Projekt Chipsmobil offenbar zu früh gestartet

Bremen ringt mit der SAP-Einführung

30.05.2003
BREMEN (ba) - In der Bremer Verwaltung steckt seit der SAP-Einführung Anfang des Jahres der Wurm. Fehlende oder nicht funktionierende Schnittstellen lassen keine Buchungen im Kassensystem zu und blockieren damit weite Teile der Behörden.

"Meine Mitarbeiterinnen sind teilweise den Tränen nahe", erzählt Karen Buse, Vizepräsidentin des Bremer Amtsgerichts. Immer wieder beschwerten sich Anwälte, die seit Monaten auf Vollstreckungsbescheide warten und die dafür fällige Gebühr längst gezahlt hätten. Die Angestellten des Amtsgerichts müssen diese Beschwerden hilflos über sich ergehen lassen. "Es mag ja sein, dass Sie gezahlt haben, bloß unser IT-System weiß das nicht und gibt deshalb keine Bescheide heraus", versuchen die Beamten die erzürnten Anwälte zu beschwichtigen. Jede einzelne Buchung müsse manuell nachverfolgt werden. Nur kämen die Mitarbeiter gar nicht mehr dazu, weil sie den ganzen Tag am Telefon säßen und Beschwerdeanrufe entgegennähmen, klagt Buse.

Kostenpunkt: 13 Millionen Euro

Als Ursache der Misere nennen die leidtragenden Beamten das neue SAP-R/3-System, mit dem die Finanzbehörden der freien Hansestadt Bremen seit Anfang des Jahres arbeiten. Die Stadt sei das erste Bundesland, das alle Geschäftsprozesse flächendeckend in SAP R/3 abbildet, heißt es in einer offiziellen Erklärung zum Start am 6. Januar dieses Jahres.

Der Startschuss für das Bremer SAP-Projekt "Chipsmobil" fiel jedoch bereits Ende 1997. Damals beschloss der Senat der freien Hansestadt, das bremische Haushalts-, Kassen- und Rechnungswesen (HKR) zu erneuern. Die veralteten Kassenkernverfahren, die seit den 70er Jahren eingesetzt wurden, sowie Teile der Fachverfahren in den verschiedenen Abteilungen der Verwaltung sollten abgelöst werden. Außerdem wollten die Verantwortlichen mit dem SAP-System die Umstellung von der kameralen auf die doppelte Buchführung vorbereiten. 1998 definierten die Projektverantwortlichen aus dem Finanzressort die Anforderungen an das künftige System. Sieger der Ausschreibung, die bis Mitte 1999 lief, wurde die SAP mit ihrer Branchenlösung Industry Solution-Public Sector (IS-PS). Bei der Wahl für die externe Begleitung des Projekts entschieden sich die Bremer für ein Konsortium aus der Signum Dienstleistungs GmbH, der Informations- und Datentechnik (ID) Bremen GmbH, der SAP sowie der damaligen Debis Systemhaus GmbH, die später von T-Systems geschluckt wurde. Bereits im Vorfeld des Projektes hatte T-Systems 49,9 Prozent der Anteile von ID Bremen übernommen. Signum und ID Bremen hatten im Vorfeld der Ausschreibung die Anforderungen der geplanten Lösung anhand eines Prozess- und Funktionsmodells definiert.

Der offizielle Startschuss für Chipsmobil fiel am 2. Mai 2000. Rund 120 Mitarbeiter aus verschiedenen Bereichen der bremischen Verwaltung und dem einführenden Konsortium sollten mit einem Etat von 13 Millionen Euro die Umstellung bewerkstelligen. Als Kernmodule des SAP-Systems wurden das Finanzwesen (FI), Treasury (FI-TR), Controlling (CO), Anlagenbuchhaltung (FI-AA) und Materialwirtschaft (MM) implementiert. Zwischenzeitlich plante das verantwortliche Konsortium das ursprünglich auf drei Jahre angesetzte Projekt um ein Jahr zu verkürzen und bereits Anfang 2002 in den Produktivbetrieb zu gehen. Diese Idee wurde jedoch wieder aufgegeben.

