Bangemann-Bericht weckt Hoffnungen bei Mittelstaendlern Im geoeffneten TK-Markt gibt es Spielraum fuer Anwendungen

21.10.1994

MUENCHEN (jha) - Europas Weg in die Informationsgesellschaft ist steinig, aber nicht unpassierbar: Die Hindernisse fuer die Entwicklung des Wachstumsmarkts Telekommunikation sind die starren TK-Monopole, zu deren Abbau die Buerokraten in Bruessel derzeit nur behaebig beitragen. Zum Bulldozer, der den Weg ebnet, soll der Bangemann-Bericht werden - so die Hoffnung vieler Referenten des BVB-Forums Telekommunikation .

Annaehernd 70 Teilnehmer, ueberwiegend aus kleinen und mittelstaendischen Unternehmen, diskutierten auf einem Telekommunikationsforum des Bundesverbands Buero- und Informations- Systeme e.V. (BVB) in Muenchen ueber den Wandel der Industrie- in eine Informationsgesellschaft. Grosse Erwartungen, so der Tenor der Veranstaltung, setzen die Manager aus der Industrie in den Bangemann-Bericht, mit dem die Alte Welt eine Antwort auf die Arbeitslosigkeit und die abnehmende Wettbewerbsfaehigkeit geben koennen soll.

Der Bericht, der die transeuropaeische Infrastruktur behandelt, also Verkehrswege, Energieversorgung und die Telekommunikation, liefert fuer die TK-Industrie konkrete Vorschlaege: Der Wandel zur Informationsgesellschaft wird demnach von der Privatindustrie getragen, die Regierungen verantworten lediglich das positive Umfeld. Oeffentliche Gelder gibt es nur fuer Pilotprojekte, um neue Techniken anzuschieben. Erforderlich fuer die rasche Entwicklung des Marktes ist eine beschleunigte Liberalisierung der Telekommunikation, zudem fordert der Bericht ein einheitliches Regelwerk fuer geistiges Eigentumsrecht, Datenschutz, Datensicherheit und das Medienrecht.

Die Vorschlaege des Bangemann-Berichts sind nicht neu. Die hohen Erwartungen resultieren aus der Tatsache, dass erstmals eine EU- Stelle ein Konzept hervorgebracht hat, das einen konkreten Weg in das Informationszeitalter weist. "Der Bangemann-Bericht ist kein Eurokraten-Papier", urteilt Helmut Woerner, Geschaeftsfuehrer der Controlware GmbH, Dietzenbach, "sondern aus der Wirtschaft entstanden und von ihr getragen. Er ist realistisch." Doch bis seine Forderungen zur Realitaet werden, steht dem Papier noch ein langer Weg durch die Instanzen bevor.

"Es braucht einen Lokfuehrer, ein grosses Unternehmen aus der Industrie, damit es nicht in der europaeischen Buerokratie erstickt", appellierte Woerner angesichts des EU-Behoerdendschungels an die Zuhoererschaft.

Einer der grossen europaeischen Konzerne, der die geforderte Rolle uebernehmen koennte, ist Siemens. Der deutsche Elektroriese gefaellt sich derzeit jedoch in der Rolle als Soft- und Hardwarelieferant fuer Diensteanbieter. Ueber sein Engagement mit Hard- und Software hat Siemens Zugang zum Markt der Systemintegratoren und der Outsourcing-Anbieter und damit zum Dienstleistungsbereich gefunden. Dort wollen die Muenchner ihre Anteile ausbauen und international so flexibel sein, auf den jeweils guenstigsten Carrier zurueckgreifen zu koennen.

Siemens fordert Fairness gegenueber der Telekom

Bei der Liberalisierung des TK-Marktes vertritt Siemens eine eher gemaessigte Position, bietet sich vielleicht auch deshalb nicht als der von Woerner geforderte Leithammel an. "Information wird zu einem zentralen Faktor der Wertschoepfung; wenn dieses Bewusstsein fehlt, werden wir den Wettbewerb verlieren", sagte Peter Michael Asam, Direktor der wirtschaftspolitischen Abteilung bei der Siemens AG. "Die Liberalisierung des Marktes ist unabdingbar, allerdings darf sie nur zu fairen Chancen fuer die Telekom durchgefuehrt werden", daempfte er die Hoffnungen auf eine schnelle und unkomplizierte Loesung des Problems. Den Einwand aus dem Auditorium, die Telekom verfuege ueber ein Netz wie kein zweiter Wettbewerber und habe somit einen enormen Vorsprung, konterte Asam mit dem Hinweis auf die personelle Stuktur des Carriers: "Die Telekom schleppt Altlasten wie den Beamtenapperat mit sich, das darf nicht ignoriert werden."

Anwendungen fuer den neuen Markt hat der Konzern bereits im Auge, etwa City-Informationsnetze fuer Kommunen: Staedte und Gemeinden koennten nach Vorstellung Asams lokale Nachrichten ueber innerstaedtische Verwaltungsangelegenheiten via Fernsehen in die Haushalte bringen. Aenderungen bei der Muellabfuhr, Oeffnungszeiten der Meldebehoerde oder Termine der Ratssitzungen koennten die Buerger am Bildschirm erfahren. Besonders Philips engagiert sich in diesem Bereich, natuerlich nicht ohne Eigennutz, so Asam: Ein City- Informationsnetz benoetigt intelligente Fernseher, ein Markt, auf dem die Niederlaender aktiv sind.

Die Infrastruktur fuer diese Art von Anwendungen ist da, so Wirtschaftsfachmann Asam: "In Deutschland sind viele Staedte an das Kabelfernsehen angebunden, diese Netze sind nur leider nicht zugaenglich."

