Für das Leben, nicht für die Schule lernen:

Computernarr ist irriges Bildungsziel

14.12.1984

FRANKFURT/MAIN - Was der Computer an Faszination bei Schülern erzeugt, ist bekannt; was er eigentlich im Unterricht soll, noch heftig umstritten. Die Einseitigkeit der Bildung etwa - die Spitze des Eisbergs - bewegt kritische Gemüter zusehends. Skeptische Pädagogen prägten jüngst das Wort von der "Zwangsentschulung". Jeder Umbruch bietet die Chance für Neues, doch Computernarren als Bildungsziel stellt auch der Diebold Management Report Nr. 8 in Frage.

Anfang der 70er Jahre, als die Technik mit Macht ins Klassenzimmer eindrang, sprach alle Welt vom "Lernen mit dem Computer". Lehrautomaten sollten die Lehrer von allen Routinearbeiten befreien und zudem die drohende "Bildungskatastrophe" aufhalten. Denn an Lehrern würde es bald mangeln, glaubte man damals. Bis heute sind noch keine gültigen Antworten auf die Fragen gefunden worden, ob der Computer nur als Instrument zur Stärkung der persönlichen Arbeitsleistung zu sehen ist, oder ob der Umgang mit ihm neues Grundlagenwissen, das in allen Lebenslagen gebraucht wird, vermittelt und welche Chancen und Gefahren bestehen, wenn Computer in den Schulen eingesetzt werden.

Mit der Datenverarbeitung begann ein neuer Abschnitt in der Geschichte der Schule. Während die Optimisten diesen Schritt mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht und dem damit begründeten gesellschaftlichen Zwang zum Umgang mit der Schriftsprache vergleichen, sprechen die Skeptiker von einer "neuen" Krise des Bildungssystems. Weil Techniken wie das Video und der Computer immer mehr Bildung auf eine neue, attraktive Weise verfügbar machten, drohe eine "schleichende Zwangsentschulung", meint der Dortmunder Pädagoge Hans-Günter Rolff, und sein Bremer Kollege Klaus Haefner sorgt sich darum, daß die Schule eines Tages ihr "Bildungsmonopol" verlieren könnte.

Schule in der Zwickmühle

Der Bielefelder Pädagoge Hartmut von Hentig sieht die Schule in der Zwickmühle: Verweigere sie sich den neuen Techniken und beginne sich zu isolieren, dann kündige sie ihren bisherigen gesellschaftlichen Auftrag, auf das Leben vorzubereiten. Lasse sie sich dagegen auf die neuen Medien ein, betreibe sie ihren eigenen Abbau. Längst hätten die Medien der Schule wichtige Aufgaben und Wirkungen abgenommen. Inwieweit diese Ansicht auf herkömmliche Vorstellungen vom Bildungsauftrag der Schule basiert, wäre zu prüfen.

Schon droht eine Ideologisierung dieses Themas, wie manche Veröffentlichungen der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft ahnen lassen. Auf alle Fälle wird die Schule "alte Schlachtfelder der Schulorganisation und der ideologischen Konfrontation" räumen müssen. Diese Ansicht vertrat Professor Kurt Biedenkopf, Vorsitzender der westfälischen CDU, jüngst auf den bildungspolitischen Kongreß seines Landesverbandes. Im Zeitalter von Elektronik und neuer Technik müsse der Bildungsauftrag der Schule erweitert und damit neu bestimmt werden.

Daß die Schule der Entwicklung in der Elektronik nicht mehr tatenlos zusehen dürfte, ist inzwischen allgemeine Auffassung geworden. Kongresse und Seminare zu diesem Thema sind fast schon Legion, die Kultusbehörden der Länder überbieten sich in den Aktivitäten. Der Computer in der Schule befindet sich unverkennbar auf dem Vormarsch. Bayerns Schulen sind fast vollständig versorgt, in Baden-Württemberg verfügen 92 Prozent der Gymnasien, 96 Prozent der kaufmännischen Schulen und 69 Prozent der gewerblichen Schulen über eigene Computer. Im Saarland läuft ein Modellversuch, bei dem bereits Kinder von vier Jahren im Kindergarten am Computer lernen. Man benutzt dabei die vom amerikanischen Informatiker und Psychologen Seymour Papert entwickelte Programmiersprache "Logo", die die Lektüre eines Buches ersetzt. Denn gelernt wird am Bildschirm.

Eine optimistische Richtung der Pädagogik vertritt Papert. Sie erwartet vom Computer entscheidende Impulse für die Weiterentwicklung der Schule. Weil er tausend Formen annehmen und tausend Funktionen erfüllen könne, genüge er auch tausend verschiedenen Ansprüchen. Auch in Deutschland gibt es solche optimistischen Stimmen, die glauben, mit dem Computer endlich das richtige "Lernmodell" gefunden zu haben.

