IT in der Autoindustrie

Multimedia-Mobil im Verkehrsleitsystem

04.04.1997

Zwei Kilometer Kabel mit einem Gewicht von 40 Kilogramm, diesen "Ballast" muß der Konstrukteur eines PKW allein für Kabelbaum und Elektronik einplanen. Vernetzung und Informationsübertragung machen nämlich das Fahren bequem, sicherer und energiesparend. Automatisches Bremssystem (ABS), Airbag, Fensterheber und Sitzversteller, dazu Klimaanlage, Motor-Management, Autoradio und endlich die sich flott etablierenden Navigationssysteme verwandeln das Auto in ein mobiles Kommunikationszentrum. Längst feilen unbekümmerte Technologen an der weiteren Ausgestaltung des Multimedia-Mobils. In den Labors liegen Abstandsmelder, satellitengestützte Diebstahlsicherungs- und Notfallsysteme serienreif zur Produktion bereit, während bei Patentanmeldungen der Trend in Richtung "sehendes" und agierendes Automobil geht.

Die aus allen Nähten platzende Mikroelektronik innerhalb des Autos entspricht der Komplexität von Verkehrsleitsystemen. In einer kaum noch überschaubaren Zahl von Projekten rund um den Globus wird versucht, Ursachen und Symptome des Verkehrsinfarkts zu beseitigen - mit bescheidenen, teils aber auch bemerkenswerten Ergebnissen.

Über allem steht jedoch die Frage, wie lange sich Lösungsstrategien, die eine weitere Zunahme des Individualverkehrs zur Folge haben, noch "über Wasser" halten können. Vielleicht solange, bis dem letzten Verfechter technischer Konzepte die allerletzten Grenzen aufgezeigt werden?

Eingeschränkt auf die Probleme der Straße, die zu 97 Prozent vom Individualverkehr hervorgerufen werden, ergeben Lösungen in Zukunft - nach heutigem Erkenntnisstand - nur dann einen Sinn, wenn sie mit anderen Verkehrsmitteln, sprich Bahn und öffentlichem Nahverkehr, verzahnt sind. Mobilität umweltgerecht zu erhalten und dabei den Verkehr von morgen nicht technologieorientiert, sondern partnerschaftlich und von der Öffentlichkeit akzeptiert zu gestalten, ist eine Aufgabe, um die die Verantwortlichen nicht zu beneiden sind.

Politische und öffentliche Aufmerksamkeit erregen, zur Debatte auffordern und an den Problemen von heute und morgen arbeiten, so lautet der Anspruch des vierten Weltkongresses für ITS (Intelligent Transport Systems) vom 21. bis 24. Oktober 1997 in Berlin. Das von der Ertico (European Road Transport Telematics Implementation Coordination Organisation), einer in Brüssel ansässigen internationalen Organisa- tion aus Unternehmen, staatlichen Stellen und Verbänden, veranstaltete Treffen soll Experten aus der ganzen Welt zusammenbringen, die den aktuellen Verkehrsproblemen etwas entgegensetzen wollen. Das Bundesverkehrsministerium (BMV) hat die Schirmherrschaft übernommen.

Überfüllung nicht mehr zu übersehen

Wie nun stellt sich die Situation auf deutschen Straßen dar? Einer BMW-Studie zufolge beläuft sich der volkswirtschaftliche Schaden inzwischen auf die stattliche Summe von rund 200 Milliarden Mark, pro Jahr wohlbemerkt. Entfallen auf Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte sowie Einkaufstrips gut 30 Prozent, auf geschäftliche Fahrten etwas mehr als zwölf Prozent, so schlägt die Mobilität als Privatvergnügen mit über 55 Prozent zu Buche. Allein die Entwicklung der Verkehrsdichte läßt erahnen, daß es höchste Eisenbahn ist, den Verkehr von der Straße wegzuhalten oder gezielt auf andere Verkehrsträger umzulenken. Rollten 1949 noch etwa anderthalb Millionen Autos über die Straßen, sind es heute 33,5, mit LKW und Bussen sogar rund 40 Millionen. Doch während sich die individuelle Mobilität in sprunghaft steigenden Zahlen niederschlägt, hat die Dichte des Straßennetzes zur gleichen Zeit gerade einmal um die Hälfte zugenommen. Von Passau bis Flensburg, von Aachen bis Frankfurt an der Oder kommt man auf gut 625000 Kilometer. Auch wenn die Straßen an Qualität und Kapazität spürbar hinzugewonnen haben, ist der akute Platznotstand nicht mehr zu übersehen. Prognosen des Verkehrsministeriums gehen von einer Zunahme von heute 600 auf 720 Milliarden gefahrener Kilometer auf deutschen Straßen im Jahre 2010 aus.

