Business Re-Engineering ist mehr als Prozessoptimierung Jochen Hampe, Senior Consultant, CSC Computer Sciences GmbH, Muenchen

17.12.1993

Schaerfere Konkurrenz und steigende Kundenanforderungen - diese Herausforderungen der 90er Jahre verlangen Qualitaetsverbesserungen bei gleichzeitiger Zeit- und Kostenersparnis. Mit herkoemmlichen Ansaetzen - vereinzelten DV-Rationali-sierungen oder Kostensenkungsprogrammen - lassen sich diese Ziele nicht erreichen. Die Verwirklichung schlanker Ablaeufe und Strukturen zur Schaffung hoher Flexibilitaet erfordert voelliges Umdenken.

Heute geraet zunehmend ins Bewusstsein der Verantwortlichen, dass eine blosse Abbildung der hergebrachten Geschaeftsprozesse auf modernerer IT nicht den erhofften Nutzen bringt. Oftmals greift allerdings auch der Ansatz der reinen Prozessoptimierung zu kurz.

Business Re-Engineering bedeutet fundamentale, IT-gestuetzte Neugestaltung von Geschaeftsprozessen, Organisationsstrukturen, Fuehrungssystemen und Mitarbeiterrollen mit dem Ziel, einschneidende und messbare Leistungsverbesserungen zu erreichen. Um menschliche Ressourcen als wesentliches wertschoepfendes Potential zu aktivieren, muessen ausgehend von der Geschaeftsstrategie saemtliche Aspekte des Unternehmens einschliesslich der gelebten Kultur, sprich des alltaeglichen Mitarbeiterverhaltens, beruecksichtigt und weiterentwickelt werden.

Es reicht nicht aus, bestehende Strukturen und Ablaeufe zu hinterfragen und entlang der kuenftigen Geschaeftsstrategie zu optimieren, denn die Optimierung von Prozessen findet ihre natuerlichen Grenzen in unzureichender Struktur sowie mangelnder Qualifikation oder Motivation der Mitarbeiter.

Beispiel: Ziel eines 1992 in einem Unternehmen durchgefuehrten sechsmonatigen Strategieprojekts war, erhebliche Kosten- und Qualitaetsverbesserungen im Einkauf zu erzielen. Dieser umfasste mehr als die uebliche Beschaffungsfunktion: Der Einkaeufer war verantwortlich fuer den gesamten Prozess von der Sortimentsplanung und -erstellung ueber die Lieferanten- und Artikeleroeffnung, Erst- und Nachdisposition bis hin zur Auftragsabwicklung.

Das Projektteam bestand neben den Beratern aus fuer das Projekt freigestellten Mitarbeitern des mittleren Managements von Einkauf, Organisation und DV. Berichtet wurde einem Lenkungsausschuss aus Mitgliedern des Topmanagements, also der Vorstands- und Direktorenebene.

Das Projekt wurde in drei Phasen durchgefuehrt:

- Ermittlung der physisch messbaren Leistungen im Ist und im Soll sowie Erarbeitung von Strategien zur Neugestaltung des Einkaufs unter Einbeziehung von best practices aus internationalen Erfahrungen;

- detaillierte Ausarbeitung der Konzepte;

- Definition der neuen Geschaeftsarchitektur (Organisation, Hardware, Anwendungssoftware) und der Migrationsstrategien fuer Systeme, Organisation und Mitarbeiterarbeitsplaetze.

Da die Analyse der physischen Leistungsmerkmale ergab, dass der Einkauf weit ueber 50 Prozent der verfuegbaren Zeit mit administrativen Aufgaben verbringt, war primaeres Ziel, die operativen Prozesse zu beschleunigen, um sich mehr auf die wertschoepfenden Taetigkeiten konzentrieren zu koennen. Personaleinsparungen standen nur in angrenzenden Bereichen an.

In der bisherigen Organisation durchliefen saemtliche Geschaeftsvorfaelle - ohne Unterscheidung von Routine- und komplexeren Sonderfaellen - viele Abteilungen und Funktionen mit jeweils entsprechend langer Verweildauer.

Die Vereinfachung und Beschleunigung der Ablaeufe ging von der Praemisse aus, dass zirka 80 Prozent der Geschaeftsvorfaelle vom neuen Einkaeufertypus des Caseworkers ganzheitlich, das heisst ohne Einbeziehung der Experten anderer Abteilungen, zu bearbeiten sind.