Die Mehrheit fürchtet allerdings, daß der Einsatz des Computers zu einem Verlust an Spontaneität führe. Ihr Hauptargument: Der Computer enge den Erfahrungshorizont ein und begrenze die persönliche Auseinandersetzung. "Selbst der pfiffigste Telecomputer ist gegenüber dem lustlosesten Lehrer ein Lerngespenst", meint der Frankfurter Pädagoge Professor Horst Rumpf. Das Medium werde genutzt, um Informationen abzurufen oder mit ihm zu arbeiten. Mit einem Menschen müsse man sich dagegen auseinandersetzen - emotional und argumentativ.

Viel gravierender erscheinen die veränderten Einflüsse auf den Lernprozeß. Warum soll der Schüler sein Gehirn noch trainieren, seinen Kopf mit einem Wust von Informationen aus allen möglichen Wissensgebieten vollpumpen wenn Wissen künftig per Knopfdruck abrufbar wird - diese Frage erscheint pädagogisch gesehen, eher entmutigend.

Denktraining par excellence

Für das Verstehen der Denkprozesse ist der Computer nach Ansicht Hartmut von Hentigs dagegen "ein Lernanlaß par excellence", wie unter den Schulungsgegenständen sonst nur noch die Grammatik und die Mathematik. Im Denktraining, das der Computer - oder besser gesagt, seine Programmierung - vermittle, läge pädagogisch ein wichtiger Angelpunkt für den Computereinsatz in der Schule. Hier könne es nicht darum gehen, daß der Computer dem Schüler das Denken abnimmt. Unter diesem Aspekt sei deshalb der elektronische Taschenrechner in Schülerhand zumindest bei den unteren Jahrgängen ein problematisches Hilfsinstrument, denn hier stellt das Kopfrechnen immer noch ein wichtiges Kombinationstraining dar. Erst dann, wenn das Denken für höherwertige Prozesse benötigt werde, könne die Elektronik den Denkenden auf der reinen Rechnerebene entlasten.

Das gilt in gleicher Weise für die Wissensvermittlung. Da die Kreativität des Menschen sehr stark durch seine Assoziationen verschiedener Wissensbereiche bedingt ist, kann er auf eine eigene Wissensbasis im Gehirn nicht verzichten. Und hier muß die Schule nach wie vor Grundlagen schaffen, die das elektronisch gespeicherte Wissen nur ergänzen kann.

Die Pädagogen sind in diesem Zusammenhang gefordert, darüber nachzudenken, wie der Wissensstoff im Zeitalter des Computers vermittelt werden könnte, wie er vor allem neu gestaltet und gegliedert werden sollte. Damit muß letztlich auch entschieden werden, was weiterhin als wichtig zu vermitteln ist und was als überflüssig, aber per Knopfdruck vom Computer abrufbar, weggelassen werden könnte.

Frei für lebensnahes Lernen

Mit der Loslösung von irrelevantem Wissensballast werde die Schulung frei für lebensnahes Lernen, für mehr Anschauung. Bildung, meint Hans-Günter Rolff , der Leiter des Instituts für Schulentwicklung der Universität Dortmund, erwirbt man vor allem "durch aktive Aneignung der kulturellen Überlieferung, durch Auseinandersetzung mit anderen Menschen, durch gemeinsame Arbeit und Eigenständigkeit".

Der Weg wird überdies frei für neue Lerninhalte, die an der Schule bisher unterentwickelt sind. Orientierungshilfen für die Mediennutzung, für soziales Verhalten, für die Beseitigung von Konflikten. Der Computer muß dabei keineswegs abseits stehen. Mit Hilfe von Planspielen und anderen Simulationen kann er wertvolle Unterstützung liefern. Damit offenbart der Computer dem Lernenden zugleich seinen instrumentalen Charakter und kann dadurch in richtiger Weise eingeordnet werden.

Weder Panikmache noch allzu übertriebene Eilfertigkeit bei der Einführung des Computers in der Schule seien also angebracht, resümiert Diebold. Fatal wäre es, wenn mit dem Computer neue Illusionen in die Schulräume einzögen. Wichtig ist, daß Schüler die Scheu vor dem Computer verlieren, daß sie lernen, die neuen Techniken in ihr tägliches Leben einzuordnen und ihren Stellenwert zu erkennen. Der Computer im Unterricht mache ihm keine Angst, sagt Hartmut von Hentig. Angst machten ihm vielmehr die falschen Konzepte sowie die pädagogischen Illusionen und Erwartungen. Der Computer kann die Menschen namentlich im Berufsleben von Wissenslasten und unrationellen Denkanstrengungen befreien. Doch muß man damit schon in der Schule beginnen, fragt der Pädagoge. Der perfekte, aber engstirnige Computernarr kann nicht das öffentliche Bildungsziel sein.