Haustechnik und Kommunikationskonzept bei Gruner - Jahr

Alle Arbeitsplätze verkabelt - unabhängig vom Anschlußbedarf

19.06.1992

Im Hamburger Gruner - Jahr-Pressehaus kommt modernste Gebäudeleittechnik zum Einsatz. 20 000 Meßpunkte überwachen im ganzen Komplex die Funktionen, in einer Zentrale werden die Informationen zusammengefaßt und die Anlagen gesteuert. In manchen Bereichen muß die offenbar überzogene Technik allerdings wieder etwas zurückgeführt werden.

Das Hamburger Verlagshaus Gruner - Jahr zog Ende 1990 in eine neue Zentrale ans nördliche Elbufer um, in ein ungewöhnliches und umstrittenes Bauwerk. Umstritten war das neue Gruner - Jahr Haus schon lange vor dem Umzug! Die bayerischen Architekten Otto Steidle und Uwe Kießler waren offensichtlich vom nahen Hafen so stark beeindruckt, daß sie eine "bildhafte Dampferarchitektur" verwirklichten. Die Bürotrakte ("Schiffe") ruhen auf klobigen Bockstützen. Kapitänsbrücken, Bullaugen, Schiffsgeländer und eine Vielzahl schmaler Treppen unterstreichen den maritimen Baustil. Während der Gruner - Jahr-Vorstandsvorsitzende Gerd Schulte-Hillen - unter anderem Herausgeber der Magazine "Stern", "Art", "Schöner wohnen", "Brigitte", "Capital" und "Geo" - bei der Einweihung dieses Ambiente als ideal bezeichnete, um "von hier aus unsere Medienschiffe auf große Fahrt zu schicken", lästerte die Konkurrenz vom "Spiegel" über den "absonderlichen Fremdkörper" und das "stattliche Kuriosum".

Heftige Debatten über die Auswirkung

Zu Beginn gab es auch unter den Beschäftigten heftige Debatten über die Außenwirkung des 320 Millionen Mark teuren Hauses und die Arbeitsbedingungen in dem Gebäude. "Viele ,Mitarbeiter taten sich nach dem Wegzug von der wunderschönen Alster anfangs sehr schwer", räumt auch Gruner - Jahr-Verwaltungsleiter Andreas Böhle ein, "doch inzwischen haben sie das neue Haus und die Qualität des neuen Standortes schätzen gelernt".

Als Organisationschef hat Böhle den Neubau der Verlagszentrale von Anfang an mitbeeinflußt. 1978 begann bereits die Grundstückssuche und die Entwicklung eines ersten groben Nutzerprogramms. Aus Testentwürfen und einem Architektenwettbewerb entstand dann die endgültige Planung. "Uns ist es leider nicht gelungen, ein qualifiziertes Raumbuchprogramm zu kaufen, so daß wir dieses parallel zur Datensammlung selbst erstellen mußten", nennt Andreas Böhle eine Schwierigkeit zu Beginn der Planung. Dieses selbstgestrickte Programm wird heute als Instrument für die Mietverwaltung und interne Verrechnung weiter genutzt.

Politische und journalistische Ansprüche bei Gruner - Jahr führten zur einer Reihe von Kriterien, die bei der endgültigen Konzeption des neuen Gebäudes berücksichtigt werden mußten. "Zur Erreichung von Spitzenleistungen halten wir den persönlichen Freiraum der Mitarbeiter für besonders wichtig", beschreibt der Verwaltungsleiter die Grundeinstellung des Verlegers. Deshalb sollte die Raumgröße der Büros - unabhängig von der Hierarchie - dem Arbeitsbedarf angepaßt werden können.

Ebenso wurde die individuelle Regelung aller Umfeldfaktoren wie Licht, Luft, Heizung, Klima oder Sonnenschutz am Arbeitsplatz eingeplant. Kommunikative Flure ("Journalismus ist Quatschen auf dem Flur"), begrünte Innenhöfe und der Einsatz umweltfreundlicher Materialien und Technologien waren weitere Kriterien. "Da der Zwangscharakter einer Klimaanlage sich nicht mit der Philosophie des Hauses vereinbaren läßt, haben wir uns zu einem System der unterstützenden Be- und Entlüftung entschlossen", nennt Böhle ein Beispiel. Bei dieser Quellüftung tritt Frischluft mit sehr geringer Geschwindigkeit aus dem Boden aus und wird an der Decke abgesaugt. Dadurch wird die sonst übliche Durchmischung der Frischluft mit Gerüchen oder Qualm vermieden.

Zentrale Steuerung und Überwachung aufwendig

Die technischen Anlagen des 350 000 Kubikmeter umfassenden Verlagshauses nehmen rund ein Achtel der Gesamtfläche ein. "Die Steuerung und Überwachung all dieser Maschinen, von den Kältepumpen über die Transformatoren bis zu den Lüftungsanlagen, ist natürlich sehr aufwendig", erklärt Verwaltungschef Böhle. Dank einer zentralen Leittechnik, die über einen kleineren DEC-Rechner und ein ausgefeiltes Steuerprogramm des Gebäudesystem-Spezialisten Landis & Gyr rund 20 000 Meßpunkte im ganzen Haus ständig überwacht, kann aber die erheblich umfangreichere Technik vom selben Personal betreut werden, das auch die technikärmere alte Verlagszentrale verwaltet hat. Dies ist dadurch möglich, daß über den Kontrollbildschirm jede Veränderung an einem der Meßpunkte mit der Gewichtung "normal" oder "hohe Dringlichkeit" angezeigt wird und mögliche Folgen dieser Veränderung dargestellt sowie Gegenmaßnahmen empfohlen werden.

