IT in Versicherungen/

Archivsysteme noch vor dem Durchbruch

21.11.1997

Als einer der Vorreiter in der Versicherungsbranche trieb der Deutsche Herold die elektronische Dokumentenverarbeitung und Archivierung voran. Die Versicherungsgruppe der Deutschen Bank hat vom Start des ersten Pilotprojekts am 1. Oktober 1992 bis heute insgesamt 550 PC-Arbeitsplätze an ihr "Dokumenten-Retrieval-&-Workflow-System" angeschlossen. Die Post der Hauptverwaltung, rund 50000 Seiten pro Tag, wird heute über ein "Routing-System" durch das Haus geschleust, am Bildschirm bearbeitet und auf optoelektronischen Platten gespeichert.

Fachgebietsleiter Raphael Lamskemper berichtet, daß sich die Durchlaufzeit der einzelnen "Geschäftsvorfälle" mit dem neuen System um 80 Prozent reduziert habe. Das sei nicht nur eine Behauptung, sondern "nachgestoppt und bewiesen", so der DV-Spezialist. Darüber hinaus habe der Deutsche Herold Ziele wie Personaleinsparungen, Kostensenkungen und einen besseren Kundenservice verwirklicht.

Die technische Lösung, die der Herold einsetzt, beruht auf einer Software von Filenet für das Imaging, die Verarbeitung gescannter Originaldokumente sowie hauseigener Schreiben, die sich aus Briefformular, Textbausteinen und Adressen zusammensetzen. Das Dokumenten-Management-System wurde von dem Softwarehaus Bonndata individuell für den Herold programmiert.

Das Beispiel des Deutschen Herold macht in der Versicherungsbranche Schule. Die Allianz Lebensversicherung, die Alte Leipziger, die Nürnberger Lebensversicherung, die Hamburg Mannheimer sowie die Badenia setzen Systeme von Filenet ein - ein Unternehmen, das 1996 international in der Versicherungsbranche bereits 28 Prozent seines Umsatzes erwirtschaftete. Doch Filenet ist mittlerweile nicht mehr unangefochten.

Derzeit erstarkt die Konkurrenz, die weitaus preisgünstigere Lösungen offeriert. Allein in Deutschland haben sich etwa 300 Softwarehäuser auf Workflow- und Archivierungssysteme spezialisiert. Nur ein knappes Dutzend davon konnte jedoch bislang in der Versicherungsbranche mit Dokumenten-Management-Lösungen Fuß fassen.

Die Itzehoer Versicherung, die Oldenburg-Uelzener Tierkrankenversicherung, die Lederindustrie-Berufsgenossenschaft als gesetzliche Unfallversicherung und die Union Krankenversicherung entschieden sich für die Firma SER, die für den Workflow das Programm Vita und für die Archivierung Ita programmiert hat. Der Konkurrent Computer Equipment (CE) überzeugte als ersten Kunden in der Branche die kleine Vorsorge-Lebensversicherung, die Debeka testet gegenwärtig "CE-Archiv". Die ARAG-Rechtsschutz-Versicherung ist Kunde bei Data General, die Nürnberger Allgemeine nutzt für ihre Kfz-Versicherung "Image Plus" von IBM.

Zwei entgegengesetzte Vorgehensweisen

Obwohl in der Branche angesichts der Rationalisierungspotentiale beinahe schon Goldgräberstimmung aufgekommen ist, legen keineswegs alle Unternehmen ihre Papiere ins elektronische Archiv. So teilte die Versicherungskammer Bayern zum Thema Dokumenten-Management mit: "Im Hause sind derzeit keine solchen Systeme im Einsatz." Auch die große Mehrheit der Berufsgenossenschaften ist noch nicht bereit, ihre DV zu renovieren, zumal bereits astronomische Summen in Großrechner und Bildschirmarbeitsplätze gesteckt wurden. Das "papierlose Büro" eignet sich auch nicht für sämtliche Aufgabenfelder. Bei umfangreichen Einzelakten mit seitenlangen Gutachten und ausufernder Korrespondenz, etwa in der Unfallsachbearbeitung, wird das Studium der Dokumente am Bildschirm schnell zu einem lästigen Hindernislauf.

Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) erhebt zwar Daten zur Informationsverarbeitung in der Branche (siehe Kasten), erkundigt sich jedoch nicht speziell nach dem Dokumenten-Management.

Fred Chiachiarella, beim GDV Leiter des betriebswirtschaftlichen Instituts, ist allerdings überzeugt, daß sich das Dokumenten-Management in der Branche durchsetzen wird: "Wir können uns nicht wehren, moderne Prozeßabläufe zu nutzen." Für Chiachiarella überwiegen die Vorteile. Die neuen Systeme erhöhten die Durchlaufgeschwindigkeit und die Qualität der Arbeit, die in der Versicherung immer komplizierter geworden sei.

Die Angst vor Stellenstreichungen sei unbegründet. Zwar würden Arbeitsplätze abgebaut, beispielsweise der Aktenbote, aber gleichzeitig neue Stellen geschaffen, etwa in der DV-Abteilung. Chiachiarella kennt kein Versicherungsunternehmen, das nach Einführung der neuen Technik Mitarbeiter in größerer Zahl entlassen hätte. Durch den Aufbau von Call-Center würden die Versicherungen zusätzliche Arbeitsplätze schaffen.

So unterschiedlich wie die Versicherungsunternehmen sind auch ihre Systemlösungen. Eine Reihe von Modulen läßt sich je nach Bedarf miteinander verknüpfen. Herzstück ist die Software für das "Document-Imaging". Sie regelt die Speicherung und Wiederauffindung der gescannten Abbilder von Originaldokumenten. Das sogenannte Computer-Output-to-Laser-Disk-(COLD-)Modul sorgt dagegen für die Archivierung und den Zugang zu Daten, die am Computer erzeugt wurden und automatisch zu speichern sind. Hinzu kommt die Workflow- und Routing-Software, die den Arbeitsfluß bestimmt und elektronische Post verteilt.

Bei der Einführung des Dokumenten-Managements gibt es zwei diametral entgegengesetzte Vorgehensweisen. Lamskemper plädiert dafür, zuerst die Geschäftsprozesse zu reorganisieren und dann erst ihre technische Steuerung zu programmieren. Sein Motto: "Organisation vor Technik." Andere beginnen mit einer Teillösung, der elektronischen Archivierung, ergänzen dann die Organisationsreform und setzen sie mit Workflow-Systemen um.

Die Sparkassenversicherung in Dresden hat mit dieser Strategie "grundsätzlich gute Erfahrungen" gemacht, so der stellvertretende Leiter der DV-Abteilung Jens-Uwe Kramer. In einem Pilotprojekt testete die Sparte Lebensversicherung mit rund 20 Mitarbeitern das Archivierungssystem von SER. Zuerst elektronisch archivieren, später den Workflow ergänzen - das ist für Kramer die richtige Reihenfolge. Für den DV-Fachmann war es schon ein "gewagter Schritt", gleichzeitig die Digitalisierung des Posteingangs und die automatische Archivierung der auf dem Großrechner produzierten Dokumente zu implementieren.

Um den richtigen Partner zu finden, wurde zusammen mit Anbietern ein Anforderungskatalog (Systemarchitektur und Integration in die vorhandene Systemlandschaft) entwickelt. Entscheidend war auch die "mainframe connectivity", die für die Zusammenarbeit mit den Großrechnern der Sparkassenversicherung in Stuttgart und Mannheim benötigt wird. Über 20 Systemanbieter wurden untersucht. Davon machten fünf deutlich, daß sie in der Lage wären, die Kriterien zu erfüllen, am Ende hatte SER wegen des "professionellen Projekt-Consulting" die Nase vorn, so Kramer.

Neben der kurzen "Antwortzeit" von einer Sekunde bei allen Dokumenten, die in den letzten vier Monaten aufgerufen wurden, hebt Kramer einen weiteren Vorteil der elektronischen Archivierung hervor: "Das System zeigt mit dem Finger genau auf Schwachstellen in der Organisation und liefert uns eine wichtige Grundlage für die Verbesserung der Geschäftsabläufe im laufenden Betrieb."

