Aus Datensammelsystemen werden dezentrale Mehrzwecksysteme\

16.06.1978

Dipl.-Math. Jürgen Kettler Leiter des Hochschul-Rechenzentrums der Universität Bayreuth

Von Datensammelsystemen wird im Vertrieb der einschlägigen Hersteller kaum noch gesprochen. Auf der Welle des Distributed Processing sind diese Systeme innerhalb der letzten zwei Jahre dabei, in den Produktbereich der spezialisierten dezentralen Mehrzwecksysteme vorzustoßen. In der Gesellschaft weiterentwickelter Bürocomputer und der Konkurrenz im unteren Leistungsbereich der Mainframe-Hersteller sind diesen Systemen wegen ihrer Flexibilität und leichten Programmierbarkeit und aufgrund der besonderen Erfahrungen im Bereich des "Stiefkindes" Datenerfassung auch als stand-alone Systeme große Zukunftschancen einzuräumen. In vielen Fällen sind dezentrale Mehrzwecksysteme hinsichtlich Wirtschaftlichkeit und Effizienz zentralen online-Applikationen überlegen oder bilden eine sinnvolle Ergänzung zu vorhandenen Anwendungen. Insbesondere bei Banken, Versicherungen oder bei stark regional gefächerten Handelsunternehmen bietet sich ihre Verwendung zum Aufbau von Datennetzen an.

Der Hersteller-Vergleich zeigt in etwa übereinstimmende Zielsetzungen. Es ist jedoch offensichtlich, daß in einigen Fällen das Marketing den tatsächlichen Möglichkeiten erheblich voraus ist. Es zeigt sich ebenfalls, daß sich durch das breitere Einsatzspektrum herkömmlicher Datensammelsysteme bei einigen Herstellern Überschneidungen in der Produktpalette ergeben. Die rasante Weiterentwicklung der Datensammelsysteme darf jedoch über folgende Punkte nicht hinwegtäuschen:

þDie organisatorische Durchdringung von Datenerfassungs-Problemen gehört noch viel zu selten zum Repertoire von DV-Organisatoren. Der erste Schritt zur Ablösung der Lochsäle ist häufig immer noch nicht getan worden, weil andere Probleme wichtiger schienen.

þDezentrale Mehrzwecksysteme sind keine Wunderrechner. Es werden viele Funktionen angeboten, die in der Regel nicht alle auf einmal und in maximalem Umfang realisierbar sind. Diese Systeme sollen in der Regel schrittweise auf- und ausgebaut werden.

þDie erfolgreiche Implementierung von "intelligenten" dezentralen Anwendungen setzt organisatorisches Fingerspitzengefühl und einen gehörigen Schuß Pragmatismus voraus. Verchromte online-Lösungen auf dezentralen Mehrzweckrechnern stellen sich häufig als schwer durchführbar und bei näherem Hinsehen als nicht in vollem Umfang erforderlich heraus.

Alle betrachteten Datensammelsystem-Hersteller beabsichtigen, folgende Funktionen mehr oder weniger ausgeprägt mit ihren Systemen simultan abzudecken:

- Sammeln von Daten; Massen-Datenerfassung und intelligente Sachbearbeiter-Datenerfassung

- lokale Dateiverwaltung; Abfrage und Pflege von erfaßten oder auf das dezentrale System übertragenen Datenbeständen

- Datenfernübertragung beziehungsweise Remote-Job-Entry-Funktion; Kompatibilität zu möglichst vielen Herstellern und Prozeduren

- Vorverarbeitungsfunktionen etwa SORT/MERGE, Umformatierung von Daten, Druck, beliebige lokale Datentransfers

- interaktive Datenübertragung zum zentralen IBM-Rechner; Simulation der Datensichtstation IBM 3270, nach Möglichkeit sogar im Datenerfassungs-Modus des dezentralen Systems ansprechbar

- Datenverarbeitung im Background, wie Lagerbestandsverwaltung, Fakturierung, Auftragsbearbeitung; hierzu gehören in der Regel Kompiler für höhere Programmiersprachen

neben den typischen Programmgeneratoren für Eingabeformate - Hinzunahme spezieller Anwendungen, stand-alone oder simultan, beispielsweise Textverarbeitung, Programmentwicklung für den Zentralrechner, Betriebsdatenerfassung.

Bei der Architektur der betrachteten erweiterten Datensammelsysteme sind interessante Trends festzustellen. Die Mehrbelastung durch Übernahme von zusätzlichen Funktionen kann zum einen durch Dezentralisierung innerhalb des Vorverarbeitungssystemes ermöglicht werden. Hierbei kann, begünstigt durch die Entwicklung der Mikroprozessoren, Intelligenz in die einzelnen Sachbearbeiter-Plätze verlagert werden. Diese Plätze, zusammen mit Mehrplatz-Systemen, können zu einem Verbund mit zentral verwalteten Ressourcen zusammengeschlossen werden, der wiederum mit dem Zentralrechner verbunden sein kann. Dem steht die Tendenz gegenüber, der Zentrale des Vorverarbeitungssystems durch leistungsfähigere oder zusätzliche CPU's und Vergrößerung des Hauptspeichers mehr Leistung zu verschaffen.

Bei einigen Herstellern ist die Tendenz zur Schaffung stark kompatibler Familien von Mehrfunktionsrechnern festzustellen. Kompatible Geräte und Software kommen dem Bedürfnis , der Anwender entgegen, das System der Datenvorverarbeitung ohne Bruch bei der Übernahme zusätzlicher Funktionen oder Anwendungen organisch wachsen zu lassen. Andere Hersteller dagegen bieten gezielt weitgehend imkompatible Teilfunktions-orientierte Systeme an.

Die Massenspeicher-Kapazität, ein früher Engpaß bei den Datensammelsystemen, genügt mit einem breiten Angebotsfächer von Diskettenlaufwerken bis hin zu einer Maximalkapazität von mehreren Hundert Megabyte den Anforderungen durch den Mehrfunktions-System.

Einige Hersteller haben das Feld der Datensammelsysteme bereits wieder verlassen, andere haben ihr vorhandenes dediziertes System eingefroren. In die Gruppe der auf Datenerfassung spezialisierten Mehrzwecksysteme stoßen jedoch zunehmend Hersteller aus anderen Schwerpunkt-Anwendungen wie RJE, technisch-orientierter Datenverarbeitung oder Mittlerer Datentechnik. Der Markt ist dadurch für den Anwender nicht kleiner, sondern schillernder und verwirrender geworden - ein Vergleich der Angebote, um für ein aktuelles Problem eine passende Lösung zu finden, bedarf daher mehr denn je der Sachkunde auf dem Gebiet der dezentralen Datenerfassung- und -vorverarbeitung.