Anforderungen an SW-Entwickler steigen:

Blauäugigkeit führt zum Tool-Roulette

09.11.1984

Schon seit Jahren werden bei allen Unternehmen DV-unterstützte Informationssysteme entwickelt. Diese Systeme werden nach und nach in den Fachabteilungen eingeführt. Diese sukzessive Vorgehensweise stellt immer höhere Anforderungen an die Integrationsfähigkeit der einzelnen entwickelten Systeme in die entsprechende Systemumgebung. Eine Vielzahl von erwarteten und unerwarteten Abhängigkeiten aus der bereits fortgeschrittenen Integration und die steigende Komplexität der einzelnen Anwendungen sind weitere bestimmende Merkmale.

Hieraus ergeben sich - im Vergleich zu der Situation vor einigen Jahren - für die Mitarbeiter, die an der Entwicklung und Wartung von Informationssystemen beteiligt sind erheblich höhere Anforderungen hinsichtlich der ihnen übertragenen Aufgaben. Um jedoch zu verhindern, daß diese Mehrbelastungen und komplexere Aufgabenstellungen dazu führen, daß die Produktivität beeinträchtigt wird, sind Überlegungen anzustellen, mit welchen Maßnahmen diesen veränderten Rahmenbedingungen Rechnung getragen werden kann. Die zu entwickelnden Maßnahmen unterliegen daher der Zielsetzung, die Produktivität bei der Entwicklung und der Wartung von Informationssystemen langfristig zu erhöhen.

Projektumfeld als Hemmnis

Ausgangspunkt der weiteren Vorgehensweise ist die Überlegung, daß auch die Entwicklung einer SW-Entwicklungsstrategie genau wie jedes andere Projekt angegangen werden muß, das heißt, daß abgeleitet aus einer Ist-Analyse die Schwachstellen bestimmt werden, für die man dann im weiteren Verlauf geeignete Lösungen entwickelt.

Trotz eines in den meisten DV-Abteilungen guten Betriebsklimas und einer großen Kooperationsbereitschaft aller Beteiligten ergibt vielfach die Ist-Analyse, daß die Hauptprobleme und Hemmnisse bei der Systementwicklung mehr im organisatorischen Umfeld der Projekte zu suchen sind und nicht so sehr bei der unzureichenden SW-Unterstützung für die Arbeit der Systementwickler selbst. Unzulängliche Formulierung der Anforderungen, fehlende Integration des Top-Managements und der Fachabteilungen, unzureichende Kenntnisse über die Projektarbeit bei den Fachabteilungen, mangelndes gegenseitiges Verständnis sind einige Merkmale, die diese organisatorischen Rahmenbedingungen beschreiben. Folglich läßt sich daraus ableiten, daß gerade die optimale Gestaltung dieser Projektumwelt neben einer ausreichenden SW-Unterstützung dazu beiträgt, die Produktivität zu erhöhen.

Dieses Ergebnis überrascht bei den meisten Verantwortlichen umso mehr, da diese bislang eher geneigt waren, den Aussagen von SW-Häusern zu glauben, die ja allesamt versprechen, erst durch den Einsatz der von ihnen angebotenen Softwareprodukte lasse sich die Produktivität ausreichend erhöhen. Unternehmen, die allzu "blauäugig" diesen Ratschlägen in der Vergangenheit gefolgt sind, fanden sich sehr schnell wieder in einem regelrechten "Tool-Roulette". Statt der erhofften Produktivitätssteigerung wunderte man sich leider sehr häufig, daß die alten Probleme blieben und neue dazu kamen.

SW-Entwicklung vollzieht sich gleichermaßen in einer spezifisch organisatorischen und in einer spezifisch technischen Umgebung. Alle Maßnahmen sollten daher so ausgerichtet sein, daß zunächst ein organisatorischer Rahmen für die Systementwicklung, gewissermaßen Architektur, festgelegt und eingeführt wird und danach ergänzend die technische Umgebung. Alle anderen Vorgehensweisen bergen die Gefahr, daß man früher oder später in das oben angesprochene "Tool-Roulette" mit allen negativen Begleiterscheinungen gerät.

Diesen Überlegungen folgend ist daher bei der LVM folgende Vorgehensweise entwickelt worden:

1. Stufe:

Festlegung und Einführung der organisatorischen Rahmenbedingungen für die Projektarbeit.

In diesem Schritt wird die Architektur der Projektarbeit für alle Beteiligten (Vorstand, Fachabteilungen, BO, EDV) festgelegt. Dieses beinhaltet die Festschreibung der Aufgaben und Funktionen, der Projektorganisation, der Projektdurchführung (Phasenkonzept), der Vorgehensweise bei der Planung, der Dokumentation und der Qualitätssicherung.

2. Stufe:

Festlegung und Einführung eines Methoden- und Tool-Konzeptes.

Aufbauend auf die organisatorischen Rahmenbedingungen wird ein Methodenkonzept und ein dazu passendes Tool-Konzept festgelegt und eingeführt.

Man kann davon ausgehen, daß sich durch diese Vorgehensweise erreichen läßt, daß für die gesamte Umwelt eines Projektes und insbesondere für die sie bestimmenden Faktoren ein in sich geschlossenes und konsistentes Gesamtkonzept entwickelt und eingeführt wird, welches dann dazu beiträgt, einerseits die Produktivität insgesamt und andererseits die Qualität der Anwendungen selbst wesentlich zu erhöhen.

Reibungsverlust auf Mindestmaß reduzieren

Die Erfahrungen zeigen, daß sich schon nach der Realisierung der Stufe 1 eine Fülle von positiven Effekten einstellt. Es liegen organisatorische Rahmenbedingungen für die Entwicklung von Informationssystemen vor, an die sich alle Beteiligten halten und die dafür sorgen, daß insgesamt mehr Transparenz, gegenseitiges Verständnis und Akzeptanz vorliegen. Auf diese Art und Weise lassen sich Reibungsverluste auf ein Mindestmaß reduzieren und somit die Produktivität des Gesamtsystems erhöhen. Durch die Realisierung der Stufe 2 werden technische Hilfsmittel angeboten, die dann innerhalb der organisatorischen Rahmenbedingungen maschinelle Unterstützung bieten, wodurch sich die Produktivität noch einmal steigern läßt. Insgesamt entsteht auf diese Art und Weise eine organisatorische und technische Gesamtheit, die aufeinander abgestimmt ist und alle bestimmenden Faktoren des SE-Prozesses abdeckt.

Gerade der Bereich der Systementwicklung zeichnet sich durch eine sehr hohe Entwicklungsgeschwindigkeit aus. Organisatorische und technische Rahmenbedingungen ändern sich sehr viel schneller als in anderen Bereichen. Dieser Tatsache muß in der Form Rechnung getragen werden, daß die Gesamtkonzeption dynamisch gestaltet wird, was bedeutet, daß permanent eine Überprüfung an der Praxis stattfinden muß um Abweichungen zwischen dem Soll und dem Ist erkennen und gegebenenfalls Anpassungen durchführen zu können. Es ist daher sicherzustellen, daß in regelmäßigen Abständen eine entsprechende Kontrolle stattfindet. Wir sehen hierin die einzige Möglichkeit, die Akzeptanz und die Praktikabilität und damit auch die erzielten Produktivitätseffekte langfristig zu sichern.

* Wilhelm Schulte ist Methodenberater für Projekt-Management bei dem Landwirtschaftlichen Versicherungsverein (LVM), Münster