Technokratisches Denken behindert die Entwicklung komplexer Systeme (Teil 2 und Schluß):

CASE - Quantitative Verfahren reichen nicht

24.03.1989

Ingenieurmäßiges Vorgehen bei der Softwareentwicklung verspricht meßbare Erfolge. Doch bei der Einführung von CASE scheitert diese streng quantifizierbare Methode immer wieder. Der Grund: Komplexe Systeme sind immer auch offene Systeme und damit nie perfekt planbar. Hartmut Skubch* fordert daher, die Unwägbarkeit äußerer Einflüsse von vornherein in die Entwicklung zu integrieren.

Welche Anforderungen richten sich nun an eine CASE-Umgebung zur kybernetischen Systementwickung? Da wir davon ausgehen, daß CASE selbst wieder ein komplexes offenes System ist, in dem kybernetischen Gesetzmäßigkeiten gelten, können wir allgemeingültige Grundregeln solcher Systeme zu Rate ziehen. Vester formuliert acht Prinzipien der Natur, die das Überleben derartiger Systeme garantieren:

Das Prinzip der negativen Rückkopplung

Das bedeutet Selbststeuerung durch den Aufbau von Regelkreisen statt ungehemmter Selbstverstärkung.

Das Prinzip der Unabhängigkeit von Wachstum

Die Funktion eines Systems muß auch in einer Gleichgewichtsphase gewährleistet sein, das heißt vom quantitativen Wachstum unabhängig sein.

Das Prinzip der Unabhängigkeit vom Produkt

Überlebensfähige Systeme müssen funktions- und nicht produktorientiert arbeiten.

Das Jiu-Jitsu-Prinzip

Hier geht es um die Nutzung vorhandener, auch störender Kräfte nach dem Prinzip der asiatischen Selbstverteidigung.

Das Prinzip der Mehrfachnutzung

Mehrfachnutzung führt durch Verbundlösungen zu Multistabilität und bedeutet eine Absage an sogenannte 100prozentige Lösungen.

Das Prinzip des Recycling

Damit wird Nutzung von Kreisprozessen angeregt.

Das Prinzip der Symbiose

Das heißt gegenseitige Nutzung von Verschiedenartigkeit durch Kopplung und Austausch.

Das Prinzip des biologischen Designs

Dieses Prinzip fordert Feedbackplanung mit der Umwelt, Vereinbarkeit und Resonanz mit biologischen Strukturen, insbesondere auch derjenigen des Menschen.

Übertragen auf Informationssysteme und speziell auf das CASE-System könnte man folgende Eigenschaften fordern:

Zum Prinzip der negativen Rückkopplung: Informationssysteme müssen negative Rückkopplungen enthalten, die eine Selbststeuerung bewirken und den zentralistisch-dirigistischen Anteil reduzieren. Die bewußte Planung von Regelkreisen ist bisher nur in wenigen Informationssystemen durchgeführt worden (zum Beispiel Just-in-Time Prinzip bei der Materialwirtschaft). Zur Entwicklung solcher Regelkreise hat sich die Betrachtung des Systems in Form eines Schichtenmodells aus unterschiedlichen Perspektiven als hilfreich erwiesen. Bezüglich CASE muß die Produktion von Informationssystemen mit mehr Selbststeuerung versehen werden. Diese Mechanismen können sich beispielsweise auf die Fragen, welche Systeme sollen überhaupt, in welcher Reihenfolge und in welcher Qualität erzeugt werden, beziehen.

Derzeit versuchen wir in einem Unternehmen einen Regelkreis über den Begriff der Qualität der Information aufzubauen (Abbildung 1). Der sogenannte Anwenderstau wird dadurch beträchtlich relativiert. Weitere Regelkreise, die letztendlich die Datenflut eindämmen und eine bedarfsgerechte Informationsversorgung fördern, sind sicherlich denkbar.

Zum Prinzip der Unabhängigkeit von Wachstum: Informationssysteme dürfen nicht von Wachstumsraten abhängig sein. Ein negatives Beispiel hierzu bietet sicherlich Bildschirmtext, ein System, das bei seiner Konzipierung eine Wachstumsrate unterstellte, die dann nicht eingetroffen ist.

CASE muß auch mit den heutigen Mitteln wie Rechnerleistung und Arbeitsplatz-ausstattung funktionieren. Dies erreicht man sicherlich besser, wenn man den Schwerpunkt mehr auf die methodische Seite legt, als auf die Werkzeuge.