Die Realisierung dieser prozessorientierten Arbeitsweise setzt ein neues Rollenverstaendnis der Mitarbeiter voraus, einschliesslich hoeherer Anforderungen an Qualifikation und Verantwortung und neuer Fuehrungssysteme. Dass dies zu einem Motivationsschub fuehrt, zeigte sich an der starken Unterstuetzung des Projekts im Einkauf.

Das in der Rolle des Einkaeufers bereits angelegte Prinzip des Produkt-Managements, also die Integration von Beschaffungs- und Absatzfunktion, galt es im taeglichen Geschaeft durchgaengig und konsequent umzusetzen:

- Die Einkaeufer erhalten im Rahmen der Geschaeftsstrategie unternehmerische Handlungsfreiheit mit Ergebnisverantwortung.

- Die Direktoren nehmen ihre Fuehrungsfunktion in Form des Coachings wahr, statt durch laufende Steuerung und Kontrolle der Einkaeufer.

- Die Einkaufsmitarbeiter bearbeiten 80 Prozent der Geschaeftsvorgaenge ganzheitlich ohne Einbeziehung von Experten anderer Abteilungen.

Ohne IT geht es nicht. Aber statt bestehende Ablaeufe zu automatisieren, kommt ihr in der neuen Organisation die Rolle des Intelligenzverstaerkers zu. IT ist der wesentliche Hebel, Zeit fuer die wertschoepfenden Taetigkeiten (Bedarfsweckung und Sicherung nachfragegerechter Warenverfuegbarkeit) freizusetzen und diese besser zu unterstuetzen.

Wie kann die Vision des neuen Einkaufs schnell und bei laufendem Tagesgeschaeft umgesetzt werden? Die Geschwindigkeit dieses Change- Management-Prozesses ist ein kritischer Erfolgsfaktor, da keinem Unternehmen langandauernde Umstellungen zuzumuten sind. Erfolgsbedin- gung ist das konsequente Vorantreiben durch das Topmanagement. Erfahrungsgemaess werden solche Projekte von den Mitarbeitern unterstuetzt, wenn ihnen die Chance der aktiven Einflussnahme gegeben wird. Dagegen fasst das mittlere Management die Reorganisation eher als bedrohlich auf.

Die Schwierigkeit, neue Geschaeftsprozesse und Organisationsstrukturen, die selber noch detailliert auszuarbeiten sind, auf IT-Systemen abzubilden, ist unter Vermeidung von Risiken durch parallele Entwicklung zu loesen.

Diesen Prozess muessen die Mitarbeiter der Fachabteilung ausgehend von den geschaeftlichen Anforderungen vorantreiben, waehrend die DV- Mitarbeiter das notwendige technische Know-how beisteuern. Dabei werden in einem "Business-Re-Engineering-Labor" auf Basis eines DV-Prototypen in einem iterativen Prozess Organisation und DV- System laufend verfeinert.

Das Business-Re-Engineering-Labor arbeitet im wesentlichen in drei Phasen, deren konkrete Ausgestaltung sich danach unterscheidet, ob Standardsoftware eingesetzt oder Individualsoftware entwickelt wird. Im Anschluss an das Strategieprojekt entwickelte ein fuenfkoepfiges Team innerhalb von drei Monaten aus der neuen Einkaufsstrategie einen Anforderungskatalog und identifizierte aus Kosten- und Effizienzgruenden in Frage kommende Standardsoftware fuer die operativen Einkaufsablaeufe.

In diesem Prozess zeigte sich die Staerke des Laboransatzes gegenueber traditioneller Vorgehensweise: Die Ausgestaltung neuer Geschaeftsprozesse parallel und auf Basis eines DV-Prototypen bot gegenueber der herkoemmlichen abstrakten Erarbeitung den Vorteil groesserer Anschaulichkeit.

Erst dadurch konnte die Fachabteilung wirklich fuehrenden Einfluss erlangen und besser mit den DV-Spezialisten kommunizieren. Es wurden bessere Ergebnisse in wesentlich kuerzerer Zeit und mit weniger Risiko erzielt, da die iterative Arbeitsweise eine laufende Qualitaetssicherung einschliesst.

Dieser Prozess ist kritisch fuer die Erreichung der potentiellen Benefits fuer das Unternehmen: Im Ringen um die Abbildung der einzelnen Geschaeftsvorfaelle, insbesondere die Behandlung der diverse Sonderfaelle, ent-scheidet sich letztlich, wie schlank das Unternehmen wirklich wird.