Kolumne/Wen die Muse kuesst...

03.11.1995

Christoph Witte

Ideas are commodities, execution is superior", diese bemerkenswerte Aussage von Digital-Boss Robert Palmer hatte IBM- Chef Louis Gerstner offenbar beherzigt, als er im Maerz 1993 von John Akers das Ruder des havarierten Tankers IBM uebernahm. Er weigerte sich, vor Abschluss der Reparaturarbeiten zu erklaeren, wohin die Reise gehen sollte.

Erst am 24. Maerz 1994, nachdem Big Blue die Aktionaere mit Umsatzeinbussen von 2,8 Prozent sowie einem Verlust von 8,1 Milliarden Dollar enttaeuscht hatte - IBM also immer noch im Trockendock lag -, ueberraschte Gerstner amerikanische Finanzanalysten mit einem Strategiepapier. Im Kern besagte es drei Dinge. IBM muesse die eigenen Technologien besser ausnutzen, den Anteil am Client-Server-Markt wesentlich erhoehen und die Fuehrerschaft im Network-centric-Computing erringen. IBM auf dem Netztrip: Infrastruktur-Angebote fuer Telekommunikations-, Kabel-, Informations- und Unterhaltungsanbieter bis hin zu konkreten technischen Loesungen schienen in der Pipeline zu sein. Allerdings wurden in der Folgezeit keine konkreten Massnahmen angekuendigt. Sichtbare Einschnitte gab es nicht bei den Produkten, Gerstner und sein damaliger Finanzchef Jerome York sparten vor allem bei den Ausgaben und der Mitarbeiterzahl. Das und die Mainframe-Hausse des letzten Jahres brachten den schnellen Erfolg, der die Aktionaere bei der Stange halten sollte. Programmatisch veraenderte sich dagegen kaum etwas.

Heute, zwanzig Monate spaeter - die IBM-Zahlen sind durch die Lotus-Uebernahme wieder rot gefaerbt -, wurde Gerstner offenbar erneut von der Muse gekuesst. Leider nur halbherzig: Der IBM-Chef spricht jetzt weder vom Ausnutzen eigener Technologien noch von groesserem Engagement fuer die Client-Server-Welt. Dieses Mal dreht sich in einem Gespraech, das er mit der "Business Week" fuehrte, alles um Netze. Die Zukunft gehoere nicht dem PC, sondern dem Network-centric-Model, gab Gerstner zu Protokoll.

Ob Gerstner selbst auf diese Idee kam oder sich bei den Herren McNealy und Ellison bediente, ist unerheblich. Viel wichtiger ist, dass der Boss Big Blue in die Lage versetzt, diese Vision zu verwirklichen.

Dabei verwundert allerdings, dass Gerstner nicht zunaechst die naheliegenden Probleme loest, ehe er zu neuen Ufern aufbricht. Deshalb muss er sich den Vorwurf gefallen lassen, mit Zukunftsszenarien nur vom Heute ablenken zu wollen. Und das ist gekennzeichnet von sinkenden Umsaetzen im Hardwaresektor und einem Software- und Servicegeschaeft, das immer noch sehr stark vom Grossrechner abhaengt. Hinzu kommen Lieferschwierigkeiten bei High- end-Massenspeichern und CMOS-Mainframes, die mangelnde Marktdurchdringung von OS/2 sowie die unsichere Zukunft der neuen Tochter Lotus und ihres Paradeprodukts Notes.

Gerstners Muse, offenbar eine Dame mit Gedaechtnisschwund, hat auch vergessen, ihn an den wichtigsten Satz in seinem Strategiepapier zu erinnern: Der Unterschied zwischen Strategien und Erfolg, zwischen Gewinnern und Verlierern, liege einzig und allein im Umsetzen der Plaene, erklaerte er damals.