Kongress des Muenchner Kreises sondiert neue Maerkte Spielbergs Dinosaurier und die multimediale Besinnung

09.12.1994

CW-Reportage, Peter Gruber

Gewaltig tuermt sich der monstroese Dinosaurier vor den angsterfuellten Menschen auf, deren Schreie durch den Raum hallen. Die toedlichen Pranken trampeln sie nieder, knicken Baeume wie Streichhoelzer, zermalmen Autos zu Blechklumpen. Langsam bewegt sich das Ungeheuer weiter, und fuer einen Moment scheint es, als wuerde es der Leinwand entsteigen und eines seiner kolossalen Beine wie eine Dampframme in den Konferenzraum 102 des Europaeischen Patentamtes in Muenchen wuchten.

Der Videotrailer von Steven Spielbergs Film "Jurassic Park" bricht an dieser Stelle ab. Die Gefahr weicht der Wirklichkeit, als nach diesem Fallbeispiel fuer Video on demand der Konferenzsaal wieder in Licht taucht und die Phantasie im Gehirn nuechternen Kongressinfos Platz macht.

"Neue Maerkte durch Multimedia" heisst die Tagungsrealitaet, teils beschreibend, teils prognostisch, denn vieles, was derzeit unter dem Stichwort Multimedia diskutiert wird, bleibt vorerst noch Fiktion, ebenso wie Spielbergs Dinosaurier. Sicher ist nur eines: Multimedia schickt sich an, unser Verstaendnis von Information und Kommunikation zu revolutionieren.

Dass wir uns den Dino kuenftig nicht als Kuscheltier, sondern bei Bedarf als Horrorvideo ueber den Information-Highway ins Wohnzimmer holen, ist nur eine Facette des breiten Spektrums an Anwendungsmoeglichkeiten, das anlaesslich des vom Muenchner Kreis und dem Bundesministerium fuer Forschung und Technologie veranstalteten Kongresses gezeichnet wurde. Laengst zerbricht sich auch die Wirtschaft den Kopf ueber eine professionelle Nutzung multimedialer Applikationen.

Unter den Multis herrscht eine Goldgraeberstimmung

Einen Vorgeschmack darauf, wohin die Entwicklung gehen koennte, geben die Versuche, den Begriff Multimedia weiter zu definieren. Im klassischen Sinne als Integration von Sprache, Text, Daten und Bewegtbildern verstanden, wird die Technik heute, wie aus der Computerindustrie zu hoeren ist, bereits umfassender als Mittel zum Zweck einer menschengerechteren Nutzung von Informationssystemen gesehen. Mit diesem Ansatz ist Multimedia die Tuer ins Buero und die gute Stube geoeffnet.

Richtet sich die Industrie nach dieser Definition, muesste der Anwender als Privatperson wie auch als professioneller Nutzer das Mass aller Dinge bei der Entwicklung praktikabler Loesungen und Maerkte sein. Die ausgebrochene Goldgraeberstimmung unter den Multis laesst jedoch das Gegenteil vermuten. Parallelen zu Spielbergs Dinosaurier draengen sich auf: Scheinbar ohne die Beduerfnisse des Anwenders genauer ins Kalkuel zu ziehen, stuerzen sich die Giganten aus der Medien-, Computer- sowie TK-Industrie wie gefraessige Monster auf einen Multimedia-Markt, dessen Potentiale noch keineswegs ausgelotet sind.

Fuer Europa prophezeien Analysten bis zum Jahr 2000 ein Marktvolumen von rund 60 Milliarden Mark, 37 Milliarden davon sollen auf Multimedia-Systeme entfallen. In Deutschland wird der Umsatz nach Angaben von Hagen Hultzsch, Vorstandsmitglied der Telekom, von derzeit 440 Millionen Mark auf 13 Milliarden Mark steigen.