Unter solchen Vorzeichen sind die Alternativen an einer Hand abzuzählen: Entweder setzt man konsequent auf die grundsätzliche Vermeidung von Verkehr, was drastische Eingriffe in die individuelle Mobilität mit sich bringt, oder man versucht, durch Einsatz intelligenter Telematiksysteme den Verkehrsfluß zu steuern. Daß zahlreiche Tests dazu geführt haben, die Unfallquote deutlich zu senken, ist ein gewichtiges Argument für die Telematik. Auch die Verschränkung von Leitsystemen, Park-and-Ride-Angeboten sowie Empfehlungen zum Umstieg auf öffentliche Verkehrsmittel haben sich als taugliches Instrument zur Linderung der dringendsten Verkehrsprobleme erwiesen. Offene Fragen bleiben in bezug auf die umweltschonenden Effekte intelligenter Verkehrslenkung. Kritiker wie Dieter Seifried vom Freiburger Öko-Institut halten die Telematik lediglich "für eine intelligentere Form des Straßenbaus", die nur zu einer weiteren Zunahme des Verkehrsaufkommens und der Geschwindigkeit beitragen würde. Im Unterschied zu solchen "virtuellen Luftschlössern" führe der Einsatz der Telekommunikation im öffentlichen Verkehr hingegen zu positiven Effekten, wie zum Beispiel zur Steuerung und Sicherung des Betriebsablaufs von Ampelvorrangschaltungen.

Kein Zweifel: Mobilität ist eine Grundvoraussetzung der arbeitsteiligen Welt - ohne Mobilität keine Fahrt zur Arbeit, kein Warenaustausch, keine von fahrbaren Untersätzen abhängigen Freizeitaktivitäten. Doch Lärm, Emissionen und Streß, ferner Sicherheitsrisiken und überfüllte Verkehrsmittel in Stoßzeiten sind die Kehrseite der Medaille.

Ein multimodales Verkehrsnetzwerk

"Integrierte Verkehrs-Managementsysteme und Mobilitätsdienste können ein multimodales und grenzenüberschreitendes Verkehrsnetzwerk erzeugen", schreibt Telematikexperte Peter Zimmermann in einem Papier für das Bundesministerium für Verkehr (BMV). Der Organisator des internationalen Kongresses in Berlin weiter: "Die schrittweise Integration von Einzelsystemen zu einem ganzheitlichen Verkehrssystem ist die Herausforderung."

Wie erfolgreich Telematikprojekte sein können, zeigt das Beispiel "Munich Comfort", dessen Fortführung erst vor wenigen Wochen durch die Stadt München und den Freistaat Bayern beschlossen wurde. Das mit gut zehn Millionen Mark von der Industrie, knapp sechs Millionen von Bund und Land, fünfeinhalb Millionen von der Stadt München, einer Million vom Münchner Verkehrsverbund (MVV) und etwa fünf Millionen von der EU geförderte Projekt liefere, so Münchens Oberbürgermeister Christian Ude, "einen verantwortungsbewußten Beitrag zum Umgang mit Verkehr und Mobilität in Zukunft". Während die Industrie das Marktpotential von Telematiksystemen für die nächsten Jahre mit gut 200 Millionen Mark beziffere, bringe jede investierte Mark eine Rendite von 400 Prozent. Allein durch die Vermeidung von Unfallschäden seien rund 26 Millionen Mark Investitionskosten wieder in die Kassen zurückgeflossen. Munich Comfort hat sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, zumindest die gleichen Ergebnisse zu liefern wie ein vergleichbares Projekt auf dem Santa Monica Freeway in Los Angeles. Dort gingen die Emissionen um 35 und die Fahrzeiten um 15 Prozent zurück.

