Wo ERP endet und PLM beginnt

22.07.2005
Von Chris Nicolaes 
ERP-Lösungen automatisieren firmeninterne Prozesse. Das reicht noch immer nicht aus. Product-Lifecycle-Management (PLM) hilft, standortübergreifend zu entwickeln und zu fertigen.

Das Lohnkostengefälle ist nicht die einzige Triebkraft für die zunehmende Dezentralisierung der Fertigung. Viele mittelständische Unternehmen haben im Zuge ihrer globalen Expansion Mitbewerber in anderen Ländern übernommen, um schneller in bestimmten Märkten Fuß zu fassen. Die neuen Tochtergesellschaften haben in der Regel eigene Produkte, die vor Ort entwickelt und gefertigt werden. Die Schwierigkeiten sind in diesen Fällen andere: Es müssen Produktlinien konsolidiert und Standorte integriert werden, um die Synergien der verteilten Entwicklungs- und Fertigungsressourcen nutzen zu können. Das stellt oft weniger eine technische als eine organisatorische Herausforderung dar.

Hier lesen Sie …

• welche Schwierigkeiten die verteilte Fertigung aufwirft;

• warum ERP-Systeme bei standortübergreifender Produktion nicht ausreichen;

• wie Lösungen für das Product-Lifecycle-Management ERP-Systeme ergänzen.

Product-Lifecycle-Management

Product-Lifecycle-Management (PLM) ist kein Werkzeug, sondern ein Konzept, wie Menschen unabhängig von Standort, Sprache oder Aufgabenbereichen effizienter zusammenarbeiten können, damit aus Ideen möglichst schnell Produkte und aus alten Produkten wieder neue Ideen werden.

Grundlage des Konzepts ist die Bereitstellung von produktrelevanten Informationen über den gesamten Produktlebenszyklus mittels eines zentralen Backbones, unter Nutzung der unterschiedlichen Systeme aus den jeweiligen Anwendungsbereichen. Insofern unterschiedet sich PLM von dem traditionellen Ansatz des Produktdaten-Managements (PDM), bei dem es im Wesentlichen um die effiziente Verwaltung der Engineering-Daten in Entwicklung und Konstruktion ging.

Komplexe Produkte an verteilten Standorten zu entwickeln und zu fertigen, erfordert einen erheblichen Abstimmungsaufwand. Er lässt sich nur dadurch reduzieren, dass alle am Produktentstehungsprozess beteiligten Personen und Organisationen über den gesamten Produktlebenslauf auf relevante Informationen zugreifen können. Deshalb empfiehlt sich ein zentrales PLM-Backbone, das die lokalen CAD-, Projekt-Management-, Qualitäts-, Materialdaten- und ERP-Systeme verbindet.

Parallel zur Dezentralisierung ihrer Fertigungsstätten haben die meisten Unternehmen ihre Fertigungstiefe in den letzten Jahren kontinuierlich reduziert. Bearbeitungsschritte oder die Fertigung von Komponenten wurden an externe Lieferanten vergeben, die zunehmend in die Entwicklung eingebunden sind. Besonders weit ist dieser Prozess in der Automobilindustrie fortgeschritten, wo heute 70 bis 80 Prozent der Wertschöpfung in der Zulieferkette erbracht werden. Große Zulieferer wie Bosch, Valeo oder Johnson Controls liefern Komplettsysteme und koordinieren dabei ihrerseits eine lange Kette von Unterlieferanten.

Fragmentierte Fertigung

Die Fertigungsprozesse erstrecken sich über verschiedene Disziplinen, Standorte und Unternehmen und sind ständigen Veränderungen unterworfen. Die Fertigung eines Produkts wird aus Kapazitätsgründen an einen anderen Standort verlagert, ein Zulieferer geht in Konkurs und muss schnell durch einen anderen ersetzt werden, ein Projekt gerät in Verzug, so dass größere Entwicklungsumfänge an externe Partner vergeben werden müssen.

Um unter diesen Umständen die Qualität des Endprodukts sicherstellen zu können, benötigen die Hersteller ein zentrales Informationssystem, in dem alle produktrelevanten Informationen zusammenfließen. Und zwar von Anfang an, und nicht erst wenn die Produktion startet, denn dann ist es meist schon zu spät. Wesentliche Weichen für die verteilte Fertigung werden ja schon während der Produktenwicklung gestellt, angefangen mit den Kundenanforderungen, die die Wahl der Fertigungsstätte oder des Zulieferers beeinflussen.

Defizite bestehender Lösungen

Trotz oder gerade wegen ihrer Nähe zur Fertigung sind ERP-Systeme dafür nicht unbedingt die ideale Informationsplattform, weil sie stark auf die Planung und Steuerung der Produktion an einem Standort zugeschnitten sind. Gerade Unternehmen, die durch Übernahmen und Zusammenschlüsse gewachsen sind, nutzen unterschiedliche ERP-Lösungen. Oft handelt es sich um ERP-Systeme von lokalen Anbietern, die nicht einmal mehrere Sprachen unterstützen. Man kann sich ausmalen, was es unter diesen Umständen heißt, einen Fertigungsauftrag an einen anderen Standort verlagern oder auch nur eine Stückliste an die lokal verfügbaren Materialien anpassen zu wollen.

