Nach dem Mißerfolg des bisherigen Mainframe-Unix

Big Blue übernimmt das Unix der OSF für die /370-Systeme

02.08.1991

*Detlev Borchers ist freier Journalist in Osnabrück und berichtet aus El Cerrito/Kalifornien.

Die IBM wird im September eine Version des Betriebssystems OSF/1 für ihre Mainframe-Architektur /370 vorstellen. Nach Informationen von hochrangigen Mitarbeitern des Entwicklungsprojektes soll das neue Betriebssystem ab Mitte 1992 kommerziell vertrieben werden, nachdem die Konsultationsphase mit bedeutenden Mainframe-Kunden von IBM im Frühjahr 1992 abgelaufen sein soll.

Mit der eingebauten Multiprozessor-Unterstützung und der Fähigkeit zum Einsatz von "Threads" (Teilen eines Anwendungsprogrammes, die unabhängig voneinander auf verschiedenen Prozessoren oder im Netzwerk laufen können) wird OSF/1 für die Mainframes eine deutliche Verbesserung gegenüber dem aktuellen Angebot von AIX/370 darstellen. Das bisherige IBM-Mainframe-Unix leidet bislang unter schlechtem Leistungsverhalten, da es als Task unter VM betrieben wird anstatt im Native-Mode zu laufen.

Allerdings entsteht mit der Ankündigung des neuen Betriebssystems eine neue Quelle der Irritation in bezug auf IBMs schwer durchschaubare Unix-Pläne: Wenngleich OSF/1 für den /370-Großrechner wichtige Teile von AIX 3, dem Betriebssystem der Workstation-Familie RS/6000, enthält, wird sich das neue System dennoch in etlichen Punkten von AIX unterscheiden .

Noch ist vollkommen unklar ob von dem neuen OSF-Betriebssystem eine Version für die RS/6000-Reihe produziert wird und welche Anbindung zu AIX für den Macintosh bestehen soll, die IBM als Teil ihres Abkommens mit Apple angekündigt hat.

Das neue System soll den Posix- und XPG.3-Definitionen für offene Systeme entsprechen und binärkompatibel zu AIX/ 370 sein. Es basiert nach Angaben der Entwickler aus den Kingston Laboratories auf einem Dateisystem, "das völlig kompatibel zu AIX/370 ist und damit direkt alle Daten von diesen Rechnersystemen lesen kann".

Bei der Kommunikation setzt Big Blue auf das TCP/IP Protokoll, als grafische Oberfläche kommt OSF/Motif 1.1 zum Einsatz. Das System wird für die erste Auslieferung die Sicherheitsstufe C-1 nach dem Orange-Book des US Verteidigungsministeriums erhalten. Später soll das Betriebssystem die B-1-Stufe des Sicherheitsstandards erklimmen.

Mit dem neuen OSF/1 für die Mainframes wird IBM optimierte C- und Fortran-Compiler vorstellen, wie sie bereits für MVS und VM im Einsatz sind. Für die Kommunikation setzt das neue System nach Auskunft der Quellen aus Kingston verstärkt auf die RS/6000er Reihe als Front-end für TCP/IP- und X.25-Verbindungen. Die Systemverwaltung soll vom Distributed Management Environment der OSF übernommen werden, dessen Entwicklung gerade begonnen hat.

Bleibt abzuwarten, ob OSF/1 für Mainframes eine größere Nachfrage erzeugen kann als das bisherigen Mainframe-Unix. Die mangelnde Kundenresonanz war in erster Linie den mäßigen Leistungen dieses unter VM laufenden Systems, in zweiter Linie der wenig enthusiastischen Öffnung der Mainframe-Reihe für Unix zuzuschreiben. Bislang zeigte sich IBM eher unwillig, ihre eigenen proprietären Betriebssysteme zugunsten von Unix zu verlassen, muß sich jetzt aber mit der verstärkten Konkurrenz auseinandersetzen. Insbesondere Amdahl mit seinem Unix-Betriebssystem UTS für seine IBM-kompatiblen Mainframes wäre hier zu nennen.

Der für UTS-Mainframe-Unix zuständige Amdahl-Produktmanager Tom Litterdauer war sichtlich bemüht, die neue IBM-Konkurrenz herunterzuspielen: "Dies wäre jetzt das dritte oder vierte Unix, das IBM entwickelt und stillschweigend unter den Tisch fallen läßt."

Nach Auskunft des Amdahl-Managers werde IBM langsam nervös, da sich immer mehr Großkunden sowie Behörden und die Telefongesellschaften von MVS abwenden und für Unix entschieden. "IBM möchte zwar ein profundes Unix-Wissen aus der Tasche zaubern können", so Litterdauer, "aber es gibt immer noch so etwas wie eine Kulturschranke zwischen den Systemen: IBM wird MVS so Unix-fähig wie möglich gestalten und vielleicht sogar ein Posix-konformes MVS entwickeln, aber ihren proprietären Ansatz nicht aufgeben."

Angesichts des sinkenden Anteils der Großrechner am Computermarkt bleibt allerdings abzuwarten, ob sich ein lukrativer Markt für Mainframe-Unix entwickeln kann. Nach den Zahlen von Dataquest machen die Mainframes heute einen Anteil von 29 Prozent am gesamten Computermarkt aus, während sie 1986 noch 34 Prozent besaßen. Auch in absoluten Zahlen sinkt der Anteil der großen Systeme. Die kalifornische Computer Intelligence ermittelte in den USA für 1990 nur noch 25 391 IBM-Mainframes und 1495 Plug-Kompatible. Im Vorjahr wurden noch 25 636 IBM-Systeme und 1633 kompatible Maschinen eingesetzt. Damit ist erstmals die Anzahl der installierten Großrechner gesunken.

Insgesamt wird dem Unix-Betriebssystem auf Mainframes eine immer größere Bedeutung prognostiziert. So arbeitet neben der IBM und Amdahl auch Hitachi an einer entsprechenden OSF/1-Version. Großkunden mit ihren Plänen für eine offene Systemumgebung gehen überdies mehr und mehr dazu über, kleinere Mainframes abzulösen und ihre Dienste in größere Mainframes zu integrieren, für die dann die Unix-Alternative gesucht wird.