Anwendungsbremse Mobilfunk

20.01.2009
Von 
Jürgen Hill ist Chefreporter Future Technologies bei der COMPUTERWOCHE. Thematisch befasst sich der studierte Diplom-Journalist und Informatiker derzeit mit aktuellen IT-Trendthemen wie KI, Quantencomputing, Digital Twins, IoT, Digitalisierung etc. Zudem verfügt er über einen langjährigen Background im Bereich Communications mit all seinen Facetten (TK, Mobile, LAN, WAN). 
In der Theorie wartet der Mobilfunk mit immer höheren Bandbreiten auf. De facto bremsen den User aber hohe Latenzzeiten aus.

Verfolgt man den Marketing-Rummel der Mobilfunkbranche, dann kann der Eindruck entstehen, dass bald niemand mehr im WAN auf Festnetzverbindungen angewiesen sein wird. Nach UMTS mit seinen noch eher bescheidenen 384 Kbit/s verspricht die Erweiterung HSDPA mittlerweile Transferraten von 3,6 Mbit/s und wird bereits auf 7,2 Mbit/s ausgebaut. Und mit Bandbreiten von über 10 Mbit/s steht bereits die nächste Evolutionsstufe bevor.

Lange Antwortzeiten

Die Realität fällt dagegen eher ernüchternd aus: In 95 Prozent der Fälle, so Mathias Hein, unabhängiger IT-Berater in Neuburg an der Donau, müssen sich mobile Geschäftskunden mit niedrigeren Bandbreiten begnügen, da HSDPA nur räumlich begrenzt angeboten wird. Zudem wartet auf die Anwender beim Thema Mobilfunk noch ein weiterer Pferdefuß: die hohen Latenzzeiten. Zwar sanken die Antwortzeiten im Vergleich zu den 500 Millisekungen von GPRS deutlich, doch sie liegen bei HSDPA immer noch um die 65 Millisekunden.

Latenzzeiten im Mobilfunk

HSDPA: 65 Millisekunden.

UMTS: 200 Millisekunden.

Edge: 350 Millisekunden.

GPRS: 500 Millisekunden.

Wer also auf kurze Antwortzeiten bei seinen Anwendungen via mobile Datenübertragung hofft, wird schnell die Geduld verlieren. Ganz davon zu schweigen, dass Echtzeitanwendungen wie VoIP bei diesen Antwortzeiten kaum vernünftig zu realisieren sind. So wird für VoIP in der Regel eine Latency zwischen 50 und 150 Millisekunden empfohlen.

Eine schnelle Abhilfe, so die bittere Wahrheit laut Wolfgang Granzow, Leiter Forschungsprojekte Zukunft beim Chiphersteller Qualcomm, ist vorerst nicht in Sicht. Granzow rechnet mit einer allgemeinen Verbesserung der Antwortzeiten erst 2010: "Dann werden die ersten Netze mit LTE ihren kommerziellen Rollout haben."

Mit einer kurzfristigen Milderung des Problems lockt dagegen Thomas Boele, Senior Engineer bei Riverbed, wenn die Anwender die mobile Client-Software des Unternehmens verwenden. Allerdings kann auch Riverbed nicht zaubern. Steelhead Mobile 2.0, wie die Client-Software heißt, optimiert zwar das zu übertragende Datenvolumen, kann aber an dem Problem der langen Laufzeiten nichts ändern.

Umwege beim Routing

Deren Wurzeln liegen nämlich nicht nur in der Luftschnittstelle (also der Strecke vom Handy oder der Datenkarte zum Mobilfunkmasten), sondern im Netzaufbau der mobilen Datenübertragung selbst. Zu welchen skurillen Effekten dies führen kann, zeigt ein Beispiel: Sucht ein deutscher Geschäftsreisender während eines Termins in der USA mit seinem Smartphone nach Informationen auf Google.com, dann haben seine Daten eine lange Reise vor sich. Sie werden nicht, wie jeder vermuten würde, direkt vom Netz des amerikanischen Mobilfunk-Providers via Internet an Google weitergereicht. Vielmehr werden sie von dem US-Carrier als Roaming-Partner erst einmal über den Atlantik in das Heimatnetz des deutschen Providers geschickt. Dort reisen sie dann bis zum Internet-Breakout des Mobilfunkers, um dann über das Internet wieder zurück in die USA transportiert zu werden, und erreichen dann endlich ihren Ziel-Server. Hat Google die Antwort auf die Anfrage gefunden, nimmt das Ergebnis den umgekehrten Weg zurück. Dass in einem solchen Fall nicht mehr über Latency oder Antwortzeiten einer Echtzeitanwendung diskutiert werden muss, liegt auf der Hand.

Netzbetreiber sind gefordert

Das Fatale ist, dass mobile Daten selbst in Deutschland solche Irrwege vor sich haben, da ein Local Breakout ins Internet - wie er in den Mobilfunkstandards bereits seit GPRS vorgesehen ist - aus Kostengründen meist nicht bei den Mobilfunkbasisstationen installiert wurde. Vielmehr werden die Basisstationen meist per 2-Mbit/s-Leitung oder Mikrowelle an das Access-Netz des Mobilfunkers angeschlossen.

Unter dem Strich hat der End-User damit kaum Möglichkeiten, die Antwortzeiten zu beeinflussen. Er kann nur warten, bis mit der Einführung von LTE auch ein Redesign der Mobilfunk-Backbones ansteht. Und Enterprise-Kunden empfiehlt Qualcomm-Manager Granzow vor einem Rollout mobiler Anwendungen, ausführlich zu testen, ob die eigenen Applikationen mit den Reaktionszeiten des Provider-Netzes zurechtkommen. Für Corporate-Anwender mit einem entsprechenden Vertragsvolumen eröffnet sich bei einer längerfristigen Bindung an einen Mobilfunkanbieter noch eine weitere Option: Sie können versuchen, in direkten Verhandlungen einen Local Breakout durchzusetzen, der ihren Bedürfnissen eher entspricht.