Zum Prinzip der Unabhängigkeit vom Produkt: Der Kauf einer Standardsoftware ist kein Ersatz für eine Systemgestaltung. Informationssysteme dürfen nicht von einzelnen Produkten (Soft- und Hardware) abhängig sein. Die Modellierung der konzeptionellen Ebene durch Funktions- und Datenanalyse führt die quantitativ faktische Kommunikation auf ihren eigentlichen Ursprung zurück und muß als Grundlage der technischen Realisierung dienen.

Dies ist sicherlich ein sehr wesentliches Prinzip. Das CASE-System eines Unternehmens darf nicht von einem bestimmten Produkt (Werkzeug) abhängig sein. Viel wesentlicher ist es, daß die Organisation und das Know-how (Methodik) etabliert sind und den Produkteinsatz determinieren.

Zum Jiu-Jitsu-Prinzip: Die kritischen Störfaktoren von Informationssystemen müssen bekannt sein und positiv beeinflußt werden. Die KEF-Methode (kritische Erfolgsfaktoren) bietet eine systematische Behandlung von Störfaktoren. Daß die Anwender angeblich permanent ihre Vorstellungen ändern, darf nicht abgeblockt werden.

Changemanagement muß ein Kernbestandteil jeder CASE-Lösung sein. Dabei kommt es darauf an, die Energie des Benutzers aktiv durch Einbeziehung zu nutzen. Zudem

macht sich hier die Rekursion am deutlichsten bemerkbar, da die Systementwickler jetzt auch als "störende Benutzer" auftauchen. Ihre Energie konstruktiv zu nutzen, gelingt beispielsweise durch den Aufbau sogenannter Benutzerkreise für die Einführung einer CASE-Lösung.

Zum Prinzip der Mehrfachnutzung: Informationssysteme brauchen keine 100prozentigen Lösungen zu sein, die speziell auf eine Problemstellung zugeschnitten sind. Es müssen dabei Organisationsformen, die weg vom Taylorismus führen, in die Gestaltung einfließen. Im technischen Bereich wurden eine ganze Reihe von methodischen Verfahren bereits aufgestellt, die diesem Prinzip genügen. Es beginnt bei Unterprogrammen geht über Modulbildungen bis hin zur Datenmodellierung, die die Struktur der Daten unabhängig von der spezifischen Nutzung hält. Weitere Ansätze finden sich im objektorientierten Ansatz sowie im Einsatz von Expertensystemen zur Mehrfachnutzung von speziellem Wissen.

Die CASE-Organisationsform in der Entwicklungsarbeit sollte mehr ganzheitlich als spezialisiert ausgerichtet sein (zum Beispiel keine Trennung Organisation/Programmierung, gezielte Teambildung). Technisch sollte ein CASE-System auch über eine Datenbank (Entwicklungsdatenbank) verfügen.

Prinzip des Recycling: Die Behandlung von Kreisprozessen in Informationssystemen erscheint derzeit noch unklar. Themen wie Redesign, Wartung etc. könnten möglicherweise von Bedeutung sein.

Zum Prinzip der Symbiose: Die bewußte Gestaltung der Mensch/Maschine-Kommunikation unter ergonomischen Gesichtspunkten ist hierbei zu fordern. Außerdem muß die Weiterentwicklung der Organisationsform nach den Prinzipien der Organisationsentwicklung geplant und stimuliert werden.

Eine CASE-Lösung verlangt eine sinnvolle, das ist eine sich verstärkende Symbiose zwischen Mensch und Maschine. Es muß deutlich sein, welche Aufgaben der Mensch übernehmen muß und welche Aufgaben die Maschine. Da es sich um eine sehr kreative Aufgabe handelt, sollte dieser Ansatz besonders nahe liegen. Trotzdem versuchen viele Werkzeuge noch den Menschen zu simulieren, statt ihn zu unterstützen.

Zum Prinzip des biologischen Designs: Die Rückkopplung mit der Umwelt muß Bestandteil des Informationssystems sein. Dabei steht die Verträglichkeit mit den "menschlichen" Eigenschaften und Bedürfnissen der Benutzer sicherlich im Vordergrund. Es darf also nicht als geschlossenes System konzipiert werden. Damit müssen wir Abschied nehmen von der Vorstellung, alles sei berechenbar, planbar und verstehbar, man müsse es nur in seine Bestandteile zerlegen. Ein Informationssystem ist also nicht vollständig spezifizierbar, aber in seiner Wirkung erfahrbar. Letzteres müssen wir für die Entwicklung nutzen.

