-Software in Form einer Lizenz für Versuchszwecke erhalten.

Um die Zusammenarbeit der Universitäten zu fördern, hat CMU das Inter-University Consortium for Educational Computing (ICEC) gegründet. Unter dessen Mitgliedern befinden sich etwa das MIT, die Stanford University sowie die University of Berkeley.

Der Schlüssel, der dieser Technologie im Bildungswesen zum Durchbruch verhelfen kann, liegt darin, eine umfangreiche Bibliothek an Programmen zu schaffen. Sie decken wesentliche Fachbereiche ab und sind generell übertragbar zwischen Systemen und Bildungseinrichtungen. Die Parallele zwischen gutem Lehrbuch und Lehrprogramm ist an dieser Stelle sicherlich nicht verfehlt.

*Dipl.-Ing. V. H. Boucek, M.B.A., München, ist im Management- und DV-Consulting tätig.