"In Leipzig sind die Anbieter praktisch vor Ort"

23.02.1990

Mit Klaus Krakat, wissenschaftlicher Referent in der Forschungsstelle für gesamtdeutsche wirtschaftliche und soziale Fragen, Berlin, sprach Helga Biesel

Denkanstöße aus Hannover - Business in Leipzig. Auf diesen kurzen Nenner bringt Klaus Krakat, seit Jahren Beobachter des DV-Geschäfts in und mit der DDR, die Erwartungshaltung derer, die sich von dem aufgehenden DDR-Markt eine signifikante Verlängerung ihrer in der Bundesrepublik stagnierenden, wenn nicht schrumpfenden Orderlisten versprechen. Hannovers CeBIT - gewiß - ist eine Attraktion, ein Schlaraffenland für Marketing-Kopisten aller Art. Wenn's aber zur Sache geht, bleiben die DDR-Entscheider wohl lieber auf vertrautem Territorium, zumal dann, wenn die Japaner schon das Testbett gebaut haben.

CW: Herr Krakat, in der DDR finden am 18. März Wahlen statt, Wahlen auf deren Ausgang nicht nur die Bürger der beiden Deutschland wie gebannt starren. Was bedeutet ein derartiger Termin exakt zwischen den beiden großen deutschen Messen, der Leipziger Frühjahrsmesse (vom 11. bis zum 17. März) und der Hannover Messe CeBIT (vom 21. bis zum 28. März) für die DV-Szene in der DDR? Oder anders gefragt: Wie sehr sind die Messeaktivitäten sowohl bei den Anbietern als auch bei den potentiellen Messebesuchern vom politischen Geschehen beeinflußt?

Krakat: Die Antwort ließe sich auf eine kurze Aussage reduzieren: Die DDR ist auf jeden Fall gezwungen, sich mehr als früher den westlichen Entwicklungen anzupassen.

Dies bezieht sich auch auf die CeBIT in Hannover und die Präsenz der Kombinate dort. Europa '92 wird im Vordergrund stehen und weniger der RGW (Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe). Der Grund dafür liegt darin, daß sich auch die RGW-Länder, die ja zu den Hauptabnehmern der DDR-Kombinate zählten, stärker an den westlichen Entwicklungen ausrichten werden. Also bekommen bestimmte Produkte aus dem Elektronikbereich der DDR eine geringere Priorität.

Beispiele finden sich gerade in der EDV-Industrie, denn hier orientieren sich die RGW-Länder schon lange in Richtung Westen. Insofern ist für Robotron und auch für andere Kombinate ein bestimmter fester Absatzmarkt einfach weg. Vor diesem Hintergrund werden auch die Messen - und gerade die Messe in Leipzig - einen ganz anderen Inhalt bekommen.

CW: Nachgefragt: Wirkt sich die Tatsache, daß die Wahl nahezu gleichzeitig stattfindet, nun stimulierend oder lähmend auf die Szene aus?

Krakat: Sie müßte sich eigentlich stimulierend auswirken. Mental kann man natürlich auf Stimulierung ausgerichtet sein, aber wenn kein Potential dahinterseht, was dann?

CW: Niemand erwartet, daß sich die in der DDR vorhandenen Hard- und Software-Anbieter in der zur Zeit gegebenen Übergangssituation wie "Phönix aus der Asche" präsentieren. Dennoch: Bekanntlich liegt in jedem Ende ein Anfang. Wer nutzt die "Gunst der Stunde" und wie?

Krakat: Robotron hat zum Beispiel ein Softwarehaus, und das, was dort an Leistung schon in der Vergangenheit angeboten wurde, war einerseits nicht schlecht - bezogen auf die Hardware, die innerhalb RGW und DDR eben gefragt war. Dies ging in die Richtung acht und 16 Bit einschließlich CAD/CAM. Nur gibt es jetzt Probleme, weil nun ganz andere Rechnerarchitekturen ins Spiel kommen. In Einzelfällen, zum Beispiel wo es in Richtung Künstliche Intelligenz ging, wo auch von den Software-Menschen der Akademie der Wissenschaften etwas gemacht wurde, hat man sich anders orientiert - so auch ein Spezialbetrieb vom Kombinat Datenverarbeitung der DDR eine Art Softwarehaus - das in Richtung CAD/CAM gearbeitet hat. Damit sind aber dennoch nur die Ansprüche des ehemaligen RGW-Marktes abgedeckt. Man kann sich in der DDR sehr wohl etwas einfallen lassen. Die Leute in der DDR sind nicht dumm, sie passen sich schnell an. Aber sie müßten die richtigen Maschinen haben.