Verkehrstelematik ist also Realität. Zahlreiche Anwendungen bewähren sich im praktischen Einsatz. Im Stuttgarter Großversuch "Storm" etwa führte der Informationsverbund dazu, daß sich rund 90 Prozent der Straßenbenutzer durch zielführende Systeme entlastet fühlen, 40 Prozent auf angebotene Routenvorschläge eingehen und etwa zehn Prozent auf andere Verkehrsmittel umsatteln. Auf der anderen Seite setzen immer mehr Transportunternehmen rechnergestützte Logistik- und Flotten-Management-Systeme ein, um den mit 30 Prozent noch viel zu hohen Anteil an Leerfahrten zu senken und damit die Verkehrsbewegungen im Güterverkehr insgesamt zu reduzieren. Durch den Einsatz von Betriebsleitsystemen im Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) werden die Umlaufzeiten um bis zu 15 Prozent verkürzt. Spezielle Kundendienste wie zum Beispiel elektronische Fahrplanauskunftssysteme und bargeldlose Zahlungsmittel erhöhen merklich die Chancen des ÖPNV, neue Kundenkreise zu gewinnen.

Rechnergesteuerte Parkleitsysteme sorgen in den Städten für eine spürbare Abnahme des Parksuchverkehrs, der ansonsten in Spitzenzeiten bis zu 40 Prozent des fließenden Verkehrs ausmacht. Voraussichtlich Mitte 1997 wird die digitale Ausstrahlung von automatisch generierten Verkehrswarnmeldungen auf der Basis aktueller Verkehrsdaten - kurz RDS/TMC (Radio Data System/ Traffic Message Channel) - in Deutschland möglich sein und, verknüpft mit Zielführungssystemen, neue Wege der dynamischen Verkehrsmittel- und Routenplanung aufzeigen.

Über 60 rechnergesteuerte Verkehrsbeeinflussungsanlagen sorgen heute schon auf den Autobahnen für weniger Staus und einen erheblichen Rückgang der Unfallzahlen, bei Personenschäden um bis zu 50 Prozent. Auch die Betriebsabläufe im Schienenverkehr sind inzwischen national und europaweit telematikgesteuert. Mit Hilfe des europäischen Zugsteuer- und Betriebsleitsystems läßt sich ein in ganz Europa ohne Hindernisse funktionierender Hochgeschwindigkeitsverkehr realisieren und die begrenzte Kapazität der Bahn besser nutzen. "Cirelke", ein Projekt der Deutschen Bahn AG, will zum Beispiel die Zugdichte um 20 Prozent und die Streckenkapazität um 40 Prozent erhöhen. Gemeinsam mit der EU wird ein globales Satellitennavigationssystem entwickelt, das die für viele Telematikanwendungen wichtige Standortbestimmung von Fahrzeugen und Gütern deutlich verbessern soll. Schon diese wenigen Beispiele zeigen das immense Potential für Telematik im Verkehr.

Einige Entwicklungen können Autofahrer schon heute zu einer effizienteren Planung ihrer geschäftlichen Fahrten veranlassen. Sitzt man erst einmal hinter dem Steuer und ist in unbekannten Regionen unterwegs, leisten zum Beispiel Navigationssysteme ihre guten Dienste. Kompaß, digitale Landkarte auf CD-ROM, GPS-Empfänger und ABS-Sensoren sagen inzwischen ziemlich genau, wo es langgeht. Das System rechnet das vor Fahrtbeginn in den Bordcomputer eingegebene Ziel in aktuelle Anweisungen um, die akustisch über Lautsprecher und optisch auf dem Display ausgegeben werden. Travel Pilot und Carin, die beiden marktführenden Angebote von Blaupunkt und Philips, sind längst nicht mehr Accessoire der Oberklasse, sondern haben sich bereits in Passat, Omega und Mondeo etablieren können, und das bei weiter sinkenden Preisen.

Noch ist die Software die mit Abstand größte Schwachstelle der Navigationssysteme, weil sie aktuelle Stauinformationen und Umleitungsempfehlungen nicht einspeisen kann.