Ein CASE-System muß das Prototyping aktiv unterstützen, da es die Entwicklung des Systems in direktem Kontakt mit der Umwelt ermöglicht. Allerdings müssen wir das bisherige Verständnis von Prototyping zu einer echten Simulation eines Informationssystems erweitern.

Diese Prinzipien sind sicherlich erst einige Ansätze, aber es wäre bestimmt sinnvoll, die genannten Maßstäbe bei der weiteren Entwicklung unserer CASE-Umgebungen anzulegen. Besondere Bedeutung kommt dabei dem Prinzip der negativen Rückkopplung zu.

"Die Grundbedingung für die Überlebensfähigkeit eines Systems ist in jedem Fall und in jedem Zustand eine möglichst gut funktionierende Selbststeuerung und nicht eine Steuerung von außen. Und zwar gerade, weil alle realen Systeme nach außen offen sind. Diese Selbststeuerung erfolgt nach dem kybernetischen Prinzip der negativen Rückkopplung."

Hier liegt wahrscheinlich ein Grundsätzliches Problem, da es das Selbstverständnis der heutigen zentralistisch orientierten DV-Abteilungen massiv tangiert. Selbststeue-rungsmechanismen bei der Entwicklung von Informationssystemen würden den dirigistischen Einfluß dieser Abteilungen erheblich einengen und geradezu ein neues Selbstverständnis fordern.

In der Vergangenheit haben sich einige Aktivitäten als sehr erfolgreich erwiesen und sollten unbedingt beibehalten und fortentwickelt werden. Diese Ansätze weisen in die richtige Richtung, und vielleicht erkennen wir jetzt besser, warum sie sich bewährt haben. Ausreichend sind diese Maßnahmen allerdings bei weitem nicht.

Vernetztes Denken in der Ausbildung fördern - Ohne Wissen geht es nicht. Wir können nicht von unseren Systementwicklern ein vernetztes Denken erwarten, wenn zugleich unsere gesamte Ausbildung, angefangen mit der schulischen Erziehung, auf eindimensionale Betrachtungsweisen ausgerichtet ist. Ein erster Ansatz müßte also in Richtung Ausbildung gehen. Aber hüten wir uns davor, nun ein Ausbildungskonzept zu entwerfen und unseren Kollegen zu verabreichen. Es stünde geradezu im Widerspruch zu dem Anspruch des vernetzten Denkens.

Versuchen wir stattdessen ein Ausbildungsklima zu schaffen, das anregt und ein "System" etabliert, besser stimuliert, das die Grundlage schafft für eine kybernetische Systementwicklung.

Intensiv kommunizieren

- Dieser grundlegende Umdenkprozeß, der auch zu veränderten Handlungsweisen führen soll, kann sich nur im Rahmen einer intensiven Kommunikation zwischen den Beteiligten vollziehen. Hier gilt es, die entsprechenden Voraussetzungen zu schaffen.

Förderung der Veranschaulichung - Alle Mittel, wie Grafiken und Simulation, welche die Verhaltensweise vernetzter Systeme veranschaulichen helfen, sollten unbedingt gefördert werden.

Experimente wagen - Ohne Experimente wird keine Veränderung (Evolution) stattfinden. Wir müssen den Mut haben, auch einmal einen Soziologen in ein Projektteam einzubinden, nicht, damit auch er ein Programm schreibt, sondern damit er seine spezifische Sicht der Dinge in das Team einbringt.

Selbstverständnis überdenken - Dies ist eine Botschaft an das Management. Wir müssen schnellstens Abschied nehmen von einer zentralistisch verstandenen DV/Org.-Abteilung. Koordinieren und stimulieren ist gefragt, nicht dirigieren.

Kybernetische Systementwicklung weiterentwickeln - Dies kann und soll nur ein erster Gedankenanriß sein, der aber deutlich macht, daß es sich lohnen könnte, in dieser Richtung weiterzudenken. Dazu möchte ich auffordern.

Literaturhinweis: H. Skubch, Industriestandard oder Mixed Software, in: Anleitung zu einer praxisorientierte Softwere-Entwicklungsumgebung, AIT, München 1988

F. Vester, Leitmotiv vernetztes Denken, Heyne, München 1988