Aber selbst wenn Unternehmen an allen Fertigungsstandorten ein und dieselbe ERP-Software einsetzen, handelt es sich oft um getrennte Instanzen mit unterschiedlichen Datenmodellen, zwischen denen sich nicht ohne weiteres Daten austauschen oder Referenzen herstellen lassen. Zwar könnten Anwender diese Systeme harmonisieren, heraus käme jedoch immer eine Lösung, die einseitig auf die Fertigungsplanung und -steuerung fixiert ist und Aspekte wie die Übergabe von Entwicklungsdaten und die Einbindung von Zuliefererinformationen zu wenig berücksichtigt.

Eine Alternative bietet sich mit CAD- und ERP-unabhängigen Lösung für das Product Lifecycle Management (PLM) als verbindende Klammer für alle Fertigungsstandorte. Ein solches PLM-Backbone verwaltet nicht nur die verschiedenen ERP-Systeme, sondern verbindet sie über eine EAI-Middleware (Enterprise Application Integration) auch mit anderen Unternehmensanwendungen etwa für SCM oder CRM.

Die CAD-Unabhängigkeit bietet darüber hinaus den Vorteil, dass sich sowohl die heterogenen Mechanik- und Elektronik-CAD-Systeme sowie die Tools für die Softwareentwicklung einbinden lassen als auch vorhandene PDM-Systeme (Produktdaten-Management), mit denen die Daten aus diesen Anwendungen bislang auf Abteilungs- beziehungsweise Standortebene verwaltet wurden.

Im Gegensatz zu den transaktionsgetriebene ERP-Systemen sind PLM-Lösungen inhaltsgetrieben, das heißt, sie können sämtliche produktrelevanten Informationen von der Kundenanforderung für ein neues Produkt bis zu den geltenden Recycling-Vorschriften verwalten und in Beziehung zueinander setzen. Denn der Produktlebenszyklus endet ja nicht am Ende der Fertigungsstraße. Ob Altautoverordnung, EU-Richtlinie über Elektro- und Elektronik-Altgeräte oder die in Kraft tretenden Bestimmungen über die Beschränkung von gefährlichen Substanzen in elektrischen und elektronischen Geräten, die Unternehmen in Automobil- und Elektronikindustrie müssen immer striktere Umwelt- und Recycling-Auflagen erfüllen. Und was noch aufwendiger ist: Sie müssen jederzeit nachweisen können, dass sie und alle ihre Zulieferer diese Auflagen erfüllt haben, auch wenn das Produkt vielleicht schon längst ausgelaufen ist. PLM-Systeme helfen dabei festzustellen, welche Komponenten an welchem Standort in ein bestimmtes Produkt eingebaut wurden.

Eine flexible Stücklistenverwaltung mit einer übergreifenden PLM-Lösung erlaubt es Unternehmen, ihre Produkte an beliebigen Standorten zu fertigen und dabei eingesetzte Bauteile jederzeit mit den Stücklisten aus der Entwicklung abzugleichen. Fertigungsingenieure sind dadurch in der Lage, standortabhängige Stücklisten zu definieren und für jedes Werk individuell zu entscheiden, ob ein Bauteil eingekauft oder gefertigt wird. Und dies unabhängig davon, welche Rohmaterialien und mögliche Alternativen dazu die Entwicklung für den jeweiligen Fertigungsstandort vorgegeben hat. Über Workflows steuert die PLM-Lösung die Änderungen an den Fertigungsstücklisten (Change-Management).

Änderungsprozesse

In vielen Unternehmen ist der Änderungsprozess traditionell im ERP-System abgebildet. Mit der Einführung eines übergreifenden PLM-Backbones ist es zweckmäßig, diesen Prozess unternehmensweit zu vereinheitlichen und in der PLM-Lösung abzubilden. Das schließt nicht aus, das eine ECO (Engineering Change Order) aus einem lokalen ERP-Programm angestoßen wird, aber immer unter der Kontrolle des übergreifenden Systems. Auf diese Weise lässt sich sicherstellen, dass bei geplanten Änderungen an Bauteilen, die in unterschiedlichen Baugruppen und Produkten verbaut sind, alle betroffenen Abteilungen in den Prozess eingebunden sind und beispielsweise Aussagen über die mit der Änderung verbundenen Kosten machen können.

Varianten treiben Kosten hoch

Kosten transparenter zu machen ist vielleicht einer der wichtigsten Nutzeneffekte eines zentralen PLM. Dazu zählt, die Kosten der zunehmenden Variantenvielfalt in den Griff zu bekommen. Viele Unternehmen pflegen in ihren lokalen ERP-Systemen unterschiedliche Produktkonfigurationen, die weniger den lokalen Fertigungsgegebenheiten gehorchen als vielmehr den kundenspezifischen Anforderungen vor Ort. Unter Umständen kann es zweckmäßig sein, bestimmte Sonderpositionen aufzulösen und in den Standard zu überführen, da sich eine teurere Komponente in höheren Stückzahlen kostengünstiger fertigen und auf Lager verwalten lässt als zwei Varianten. (fn)