Angesichts solcher Prognosen wittert nicht nur die zuletzt

arg gebeutelte IT-Branche eine Chance, zu neuen lukrativen Ufern aufzubrechen. Bloss nicht zu spaet kommen scheint derzeit die Devise in den Konzernzentralen zu sein, und deshalb wird auf Teufel komm raus paktiert. Ueber 500 Allianzen sollen weltweit in Sachen Multimedia schon geschlossen worden sein, alle mit dem Ziel, Entwicklungskosten zu sparen und den richtigen Player im anderen Lager zu erwischen.

"Gegenwaertig werden Kooperationen mit Partnern eingegangen, an die man frueher im Traum nicht gedacht haette", gibt Helmut Fluhrer, im Vorstand der Burda GmbH taetig, dem Kongresspublikum ein Bild von der im Markt grassierenden Aufbruchsstimmung und spricht von der revolutionaersten Phase in der Geschichte der technischen Kommunikation. "Der PC ist die Winning Application unserer Zeit", kommt der Verleger ins Schwaermen und hoert beim Gedanken an den lukrativen Consumer-Markt wohl schon die Kassen klingeln.

Doch vor den Preis hat der liebe Gott bekanntlich nicht nur den Schweiss, sondern in puncto Multimedia auch eine neue Wertschoepfungskette gestellt. Die Rechnung mit dem Anwender kann nur aufgehen, wenn die Allianzen aus Anbietern der drei Wirtschaftsbranchen Synergieeffekte erzielen. Dabei muessen am Ende der Wertschoepfungskette sinnvoll aufeinander abgestimmte Anwendungen, Komponenten und Dienste herauskommen, soll der Nutzer gekoedert und der erhoffte gewinntraechtige Markt geschaffen werden.

Hybride Netzwerke spielen den interaktiven Tueroeffner

Ist die Technik heute ueberhaupt schon reif fuer Multimedia? "Kein Problem", versuchten Referenten dem Kongressvolk zu suggerieren, den Gegenbeweis trat jedoch die Installation vor Ort selbst an. Wegen des grossen Andrangs wurde die Veranstaltung per Videokonferenz - eine Multimedia-Anwendung wohlgemerkt - in einen Nebensaal uebertragen, wo Bild und Ton nicht immer synchron eintrafen.

Dennoch scheint das netztechnische Ruestzeug im wesentlichen vorhanden. Das Breitbandkabelnetz auf Kupfer-Koaxial-Basis, das Fernsprechnetz mit Kupferdoppelader, mikro- und picozellulaere Funknetze sowie Glasfasernetze samt Fibre-to-the-home-Technik bilden in Deutschland ein Infrastrukturgeflecht, das nicht nur die Spuren fuer die Info-Bahn bereitstellt, sondern auch jeden Haushalt erreicht.

Insbesondere Kombinationen aus den genannten Netztypen - sogenannte hybride Networks - koennten auf dem Weg von der Ortsvermittlung zum Haushalt oder Buero den interaktiven Tueroeffner spielen. Mit dem Verfahren "Asymmetric Digital Subscriber Line" duerfte zum Beispiel eine Technik gefunden sein, die eine Umwandlung der Signale von Glasfaser auf Kupferdoppeladern - sprich das Telefonnetz - realisiert. Die Kosten fuer den Benutzer sind, so warnt immerhin das Forschungslabor von Alcatel SEL, noch nicht absehbar.

Interaktive Anwendungen fordern aber nicht nur vom Netz, sondern auch von den Endgeraeten und Servern die Unterstuetzung eines Rueckkanals. Die Palette der Endgeraete reicht dabei vom Fernsehgeraet mit Set-top-Box ueber den PC bis hin zur Multimedia- Workstation. Um diese Geraete aber mit multimedialen Applikationen zu versorgen, bedarf es, wie SNI-Manager Horst Nasko ausfuehrte, extrem leistungsfaehiger Server mit Speicherkapazitaeten im Terabyte-Bereich. Diese muessen Datenstroeme nicht nur online speichern, sondern auch parallel handhaben und in Echtzeit ins Netz geben koennen. Massiv-parallele Systeme sind, so die Botschaft Naskos, fuer diesen Einsatz heute gut geruestet. Das multimediale Zeitalter kann kommen - es ist Advent.