"Da hat man wohl in letzter Sekunde gemerkt, dass das nicht funktioniert", berichtet Lothar Spielhoff, Präsident des Rechnungshofes der freien Hansestadt Bremen. Die Rechnungsprüfer, die das Projekt von Beginn an begleiteten, warnten während der Einführung mehrmals davor, das Vorhaben übereilt abzuschließen. In einer schriftlichen Stellungnahme an Finanzsenator Hartmut Perschau vom November 2002 fasste der Rechnungshof seine Bedenken zusammen. So sei die Übernahme der Daten aus den bestehenden Systemen in die SAP-Umgebung nicht ausreichend getestet worden. Auch die Funktion der Schnittstellen, über die Fachverfahren der Ressorts an das SAP-System angebunden werden, hätten die Verantwortlichen nicht genügend geprüft.

Vor allem bei den Schnittstellen gebe es jetzt Probleme, erläutert Spielhoff. Allerdings könne er bisher erst wenig über die Einführung sagen, da die Projektverantwortlichen dem Rechnungshof entgegen allen Zusagen noch keinen detaillierten Einblick gewährt hätten. Letztendlich gebe es aus seiner Sicht jedoch noch kein einziges Fachverfahren, das reibungslos funktioniere. Die Schwierigkeiten beträfen alle Verwaltungsbereiche, in denen Fachverfahren zum Einsatz kommen.

Die Probleme bekommen in erster Linie die Mitarbeiter in der Bremer Verwaltung zu spüren. Eine Angestellte des Stadtamts, die namentlich nicht genannt werden möchte, berichtet, dass momentan alle Kassendaten, die früher automatisch über eine Schnittstelle an das System der Hauptkasse weitergeleitet wurden, manuell übermittelt werden müssen. Das habe man schon gewusst, bevor die SAP-Software in Betrieb genommen wurde. Bloß über die Auswirkungen sei sich niemand im Klaren gewesen. Man sei wohl davon ausgegangen, die Mängel innerhalb der ersten Wochen des laufenden Betriebs ausräumen zu können. Davon könne heute jedoch keine Rede sein. Ein Ende der Schwierigkeiten sei bislang nicht abzusehen. "Das wird dann auf dem Rücken der Mitarbeiter ausgetragen."

Im Grunde sei alles ganz harmlos, versucht Brigitte Brünjes, Geschäftsführerin von Signum, die Wogen zu glätten. Man habe das Projekt letztendlich termin- und budgetgerecht abschließen können. Sicher gebe es an der einen oder anderen Stelle noch ein paar kleinere Probleme. Diese würden aber gesammelt und der Reihe nach abgearbeitet. Bis Ende Juni soll alles funktionieren, verspricht sie. Auf diesen Termin habe man sich mit der Stadt geeinigt. Den Ärger innerhalb der Verwaltung schiebt Brünjes auf die Veränderungen in der Organisation. Die Mitarbeiter bräuchten Zeit, um sich an das neue System zu gewöhnen. Deshalb sei es nichts Ungewöhnliches, wenn es an manchen Stellen Unmut gebe. "So ist Verwaltungsreform."

Über Probleme mit Schnittstellen ist Brünjes nichts bekannt. Die Schwierigkeiten seien nicht auf mangelnde Funktionalität der Software zurückzuführen. Das sieht Buse vom Amtsgericht anders. Die Projektverantwortlichen hätten erst nach dem Produktivstart des SAP-Systems angefangen, die notwendige Schnittstelle zur Hauptkasse zu programmieren. Die IT-Verantwortlichen für das Altverfahren im Amtsgericht hätten sich dagegen frühzeitig darum gekümmert, ihre Daten SAP-gerecht liefern zu können, versichert sie. Jetzt versuchten die Programmierer in einem Versuch-und-Irrtum-Verfahren, die Probleme auszuräumen, berichtet Buse. "Sie entfernen einen Bug und setzen gleichzeitig den nächsten ins System." Von einem koordinierten Vorgehen könne keine Rede sein. Außerdem gebe es keine vernünftige Dokumentation über die Arbeit. "Und dann gehen die auch noch plötzlich für drei Wochen in Urlaub."