CW: Sie sind also startklar, sie sind auch motiviert und wissen, was sie wollen, aber es fehlt ihnen an Equipment.

Krakat: Genauso ist es.

CW: Die Hannover-Messe CeBIT scheint ja auch in diesem denkwürdigen Jahr 1990 wieder kein Mekka der DDR-Firmen geworden zu sein. Auch was die Zahl der Besucher aus der DDR anbelangt, macht sich die Hannover-Messe-Gesellschaft keine großen Illusionen. Erwartet werden trotz der neuen Reisemöglichkeiten nur zirka 10 000 Informatik-Interessierte in der grenznahen Stadt an der Leine. Wie erklären Sie sich das?

Krakat: Vielleicht irrt sich die Messegesellschaft. Es könnten erheblich viel mehr Besucher aus der DDR kommen, weil doch sowohl Hannover als auch die CeBIT Anziehungspunkte schlechthin sind. Sie ist das Mekka der Freaks - auch in der DDR - seit eher gewesen. Nur gab es viel zu wenig West-Reisekader, die die Möglichkeit hatten hin zu fahren.

Insofern nehme ich an, daß da sehr viele, auch Private und Hobbyisten, hinkommen werden. Ich würde den Besucherstrom gar nicht eingrenzen. Genauso wie die grüne Woche für die Landwirtschaft in der DDR ein Anziehungspunkt war, wird die CeBIT für Anwender und auch sonstige Interessierte eine Attraktion sein.

CW: Und welche Themen werden auf der CeBIT von seiten der DDR-Besucher besonders gefragt sein, außer PCs ?

Krakat: Alles was in Richtung "Integrierte Lösungen" geht, Datenbank-Lösungen, Telekommunikation, also die Themen von LAN bis WAN, alles was in Richtung Rechnervernetzung geht und auf Produktionsautomatisierung abhebt. Genau dieses sind die neuralgischen Bereiche in der DDR, wo zwar immer ein großer Anspruch "aufgehängt war", aber im Hintergrund nicht viel gelaufen ist.

CW: Gab es anderweitige Vorstellungen in der DDR, daß CeBIT-Forum zu nutzen als es die wenigen DDR-Aussteller tun, beispielsweise in Form von Gemeinschaftsständen, Vortragsveranstaltungen etc.?

Krakat. Es waren schon Vorstellungen da. Aber die Standmieten sind hoch. Und deshalb ließen sich die Pläne nicht realisieren. Da sind die Akademie der Wissenschaften und Universitätsinstitute, die würden sich schon darstellen wollen.

CW: Zu Leipzig. Eigentlich müßte das Angebot an Hard- und Software gerade auch bundesdeutscher Unternehmen in diesem Jahr in der alten Messestadt besonders groß sein. Gibt es bereits Informationen über das möglicherweise sehr veränderte DV-Angebotsspektrum auf der Leipziger Messe?

Krakat: Es gibt in der DDR auch hinsichtlich der Präsentationsmöglichkeiten Grenzen. Das Problem ist das gleiche wie in Hannover. Vorstellbar ist jedoch, daß in Leipzig eher Möglichkeiten eingeräumt werden, westlichen Anbietern noch Fläche zur Verfügung zu stellen.

CW: Wie könnten denn diese Möglichkeiten aussehen?

Krakat: Es gab Gespräche. Nur, was gestern noch gesagt wurde, ist heute bereits überholt. Vielleicht ist man viele Schritte weiter, "nichts Genaues weiß man nicht". Die ganze Messegesellschaft dort ist auch so verbürokratisiert gewesen, wie die anderen Strukturen in der DDR.

