Als Rationalisierungspotential längst erkannt, doch:

Automatisierte Textverarbeitung noch immer Stiefkind der DV

27.06.1980

MÜNCHEN - Auf EDV-Kongressen und Tagungen der letzten Jahre wurde vielfach die Textverarbeitung als das EDV-Thema der 80er Jahre apostrophiert. Mit Recht, denn vor allem bei Banken und Versicherungen gehört die Korrespondenz seit jeher zur "Massenproduktion". Trotzdem ist der Schriftverkehr bis heute in vielen Unternehmen der einzige Bereich, der noch nicht adäquat über die Datenverarbeitung abgewickelt wird.

Bei größeren Versicherungsunternehmen verlassen zur Zeit mehr als 10 000 Briefe und Schreiben pro Tag das Unternehmen, von denen der größte Teil oft noch individuell per Schreibmaschine oder mit Textverarbeitungsmaschinen der Kategorie "programmierte Textverarbeitung (PTV) geschrieben wurde.

Wird dieses bedeutende Rationalisierungspotential von den EDV-Leuten übersehen? Ich meine, nein, denn die Realisierung automatisch geschriebener Korrespondenz über den Computer (CTV) beinhaltet - aus EDV-Sicht gesehen - einige gravierende Spezialprobleme, die erst gelöst sein wollen. Folgende seien hier genannt:

Vielschichtiges TV-Problem

Nicht die EDV-Lösung, sondern die betriebsorganisatorische Gestaltung des Umfeldes der Textverarbeitung und die "Sisyphusarbeit" von Spezialisten aus den Fachbereichen bei Korrespondenzanalyse und Entwicklung von wirklich verwendbaren Texten und Briefen sind entscheidend. Nur des Zusammenwirken von EDV-Spezialisten, Betriebsorganisatoren und Benutzern kann hier Fortschritte bringen. Dies ist bekanntlich auch heute noch keine Selbstverständlichkeit. Aber gerade auf dem Sektor Textverarbeitung muß der entscheidende Teil der Entwicklungsarbeit (vor allem die Realisierung) aus den Fachbereichen kommen. Die EDV-Seite kann nur den Service bieten. Dabei ist allein schon die Auswahl der Fachbereichsmitarbeiter für eine solche Entwicklung ein Problem. Erfahrungen in der PTV, wenn man diese als Vorstufe zur CTV ansieht, zeigen die Problematik deutlich: Anfängliche Einsatzraten von Textbausteinen und Ganzbriefen über PTV von nur 10 bis 20 Prozent aller Fälle, trotz scheinbar optimal gestalteter Texte und Verfahren, zeigen den Einfluß, den das Engagement der Fachbereiche bei Entwicklung und Realisierung derartiger Systeme hat. Der Erfolg von PTV-Verfahren stand und fiel mit der Benutzerfreundlichkeit, aber auch mit der Ablauforganisation.

CTV-Software

Computerhersteller tun sich enorm schwer, leistungsfähige Textverarbeitungssoftware für EDV-Anlagen zu entwickeln und bereitzustellen. Dies liegt sicher nicht in der Unterschätzung der Bedeutung von TV-Systemen. Daß Textverarbeitungssoftware über die Entwicklung von Kompositionshilfen (Briefaufbau, Zeilenverschiebung, Silbentrennung, Fehlerkorrektur) nicht hinausgeht, liegt in erster Linie an der unternehmensindividuellen Problemstellung der Textverarbeitung. So sind CTV-Systeme wie "Texid" oder "Hecos" zumindest Entwicklungen, die nur für das eigene Unternehmen gedacht und dafür konzipiert sind.

Drucktechnik

Die Qualität des Schriftbildes von EDV-Schnelldruckern war nicht selten ausschlaggebend dafür, an Kunden gehende Korrespondenz aus optischen Gründen nicht über den Computer zu erstellen. Hier hat die neuere Drucktechnik (etwa Tintenstrahldrucker oder Drucker auf chemischer Basis) jedoch entscheidende Verbesserungen gebracht.