Doch wird mit Hochdruck an einem Sendernetz gearbeitet, das diese Lücke schließen soll. Zudem erhöhen Robert Bosch GmbH und Deutsche Post AG die Genauigkeit digitaler Landkarten, die zum großen Teil auf Informationen von Zustellern beruhen. Niemand kennt Hausnummern, Straßenführung und Verkehrsregelungen so gut wie Postboten. Nach ersten Versuchen in Köln und München soll das Vorhaben auf weitere 28 Ballungsgebiete ausgedehnt werden. Eine zusätzliche Chance, unterwegs nicht jedem Stau gnadenlos ausgeliefert zu sein, eröffnen DAB (Digital Audio Broadcasting) und RDS/ TMC. Störungsfreien Empfang in höchster Klangstufe verspricht DAB, das gegenwärtig mit Unterstützung des Freistaats Bayern untersucht wird. Käufer der rund 900 Mark teuren Empfänger sind aufgerufen, regelmäßig über ihre Erfahrungen mit dem System zu berichten. Erbitterte DAB-Konkurrenz ist das digitale Hörfunksystem World-Space, dessen Modulationssystem QPSK (Quadratur Phase-Shift Keying) allerdings weniger robust gegen Störungen ist als COFDM (Coded Orthogonal Frequency Division Multiplexing) bei DAB. Neben Sprache und Musik sollen beide Systeme künftig auch Daten und Bewegtbilder auf den Displays ihrer Empfänger ausgeben können.

Gut im Rennen in allen europäischen Telematikprojekten liegt RDS/TMC. Ohne den typischen Zeitverlust des bisher üblichen Verkehrswarnfunks und seines Pendants im Frühstücksfernsehen soll man Informationen zu Hause oder unterwegs - just-in-time - abrufen können. Eine weitere Alternative sind die neuen Verkehrskanäle. Informationen der zu 75 Prozent durch Induktionsschleifen vernetzten Autobahnen in Nordrhein-Wesfalen sind zum Beispiel im WDR rund um die Uhr abzurufen. VERA (Verkehr in Real Audio) soll dem Autofahrer über Videotext, Internet, Anrufbeantworter sowie demnächst auch über DAB und RDS/TMC zur Verfügung stehen. Staus, volle Parkhäuser und sogar verspätete Flüge kann man bald rechtzeitig einkalkulieren.

Der Computer in der Rolle des Chauffeurs

Doch könnte der Verkehr der Zukunft auch von ganz anderer Art sein. Zumindest ergibt sich dies aus einigen Patentanmeldungen. Daraus lasse sich ein Trend zu selbststeuernden Systemen ausmachen, wie Dietmar Wittke, Regierungsdirektor im Deutschen Patentamt in München, berichtet. Ob es sich dabei um per Bildverarbeitungscomputer umgesetzte Ideallinien handelt oder um gezielte Streckenführung an von Kameras erkannten Hindernissen vorbei - die Erfinder sehen den Computer immer mehr in der Rolle des Chauffeurs.

Ein weiteres Stichwort neugierig stimmender Ingenieurleistung ist "Platooning". Darunter ist das längs- und quergeführte automatische Fahren einer Fahrzeugkolonne mit minimalen Abständen zu verstehen. So untersucht das amerikanische Projekt AHS (Automated Highway System) den vollautomatischen Autobahnverkehr. Schmalere Fahrspuren, geringere Fahrzeugabstände und höhere Geschwindigkeiten und damit auch deutlich höhere Durchsätze stehen dabei im Blickpunkt. Aus Kosten- und Platzgründen ist eine solche Technologie in Deutschland kaum zu realisieren. Allerdings könnte der Platooning-Ansatz für Nutzfahrzeuge interessant sein: Prognosen lassen vermuten, daß sich der europaweite Güterverkehr in den nächsten 15 Jahren verdoppelt.

Autofahren im dritten Jahrtausend - schöne neue Mobilität oder ihr Ende? Vielversprechende Ansätze zur Lösung der größten Verkehrsprobleme liegen auf dem Tisch. Ergonomische Darstellungsmethoden machen die Integration von Informationssystemen in Fahrt- und Blickrichtung des Fahrers möglich, was allerdings nicht dazu verführen sollte, im Fahren der Büroarbeit nachzugehen, fernzusehen oder im Internet zu surfen. Dann wäre - allen angenehmen Aussichten zum Trotz - der Crash programmiert.

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Die individuelle Mobilität, sprich: das ungeheure PKW-Aufkommen, schlägt sich im sprunghaft wachsenden Verkehrsinfarktrisiko nieder; das Straßennetz ist hierzulande kaum mehr aufnahmefähig. Unterschiedliche Szenarien provozieren verschiedenste Problemlösungsansätze. Zentrale Rollen darin spielen Verkehrsleitsysteme, digitales Radio und multimediale Endgeräte in Automobilen aller Art.

*Winfried Gertz ist freier Journalist in München.