IT in der Prozessindustrie/Mikroelektronik bringt neue Arbeitsabläufe

Chemieproduktion im Liliputformat

20.07.2001
Immer kleiner, immer feiner - was sich in der Mikroelektronik bewährt hat, setzt sich jetzt auch in der Chemie- und Pharmaindustrie durch. Von Johannes Kelch*

Mit einem Zentimeter großen Mikroreaktor synthetisiert BASF seit kurzer Zeit ein Vitamin-Vorprodukt. Das Unternehmen steigerte so die Ausbeute im Vergleich zu einer herkömmlichen Anlage von 85 auf 95 Prozent.

Erstaunliche Ergebnisse erzielte die zentrale Verfahrensentwicklung des Pharmaunternehmens Merck in Darmstadt mit einem Mikroreaktor bei der Herstellung einer Feinchemikalie. Während in einem größeren Rührkessel lediglich eine Ausbeute von 72 Prozent erzielt wurde, lag der Vergleichswert beim Einsatz eines Mikroreaktors bei 95 Prozent. In die Produktion eingeführt wurden sodann etwas größere Minireaktoren, die bei einer Ausbeute von 92 Prozent wirtschaftlich die besten Ergebnisse erbrachten.

Aventis Research & Technologies fand heraus, dass sich mit Mikroreaktoren bei der Radikalpolymerisation zur Herstellung von Acrylaten unerwünschte Nebenreaktionen unterdrücken lassen. Das Numbering-up von Mikroreaktoren soll nun eine Jahresproduktion von 2000 Tonnen des Acrylats ermöglichen. Die Mikroreaktionstechnik hat die Experimentierphase erreicht. Viele Unternehmen der Chemie- und Pharmabranche suchen in Projekten gemeinsam mit dem Institut für Mikrotechnik Mainz IMM nach neuen verfahrenstechnischen Lösungen für ihre Produktion.

Die Mikroverfahrenstechnik lässt chemische Prozesse in Systemen ablaufen, deren äußere Abmessungen nur wenige Zentimeter betragen, die jedoch im Inneren haarfeine Kanäle aufweisen. Vor allem chemische Reaktionen mit aggressiven, explosiven und giftigen Stoffen lassen sich in Mikromischern und -reaktoren weitaus besser und sicherer beherrschen als in herkömmlichen Chemieanlagen mit größeren Dimensionen. Mit den Kleinstgeräten kann man sogar Stoffe synthetisieren, die in größeren Anlagen wegen unkontrollierbarer Reaktionen nicht herstellbar sind. Die Reaktionsbedingungen (Druck, Temperatur) lassen sich in den Liliput-Apparaten weitaus besser kontrollieren, durch die exakte Prozessführung sind höhere Ausbeuten und reinere Produkte zu erzielen.

Mikroreaktoren, Mikromischer, Mikrowärmetauscher, Mikrofiltrationssysteme, Mikropumpen und -ventile sind bereits seit einigen Jahren als Prototypen und in Kleinserien verfügbar. Vor allem das Institut für Mikrotechnik Mainz IMM, eine öffentlich geförderte Forschungs-GmbH unter Leitung des Mikrotechnik-Pioniers Wolfgang Ehrfeld, hat durch die Entwicklung und Produktion von Prototypen Deutschland weltweit an die Spitze der Mikroverfahrenstechnik gebracht.

Der Chemiker Thomas Dietrich, Gründer und Chef der Mainzer MGT Mikroglas AG, prophezeit der Mikroverfahrenstechnik den Durchbruch und die langfristige Bewährung in der "Herstellung von Pharmazeutika und Feinchemikalien bis zu 1000 Tonnen Jahresmenge". Gerade bei gefährlichen Reaktionen, die in großen Systemen "äußerst schwer" zu beherrschen seien, gebe es keine Alternative.

Explosive GemischeAls Beispiel nennt der Chemiker die Nitrierung eines organischen Stoffes, die schnell zu explosiven Gemischen führen könne. Im Mikroreaktor werde nie die kritische Menge für eine Explosion erreicht, aber die benötigte Menge des gewünschten Produkts hergestellt.

Unveröffentlichten Marktstudien zufolge, auf die sich Thomas Dietrich beruft, wird in rund zwei Jahren der verstärkte Einsatz der Mikroverfahrenstechnik in der Chemie- und Pharmaproduktion beginnen. Und schon "in absehbarer Zeit" rechnet Dietrich damit, dass zehn Prozent aller chemischen und pharmazeutischen Produkte in mikrotechnischen Anlagen hergestellt werden.

Als eine der ersten Firmen weltweit hat die MGT eine vollständige miniaturisierte Chemieanlage mit Mikroreaktor, Mikropumpen, Sensorik und einer elektronischen Steuerung auf den Markt gebracht. Die Anlage ist für rund 40000 Euro zu haben, einzelne Bausteine, etwa ein Mikroreaktor, schlagen mit rund 2000 Euro zu Buche. Um ein hohes Maß an Kompatibilität zu üblichen Anlagen der Chemieindustrie zu erreichen, verwendet das Unternehmen die häufig in der Prozessindustrie eingesetzte Simatic-Steuerung von Siemens.

Doch warum dauert es noch 24 Monate oder länger, bis Mikroreaktoren und -mischer im großen Stil in der Produktion zum Einsatz kommen? Eine Schwierigkeit liegt darin, dass sich die Bausteine verschiedener Institute und Hersteller nicht miteinander kombinieren lassen. Wie die Mikroelektronik benötigt die Mikroverfahrenstechnik eine Standardisierung von Schnittstellen.

Seit November 2000 hat sich die Gesellschaft für Chemische Technologie und Biotechnologie e.V. Dechema des Themas angenommen. Sie hat eine "Industrieplattform modulare Mikroverfahrenstechnik" ins Leben gerufen. Mehrere Hersteller von mikrotechnischen Produkten arbeiten inzwischen an der Harmonisierung von Bausteinen und Baukästen, um die Anwendungsmöglichkeiten der Mikroverfahrenstechnik zu erweitern.

Ein zweites Hindernis liegt in der mangelnden Erfahrung der Beschäftigten in der Chemie- und Pharmaindustrie mit der neuen Technik.

Der Mainzer Hochschullehrer Wolfgang Ehrfeld ist der Vater des Gedankens, mit der Mikroreaktionstechnik eine erprobte Erfolgsstrategie der Natur zu kopieren: die Parallelisierung. Vorbild sind lebende Zellen, die nebeneinander existieren, gleich aufgebaut sind und absterben können, ohne den Organismus als System zu gefährden. In gleicher Weise sollen parallel arbeitende Mikroanlagen gleicher Bauweise vielfältige Substanzen herstellen und bei einem Ausfall ersetzt werden, so dass das Gesamtsystem arbeitsfähig bleibt.

Von diesem Konzept ist sogar die Bundesregierung überzeugt. In ihrem Förderkonzept "Mikrosystemtechnik 2000+" schwärmt sie vom Vorbild der Natur und einem "deutlichen Wandel der Herstellungsmethoden für viele chemische Produkte".

*Johannes Kelch ist freier Journalist in München.