ANGEKLICKT

In den meisten Banken sind Dokumenten-Management-Systeme längst gang und gäbe. In sehr vielen Versicherungen dagegen bilden sie - von einigen ganz Großen der Branche abgesehen - noch immer die Ausnahme. Ihre Einführung wird aber zunehmend diskutiert. Der damit verbundene Kostenfaktor schlägt bei mittleren und kleinen Assekuranzen stark zu Buche. Jetzt beginnen kostengünstigere Softwaresysteme indes auch in diesem Markt Fuß zu fassen.

Die elektronische Akte

Sobald ein Versicherungsantrag eingeht, wird das bedruckte Papier mit einem Scanner in ein elektronisches Dokument verwandelt, das Original vernichtet. Das ist die Realität in Versicherungsunternehmen, die mit einem Dokumenten-Managementsystem arbeiten.

Die Posteingangsstelle scannt eingehende Anträge und versieht sie mit einem Index.

Über das hausinterne Netz landen die Anträge beim Sachbearbeiter, der am Bildschirm die Versicherungspolice erstellt. Zusammen mit dem Antrag wird die Police in einer elektronischen Akte archiviert.

Zu ihr gehört auch ein Inhaltsverzeichnis, das die Dokumente stichwortartig abbildet. Automatische Archivierungssysteme speichern die tagsüber erstellten Dokumente während der Nacht unaufgefordert in einem Speicher, meist sind das optische Platten mit einem Speichervolumen von mehreren GB.

Während der Bestands- und Leistungsphase eines Versicherungsvertrags kann der Sachbearbeiter die Akte jederzeit an seinen Arbeitsplatz holen.

Die Retrieval-Software findet sie anhand der Indices, aber auch über Namen, Daten und andere Merkmale. Zuerst erscheint auf dem Bildschirm das Inhaltsverzeichnis. Per Knopfdruck lassen sich die Dokumente der Akte visualisieren.

Der Sachbearbeiter kann weitere Dokumente anfügen, beispielsweise Mahnschreiben, Wertbestätigungen und Abtretungen. Ruft der Kunde an, um sich zu informieren, erkennt der Mitarbeiter nach Öffnen der elektronischen Akte sofort den Bearbeitungsstand und kann tagesaktuelle Auskünfte erteilen.

In vielen Fällen können auch dezentrale Vertriebsstellen die Akte an einem Host-Rechner einsehen. Auf dem Bildschirm erscheint ebenfalls das Inhaltsverzeichnis, das häufig schon genügend Informationen preisgibt.

Die eingescannten "Images" der Originalunterlagen lassen sich allerdings auf einem "Charakter"-Bildschirm, der nur Buchstaben und Zahlen kennt, nicht abbilden. Über einen Fax-Server können sich jedoch dezentrale Stellen Dokumente auf ihrem Faxgerät ausdrucken lassen.

Das mit hohem Aufwand vernichtete Papier, mit dem sich Aktenordner füllen lassen, liegt dann wieder vor.

Der GDV

Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) verzeichnete ein rasantes Wachstum bei den installierten DV-Systemen von 65000 im Jahr 1991 auf 199000 Ende 1995. Um die Unternehmen bei der Wahl der Systeme zu unterstützen, hat der GDV unter dem Stichwort "Versicherungsanwendungsarchitektur" (VAA) in Projektgruppen "Konzepte für ein fachliches und technisches Rahmenwerk und für einzelne Softwarekomponenten" erarbeitet und dokumentiert. Nach Angaben des Gesamtverbands wandten die Mitgliedsunternehmen im Jahr 1995 etwa 3,69 Milliarden Mark für Informations- und Kommunikationssysteme auf. Mit der VAA soll jetzt ein "Komponentenmarkt" entstehen, der Anwendungssoftware für Versicherungsunternehmen anbietet. Ein Ziel ist dabei die "langfristige Kostenreduzierung".

*Johannes Kelch ist freier Journalist in München.