Verwahrfälle machen Ärger

Torsten Koss, verantwortlich für den Bereich Public Sector bei der SAP in Deutschland, versucht die Probleme zu erklären. So hätten die Mitarbeiter in der Verwaltung vor allem mit so genannten Verwahrfällen zu kämpfen. Das seien Zahlungseingänge, die nicht unmittelbar mit einer Forderung verknüpft werden könnten. Diese Posten, die manuell zugeordnet werden müssten, habe es jedoch auch im Altsystem gegeben. Nachdem zu Beginn des Jahres infolge der Umstellung und der Übernahme der Altdaten das System mehrere Tage stillstand, hätten sich mehrere tausend dieser Fälle angesammelt, mit deren Abarbeitung die Verwaltungsangestellten nach wie vor zu kämpfen hätten. SAP selbst sei hauptsächlich während der Planungsphase in das Projekt involviert gewesen, berichtet Koss. Das Interesse der Walldorfer habe sich darauf konzentriert, die Funktionalität der Software sicherzustellen.

Wer übernimmt Verantwortung?

Angesichts der aktuellen Probleme habe sich SAP noch einmal mit den Verantwortlichen des Konsortiums in Verbindung gesetzt, so Koss. Dieses habe zugesichert, die Probleme mit den Schnittstellen seien ausgeräumt. Prozesse liefen weitgehend rund, wo Reibungen aufträten, beobachte man die Dinge sehr genau. Dies lässt sich jedoch nicht bestätigen. Andreas Hipp, einer der Projektverantwortlichen im Bremer Finanzressort, meint lapidar: "Da kann ich nichts zu sagen, fürchte ich." Torsten Rohde, Leiter von Chipsmobil, stand für eine Stellungnahme nicht zur Verfügung. Das sei momentan schwierig wegen zahlreicher Termine, entschuldigt Hipp seinen Chef. Auch von Seiten der ID Bremen und T-Systems gibt es nur ein kurzes Statement: "Ziel ist es, erste Erfahrungen zu nutzen, um das System für den Alltagsbetrieb abzustimmen. Das ist eine übliche Vorgehensweise und deshalb nichts Ungewöhnliches."

Wann diese angeblich nicht ungewöhnlichen Probleme ausgeräumt sein werden, lässt sich bislang nicht sagen. Es werde jedoch nicht innerhalb weniger Wochen zu schaffen sein, prognostiziert Kurt-Arnold Toll, Leiter der Bremer Hauptkasse. Auch Buse vom Amtsgericht wagt keine Vorhersage. Momentan rette man sich von Woche zu Woche. Fristen an die Verantwortlichen von Chipsmobil würden verstreichen, ohne dass etwas geschehe. Wer zuletzt den Kopf für die Probleme hinhalten muss, lässt sich angesichts des dürftigen Informationsflusses noch nicht sagen. Hier werde zurzeit ziemlich gemauert, berichtet Spielhoff vom Bremer Rechnungshof. Es könne durchaus sein, dass die Projektleitung vor einem frühen Start gewarnt habe, letztendlich aber die Politiker entschieden hätten, loszulegen.

Wolfgang Golasowski, Präsident des Landgerichts Bremen und ehemaliger Leiter der ID Bremen, bleibt trotz aller Probleme gelassen. Zwar habe das Landgericht mit den gleichen Schwierigkeiten wie das Amtsgericht zu kämpfen. Dass es an der einen oder anderen Stelle rumpelt, findet er jedoch ganz normal. Immerhin sei das Konsortium rechtzeitig fertig geworden. "Das hört man bei SAP-Einführungen ja auch eher selten."