Das alleinige Aufrufen von gespeicherten Texten und deren Ausdruck auf Schnelldruckern, macht die Benutzung von EDV-Anlagen für Korrespondenz nicht unbedingt attraktiver. Spezialisierte Textmaschinen der PTV können dies genauso gut, oft billiger und zum Teil flexibler in der Anwendung. Erst die Nutzung des Informationspotentials einer realisierten integrierten Datenbank macht die CTV attraktiver und auch wirtschaftlicher. Für die Korrespondenz über PTV muß der Sachbearbeiter Daten ermitteln und vorgeben, wie etwa Name und Adresse des Empfängers, nebst Zahlen und Fakten aus dem Geschäftsvorfall. Können diese automatisch per Programm aus gespeicherten Daten abgerufen werden, damit man Berechnungen anstellen und Daten sowie Ergebnisse mit den Texten zusammenfügen kann, ist nicht nur die Tätigkeit der Schreibkraft, sondern auch die Zeit des Sachbearbeiters eingespart worden.

Systeme dieser Art bringen erst die eigentliche Wirtschaftlichkeit der CTV im Vergleich etwa zur PTV. Sie erfordern jedoch sehr aufwendige EDV-Anwendungssysteme und setzen die Existenz von Datenbanken und sinnvollerweise auch den Bildschirm als Arbeitsinstrument am Sachbearbeiterplatz voraus. Diese Forderung können viele EDV-Anwender erst in jüngster Zeit - viele auch nicht einmal annähernd - in notwendigem Umfang erfüllen.

Vorgangsbezogene CTV

Die (vorerst) höchste Entwicklungsstufe scheint zu sein, Korrespondenz vollautomatisch ohne Zutun des Sachbearbeiters zu erstellen. Dies ist dann möglich, wenn der Sachbearbeiter Geschäftsvorfälle bearbeitet, die ihn zur Eingabe von Daten über den Bildschirm im Dialog-Betrieb zwingen. Dieses Daten dienen primär zur Aufnahme oder Veränderungen in der Datenbank (DB-Update: zum Beispiel Änderung eines KFZ-Versicherungsvertrages). Gleichzeitig werden die Daten per Programm analysiert, interpretiert und parallel zur Bestandsveränderung wird ein entsprechender Brief aus Texten und Daten zusammengefügt. Dieser Brief wird direkt an den Kunden abgesandt - ohne jegliche Aktivität des Sachbearbeiters, der von diesem Schriftstück meist noch nicht einmal eine Kopie erhält. Auch die Dokumentation des Schriftstückes wird automatisch zum Beispiel über COM erledigt und spart manuelle Registratur.

Die Entwicklung solcher EDV-Systeme ist jedoch aufgrund deren Komplexität (Interpretation der Daten per Programm, große Anzahl der Alternativen, Sicherheit) derart aufwendig daß nur bei großem Mengenvolumen der immense Aufwand bei der Entwicklung wirtschaftlich ist. Abgesehen vom Einsatz hochqualifizierter Fachspezialisten, der für solche Entwicklungen wohl zwingend erforderlich ist. Gesamtentwicklungszeiträume (über mehrere Stufen) von bis zu zehn Jahren sind sicher nicht zu hoch gegriffen, außerdem gilt natürlich auch hier die Voraussetzung einer existierenden Datenbank sowie des Bildschirmbetriebes. Erfolgreiche Realisierungen auf diesem Gebiet, wie etwa die Allianz Lebensversicherung in Stuttgart, haben bisher nur wenige Unternehmen vorzuweisen.

Ich glaube, daß sich mehr und mehr Rationalisierungsfachleute - aber auch EDV-Spezialisten - mit dem Thema Textverarbeitung ernsthaft auseinandersetzen werden. Die darin liegenden Rationalisierungsmöglichkeiten scheinen heute weitgehend erkannt zu sein. Aber auch die hohe Komplexität des Problems, die letztendlich die Schaffung wirklich leistungsfähiger "intelligenter Anwendungssysteme" voraussetzt sowie enorme Entwicklungsinvestitionen bringen es mit sich, daß "wirklich" umfassende CTV-Lösungen, integriert in ein Datenbank-Gesamtkonzept, bei den meisten EDV-Anwendern noch tief bis in die 80er Jahre auf sich warten lassen.

Dr. Peter Naumann ist Abteilungsdirektor Systementwicklung bei den R+V - Versicherungen in Wiesbaden.