Herbert Gerber, Bereichsleiter Geschaeftskunden bei der Deutschen Bundespost Telekom und - wie er selber ausfuehrte - ebenfalls eine der Altlasten des TK-Konzerns, stimmt dem voll zu: "Japan und die USA planen noch, doch in Deutschland sind leistungsstarke Netze bereits vorhanden." Der Daten-Highway in den USA ist bisher vor allem Sache der Baby Bells, eine landesweite Verbindung gibt es laut Gerber noch nicht. Im ganzen Land werden in den naechsten Jahren etwa 500 Milliarden Dollar fuer die Infrastruktur der Datenautobahn aufgewendet werden, Japan hat ein Budget von rund 850 Milliarden Mark fuer ein superschnelles Datennetz vorgesehen. In Europa duerften die Investitionen nach Einschaetzung Gerbers eine aehnliche Groessenordnung haben.

In vier Jahren wird Datex-M von ATM abgeloest

Ein Teil des Geldes ist bereits in Datex-M, den neuen Hochgeschwindigkeitsdienst der Telekom, gesteckt worden. Gerber, Mitarbeiter in der fuer den Service zustaendigen Abteilung, glaubt jedoch nur an eine kurze Marktpraesenz von Datex-M. Seit April ist der Dienst im Angebot der Telekom, in drei bis vier Jahren wird er nach Meinung des Bereichsleiters vermutlich von ATM-Netzen abgeloest. Waehrend dieses kurzen Zeitfensters konzentriert sich der Bonner Carrier auf eine sehr begrenzte Klientel. Nur fuer Unternehmen mit mindestens drei oder vier Standorten in Deutschland und mit einem starken Datenverkehr zwischen den Niederlassungen rechnet sich der Dienst. Die Zielgruppe beschraenkt sich, so Gerber, auf 120 bis 150 Unternehmen.

Einen sehr viel groesseren Markt dagegen hat Bernhard Roos, Geschaeftsfuehrer der Profile Software Engineering GmbH in Muenchen, entdeckt: EDI in kleineren und mittleren Unternehmen. "Dort steckt noch ein unheimliches Markt- und Rationalisierungspotential", schwaermte Roos. Die Erweiterung der EDI-Kundschaft auf die anvisierte Zielgruppe bedarf jedoch strikter Normierungen. Kleine Unternehmen, die von ihren drei oder vier grossen Kunden zum Einsatz einer elektronischen Formularbearbeitung aufgefordert werden, haben nicht das Potential, fuer jeden Kunden ein eigenes System zu unterhalten.

"Die Anschaffung solcher Systeme ist nicht das Problem", so der Geschaeftsfuehrer, "aber die mit der Bedienung verbundenen Personalkosten schlagen fuer diese Firmen uebermaessig zu Buche." Der Wille des Mittelstandes, sich auf den Weg in die Informationsgesellschaft zu begeben, ist da. Voraussetzung dafuer sind Standards und Wettbewerb im TK-Markt, um preiswerte Netze zur Verfuegung zu stellen. Ansatzpunkte, so Roos, gibt es mit Normen wie X.400, ODA/ODIF und Edifact, um dem Mittelstand das Rationalisierungspotential von EDI nutzbar zu machen.

Das ewig junge Streitthema Normung ist auch fuer Siemens- Abteilungsdirektor Asam ein draengendes Problem im Hinblick auf die prognostizierte Informationsgesellschaft. Allerdings betreffen seine Standardisierungsbemuehungen nicht den EDI-Markt, sondern die Zukunftstechnologie der Verkehrsleitsysteme. "Bei der Entwicklung von Standards fuer diese Technik muessen die ostasiatischen Staaten mit am Tisch sitzen", fordert Asam. Basierend auf der Marktmacht der EU und der bevoelkerungsstarken Tiger-Staaten in Fernost, koennten diese Standards, so die Hoffnung des Siemens-Managers, in den japanischen und amerikanischen Markt vordringen.

Das Potential des Bereichs Strassenverkehrs-Management hat jedoch nicht nur Siemens erkannt. Wolfgang Faust, Bereichsleiter Telekommunikation bei der PSI AG in Augsburg, berichtet von der Pilotstrecke Koeln-Bonn, auf der automatische Systeme fuer die Mauterfassung getestet werden. Zwei von insgesamt acht Loesungen basieren auf GSM-Netzen. Die Telekommunikation und die Vernetzungstechnik liessen sich zudem dafuer verwenden, den Verkehr auf umweltfreundliche Alternativen zu verlagern und einzuschraenken.

Ein weiterer Ansatz, den taeglichen Berufsverkehr einzudaemmen, ist das Teleworking. IBM kann dabei auf Erfahrungen in Frankreich verweisen. Dort sparte Big Blue rund 100 Millionen Mark ein, indem der Konzern Mitarbeiter zu Hause arbeiten und via Telematikdiensten mit den Kollegen kommunizieren laesst. "Das groesste Hindernis fuer das Teleworking", schraenkt Gerd Kirchhoff von der IBM Europe ein, "ist das mittlere Management, das sich nur schwer damit abfindet, etwas zu managen, das nicht physisch da ist."

Teleworking ist eines von zehn Anwendungsbeispielen, die der Bangemann-Bericht aufzaehlt. Preiswerte schnellere Netze sind die Basis derartiger neuer Technologien und Organistionsstrukturen. Unternehmen wie Unisource und CNI stehen auf diesem Markt bereit, den staatlichen Carriern die Stirn zu bieten. Die privaten Telekom-Konkurrenten scharren bereits ihre Startloecher fuer den Wettlauf im liberalisierten TK-Markt - angespornt durch den Bericht des EU-Kommissars Martin Bangemann.