Parallel dazu kann der Kontrolleur jeden Meßwert nach Position, Grenzwerten und Einflußfaktoren abfragen oder Trendrechnungen anstellen. Im Gefahrenfall wird sofort die angemessene Maßnahme eingeleitet oder ein Techniker gezielt an die richtige Stelle geschickt. "Rund zwei DritteI der Meßpunkte dienen allerdings der reinen Kontrolle, vor allem an der Außenhaut des Gebäudes", schränkt Böhle die auf den ersten Blick sehr groß erscheinende Zahl wieder etwas ein. So kann in der Leitzentrale zwar festgestellt werden, daß ein bestimmtes Fenster offen ist. Zum eventuellen Schließen - weil es sich nachts in einem sicherheitsempfindlichen Bereich befindet - muß aber ein Mensch losgeschickt werden. "Alles andere wäre nicht mit unserer Philosophie vereinbar", betont Böhle, "wir können nicht zentral zu einem bestimmten Zeitpunkt alle Fenster schließen oder das Licht ausmachen".

Alle Arbeitsplätze sind verkabelt

Gesteuert wird über das System die Be- und Entlüftung, die Heizung, die Kühlung und das Licht. Zentral abgelesen werden kann auch der Wasser- und der Energieverbrauch. Für den Sonnenschutz und die Alarmanlage gibt es bei Gruner - Jahr noch getrennte Systeme.

Als die Planungen für das Verkabelungskonzept begannen, gab es bei Gruner - Jahr zirka 400 Bildschirm-Terminals und rund 100 Stand-alone-PCs. Daher waren die ersten Gedanken auf ein sternförmiges Koaxial-System für die DV und ein getrenntes mehradriges Kabel für das Telefon gerichtet. "Dann brach jedoch gerade noch rechtzeitig die PC-Welle aus, so daß wir uns umorientierten und von vorneherein eine totale Verkabelung aller Arbeitsplätze unabhängig vom konkreten Anschlußbedarf vorsahen", berichtet Böhle. Diese Voraussicht hat sich ausgezahlt, denn heute werden den in dem Gebäude bereits neben 600 Host- und 250 Bürokommunikations-Anschlüssen rund 800 vernetzte PCs eingesetzt.

DV stützt sich auf Backbone-Konzept

Die Planung blieb aber bei getrennten Kabeln für DV und Telefon. Sie stützte sich für den EDV-Bereich auf ein Backbone-Konzept, das die vertikale Verteilung vom Rechenzentrum aus mit Glasfasern bis in die strategisch positionierten Verteilerräume vorsieht und von dort mindestens ein IBM-Typ-1-Kabel an jeden Arbeitsplatz führt. Die IBM-Typ-1-Kabel können dabei durch entsprechende Steckerverbindungen mit Balloon an das Rechenzentrum angeschlossen oder durch andere Balloon-Stecker zu Bereichsnetzen verknüpft werden. Die einzelnen Verteilerräume, die auch die sogenannten "aktiven Komponenten" enthalten, sind aber nicht nur direkt an das Rechenzentrum angeschlossen, sondern durch ein ausgeklügeltes System auch untereinander verbunden. Dadurch kann bei Unterbrechung einer Leitung - sei es durch Feuer oder durch Sabotage - jederzeit der Betrieb kurzfristig über einen Umweg geschaltet werden. Als Telefonanlage wurde ein Siemens-Hicom-System mit 3000 Anschlüssen installiert.

"Als Medienhaus lag uns natürlich auch an einer modernen Ausstattung unserer Konferenz- und Schulungsräume mit aller Präsentations- und Kommunikationstechnik, die der Markt hergibt", nennt Böhle einen weiteren wichtigen Aspekt.

"Überzogene Technik" in einigen Bereichen

Für die wichtigsten Konferenzräume entschied man sich für die Rückprojektion. Damit kann sowohl Dia als auch Video - und damit jeder Film, jeder PC-Inhalt und Über einen Scanner auch jedes Schriftstück ohne Zwischenmedium - selbst bei ungünstigen Lichtverhältnissen in großem Format an die Wand gebracht werden. Zur breiteren Anwendung können alle akustischen und optischen Aufnahmen aus dem zentralen Auditorium in die anderen Konferenzräume oder auf das Hausnetz gespielt werden.

Nach über einem Jahr Nutzung des neuen Verlagsgebäudes in dem Areal zwischen Michel, Überseebrücke und Alstermündung zieht Verwaltungsleiter Böhle eine positive Bilanz: "Es hat sich gelohnt, und bei einer Wiederholung würden wir das meiste nicht anders machen." Allerdings gesteht er auch einige Mängel ein: "Trotz aller Planungen und Abstimmungen ist die Technik in einige n Bereichen über das Ziel hinausgeschossen." Die Bedienung und Anpassung von manchen Anlagen ist sehr erschwert, weil "der Perfektionismus mit den Planern teilweise durchgegangen ist".

So nutzt die Steuerung des Sonnenschutzes für 200 definierte Bereiche je 40 Parameter für das Auslösen des Herauf- oder Herunterfahrens. Alleine die Überprüfung aller denkbaren Einstellvarianten dauerte über zwei Wochen. Auch bei der Klimaanlage oder der Konferenztechnik gibt es noch solche Schwierigkeiten. Die Auswirkungen der "in einigen Bereichen überzogenen Technik" müssen jetzt nachträglich wieder korrigiert werden. Böhle: "Diese Übertreibungen sind teilweise schon mit viel Schweiß und Tränen auf ein Normalmaß zurückgeführt worden."