Advent, Zeit der Besinnung. Zeit auch, ueber adventliche, im uebertragenen Sinne des Wortes ankommende Multimedia-Technologien nachzudenken, mahnt eine geistliche Stimme das Forum. Oh Gott, eine Predigt wider Multimedia, schiesst es durch den Kopf, aber der Jesuit Ruediger Funiok hat das Rednerpult keineswegs mit der Kanzel verwechselt, als er das Wort zugunsten der Nutzer ergreift. Der Professor am Institut fuer Kommunikation und Medien der Hochschule fuer Philosophie in Muenchen bemaengelt die geringe Sorgfalt zahlreicher Akzeptanzstudien und identifiziert den Anwender als weitgehend unbekanntes Wesen.

"Die Nutzung von Multimedia muss nicht kinderleicht, sie muss greisenleicht sein", appelliert der Geistliche an die Hersteller und warnt davor, die gleichen Fehler wie bei Btx zu machen. Der Vorteil der Anwendung muesse dem Nutzer sichtbar werden, fordert der Jesuit. In seinem Plaedoyer fuer eine positive Multimedia- Zukunft schreibt er der Industrie vor allem ins Stammbuch, die mit Multimedia verbundene Veraenderung der Arbeitsgewohnheiten als Stimmungsfaktor nicht zu unterschaetzen. Seine Botschaft: Ohne Ruecksicht auf den User gibt es keine Akzeptanz.

Akzeptanz haengt aber nicht nur von einfacher Bedienung ab. Die Ratio wird auch stark vom Portemonnaie getrieben. Der Anwender ist kaum bereit, in breiter Masse fuer aufwendige Technik auch teuer zu bezahlen. Zu hohe Preise fuer Endgeraete und Anwendungen sind daher ein weiteres K.o.-Kriterium bei der Einfuehrung neuer Technologien - schon gleich revolutionaerer.

Was dem Nutzer recht ist, ist der Industrie billig. Das Potential, Kosten einsparen, Gewinne maximieren, neue Zielgruppen erschliessen sowie alte effektiver ansprechen zu koennen, laesst die IT-Planer in Unternehmen laengst ueber moegliche Multimedia- Anwendungsszenarios nachdenken.

Alles "Bravo" beim Kanzler Helmut Kohl

Studien haben zum Beispiel ergeben, dass die Innovationsgeschwindigkeit in der Automobilindustrie durch Telekooperationen um 50 Prozent zu steigern ist. Oder: Von rund 36 Billionen Mark, die 18 Millionen Arbeitsplaetze in der deutschen Administration jaehrlich kosten, koennten zehn Prozent durch multimediale Aufruestung und bessere Integration in Arbeitsablaeufe eingespart werden.

Neben Telekooperationen und -konferenzen stellen Telelearning, Homeworking, Fernwartung und Online-Dienste weitere Optionen fuer die professionelle Multimedia-Nutzung dar. An der Entwicklung entsprechender Applikationen sowie deren Integration in die bestehenden DV-Landschaften der Unternehmen, sowohl technisch wie auch organisatorisch, wird fieberhaft gearbeitet. Als Hemmschuh erweist sich bei diesem Procedere jedoch noch ein Mangel an Software, Developement-Tools, Standards sowie Know-how.

Bis der Kunde also zum festen Bestandteil einer interaktiven Informationskette wird, ob in professionellen DV-Szenarien wie bei Banken und Versicherungen oder als privater Consumer zu Hause am TV, duerfte noch viel Wasser den Rhein hinabfliessen.

Mit gutem Beispiel gehen unsere Politiker voran, deren Votum fuer den Umzug von Bonn nach Berlin einen Multimedia-Meilenstein in Deutschland verkoerpert. Teleconferencing soll zwischen den beiden Staedten im Projekt "Bravo II" zum Standard werden. Kunststueck! Deren Info-Highway zahlt der Steuerzahler. Bis Spielbergs Dinosaurier aus Jurassic Park also ueber den Information-Highway in die Wohnzimmer von Otto Normalbuerger stampfen, muessen wir vorerst noch mit der Videothek oder dem politischen Urgestein Helmut Kohl vorliebnehmen.