Es gibt widersprüchliche Meinungen, manche kommen aus ihren alten Denkschemata nicht so schnell raus. Die müssen eigentlich "den Tritt von hinten kriegen". Und das muß über westliche Einflüsse vor sich gehen. Zum Beispiel gibt es auch den interessanten NCE-Kongreß (CIM). Auch er müßte Ideen aufgreifen, wie man sich im Westen verkaufen kann. Es muß nicht gleich joint-ventures geben, nur Denkanstöße.

CW: Und solche Denkanstöße, die könnten sich die Verantwortlichen auf der CeBIT, der Systems, der Comdex, oder auch in Singapur holen. Aus der DDR alleine ist da nichts zu erwarten?

Krakat: Nein.

CW: Auf welchen Bedarf stoßen denn die diesjährigen Angebote auf den Messen in erster Linie? Robotron zum Beispiel dürfte Schwierigkeiten mit der Taiwan-Konkurrenz bekommen.

Krakat: ... auf den ganzen Bereich der Telekommunikation! Aber da ist mehr Wollen als Können dahinter, das wird gar nicht laufen, im Gegenteil. Der Bedarf in der DDR ist so groß, daß man da mehr im Westen sucht.

CW: Man kann praktisch alles gebrauchen?

Krakat: Genau: Das fängt an mit irgendwelchen Elektronik-Komponenten, geht über die Meß-Regelungs- und Steuerungstechnik sowie Betriebsdatenerfassung bis in die Main-frame-Höhen hinauf.

CW: Es stößt also jeder, der auf der Leipziger Messe irgendetwas in dieser Richtung anbietet, auf einen Bedarf. Mehr als auf der CeBIT?

Krakat: Würde ich sagen - und zwar, weil die Anbieter praktisch "vor Ort" sind.

CW: Nun ist es natürlich schwierig, ein Geschäft zu machen, wenn man nicht weiß, wie man bezahlen soll oder erwartet man sich dieses Jahr in Leipzig sowieso kaum Ordertätigkeit?

Krakat: Da gibt es noch widersprüchliche Auffassungen. Doch meiner Meinung nach sind inzwischen die Leute in den Unternehmen der DDR doch flexibel genug, um solche Probleme überbrücken zu können. Die Entscheidungsträger trauen sich ungeachtet der politischen Situation Entscheidungen zu. Sie sind nicht mehr so reglementiert wie früher.

Außerdem stehen sie mit dem Rücken zur Wand. Irgendwoher, und sei es mit westlicher Unterstützung werden sie die notwendigen Mittel schon bekommen. Darauf vertrauen sie.

CW: Welche Rolle spielt de facto eigentlich noch die Cocom-Liste?

Krakat: Sie spielt schon eine Rolle, aber inzwischen ist sie ja hintenherum schon mehrfach aufgeweicht worden. Eine Neuorientierung ist notwendig. Die Situation ist undurchsichtig, aber man ist risikofreudig. Es wird auch nicht kontrolliert. Alles ist einem "Selbstlauf" überlassen. Sicher gibt es das Bundesamt für gewerbliche Wirtschaft etc. Große Unternehmen aus dem Westen, werden sich daran halten müssen, aber im

kleinen ... ?

CW: Der Aderlaß im Arbeitsmarkt der DDR ist dramatisch. Das gilt wahrscheinlich für Informatiker noch stärker als für andere Berufsgruppen. Gibt es darüber schon irgendwelche Aussagen?

Krakat: Eigentlich nicht. Aber Ihre Vermutung ist richtig. Viele Leute sind auch gar nicht ihrer Qualifikation entsprechend eingesetzt. Aber ihr Wissen ist ihnen so "verschult geboten" worden, daß ihnen nun der Anspruch auf eigenes Denken, auf Kreativität und Risikobereitschaft teilweise sehr fehlt.

CW: Industriemessen sind immer auch Personalmärkte: Was befürchten Sie, was hoffen Sie im Hinblick auf die Informatiker der DDR und die beiden bevorstehenden Messen?

Krakat: Es steht zu befürchten vor dem Hintergrund dessen, was ohnehin schon läuft, daß der eine oder andere auf dem gepackten Koffer sitzt, und daß die Messen dann den Anreiz bieten, von Ost nach West zu gehen.