Mineralogie sorgte für künstlerische Eingebung am Bildschirm:

Computer simulieren Kristallwachstum

05.04.1985

Ungewöhnlich erscheint es, wenn die Anregung zur künstlerischen Betätigung mit dem Computer aus der Mineralogie her kommt. Das war der Fall bei Karl-Heinz Pielstikker, von Beruf Bauingenieur und seit 15 Jahren als Berater für Tragwerkplanung tätig.

Seine freiberufliche Tätigkeit gab auch den Ausschlag für ihn, einen Mikrocomputer anzuschaffen. Er wandte ihn in üblicher Weise zur Unterstützung der Bürotätigkeit an und nutzte ihn im übrigen im Bereich der Baustatik Um auch die Konstruktionszeichnungen EDV-unterstützt vorzunehmen, schaffte sich Karl-Heinz Pielsticker einen mechanischen Plotter für das Format DIN A3 an. Durch Seminare an der Universität Bochum bildete er sich für CAD aus, kam allerdings schließlich zum Ergebnis, daß sich der Einsatz computergrafischer Methoden im Rahmen seines Berufs nicht lohnt. Das liegt insbesondere an der Tatsache, daß die dazu nötige Aufbereitung der Eingaben zu zeitaufwendig ist.

Grafisches Resultat durch den Zufall festgelegt

Da stand nun ein neues Zeichengerät im Büro, und auch an Kenntnissen zur Bedienung mangelte es nicht. So wandte sich Pielsticker der freigestalteten Computergrafik zu. Er berichtet: "Die Anfänge dieser Beschäftigung zeigen vorwiegend Grafiken mathematischen Ursprungs, geometrische Kurven oder aus Polynomen erzeugte Netzwerke. Schon in dieser Phase lernte ich die Möglichkeit des Rechners schätzen, zufallserzeugte Parameter in das jeweilige Programm einfließen zu lassen. Damit wurden die Konfigurationen über die Eingabe nur in groben Zügen festgelegt, während das grafische Resultat innerhalb festgelegter Grenzen durch den Zufall festgelegt war."

Bei den letzten seiner computergrafischen Arbeiten kamen nun auch seine mineralogischen Erfahrungen ins Spiel. Seit seiner Studentenzeit hatte er sich mit Höhlenforschung beschäftigt und unter anderem an mehrtägigen Expeditionen im Dachstein, Oberösterreich und auf der Insel Sardinien teilgenommen. Für dieses Frühjahr plant er eine Forschungsfahrt in eine neu entdeckte mexikanische Riesenhöhle. Sein besonderes Interesse gilt dabei den Mineralien.

Im Kristallwachstum liegt eine Erscheinung vor, in der Gesetze und Zufall in ähnlicher Weise zusammenspielen wie bei den Random-gesteuerten Zeichnungen. So bot es sich an, das Kristallwachstum mit Hilfe grafischer Programme zu simulieren. Da es dabei nicht um wissenschaftliche Ziele ging, sondern eher um das Experimentieren mit interessanten Formen, konnte sich der aus dem Sauerland stammende Künstler gewisse Freiheiten erlauben, unter anderem die Übertragung der dreidimensionalen Geometrie der Kristalle auf die Ebene.

Zufällige Anordnung der Kristallkörper

Bisher liegen zwei Programme vor. Die Software "cer" simuliert das Wachstum sich sternförmig aufbauender Cerussit-Kristalle (Bleicarbonat). Geometrisch gleichförmige Kristallkörper ordnen sich um ein sternförmiges Kristallskelett an. Größe und Anordnung der einzelnen Kristallkörper werden ähnlich wie in der Natur unter strenger Beibehaltung ihrer Form und Richtung zufällig angeordnet.

Kristalline Prozesse für die Gestaltung

Das zweite Programm mit der Bezeichnung "van" stellt den umgekehrten Fall des Wachstums von Kristallaggregaten dar. Kristallkörper in der Form des Vanadinits (Bleivanadinat) wachsen in zufälliger Form unter Beibehaltung der Sechseckform entlang den Außenrändern einer übergeordneten Sechseckform, um diese Form wie in der Natur schließlich zu füllen.

Computergrafik bedeutet für Karl-Heinz Pielsticker eine anregende Freizeitbeschäftigung, eine willkommene Ergänzung seines Hobbys, das ihn in Steinbrüche, Bergwerke und Höhlen führt. Seine Idee, kristalline Prozesse für die Gestaltung künstlerischer Grafiken zu verwerten, könnte aber auf für professionelle Künstler eine Anregung sein. Und der Computer erweist sich als jenes Mittel, daß es erlaubt, die strenge Geometrie der Kristalle mit den freien Verteilungen des Zufalls zu kombinieren.

*Herbert W. Franke ist Professor für Kybernetische Ästhetik, Schriftsteller und Computergrafiker.