Keine Revolution, sondern Evolution:

IBM-Großrechner im Wandel der Zeit

10.06.1988

Die Investition in einer Rechnerarchitektur sowohl aus der Sicht des Kunden als auch des Herstellers ist eine grundlegende Entscheidung, mit der eine langfristige Weichenstellung verbunden ist. Im folgenden Beitrag beschreibt Hermann Bückle* die Entwicklung der IBM-Rechnerarchitekturen in den letzten 25 Jahren und gibt einen Überblick über die neuesten Entwicklungen auf diesem Gebiet.

Der Einfluß der Architektur eines Rechners auf die Informationsverarbeitung innerhalb eines Unternehmens ist zwar auf den ersten Blick kaum sichtbar. Er wird aber deutlich, wenn es bei der Umsetzung von unternehmerischen Entscheidungen zu Engpässen kommt - beispielsweise wenn eine neue komplexere Anwendung implementiert wird.

Für jede Systemarchitektur der IBM werden diese Instruktionen in einem Dokument beschrieben, dem "Principles of Operation". Die erste umfassende Architektur für eine aus unterschiedlichen Modellen bestehende Rechnerfamilie wurde von der IBM im Jahre 1964 für das System /360 definiert. Die Vereinheitlichung der Programm- und Datenformate über mehrere Rechner unterschiedlicher Leistung hinweg war die fundamentale Grundlage für den Erfolg.

Durch eine einheitliche Architektur war ein Übergang ohne große Änderungen von einem System in ein leistungsfähigeres möglich geworden. Die Architektur der Systeme wurde vereinheitlicht.

Um auch den Benutzern von unterschiedlichen IBM-Systemarchitekturen eine einheitliche Benutzer-, Anwendungs- und Kommunikationsunterstützung zu ermöglichen, hat IBM im März 1987 die System Anwendungsarchitektur (SAA) vorgestellt. Das Ziel war, mit SAA die drei Hardware-Architekturen PC, /3X und /370 aus der Sicht der Benutzer und der Anwendungsentwicklung zu vereinheitlichen. Inzwischen sind die Konventionen für SAA veröffentlicht. Eine nach diesen Standards entwickelte Anwendung ist portabel im Netz der verteilten Datenverarbeitung. Auf der Basis von SAA werden neue konzeptionelle Lösungen der verteilten Datenverarbeitung wirtschaftlich gestaltbar.

von der Rechner- zur Systemarchitektur

Eine wesentliche Entscheidung für die Entwicklung der IBM-Rechnerarchitektur fiel 1974. Um die Investitionen der Benutzer zu schützen, entschied man sich gegen "revolutionäre" Architekturänderungen und damit gegen "FS"("Future Systems"). Nur noch "evolutionäre" Erweiterungen, die auf der jeweiligen bestehenden Architektur aufbauen, werden akzeptiert.

Die Gründe für diese Entscheidung basierten im wesentlichen auf wirtschaftlichen Überlegungen. Durch den Erfolg der IBM Systeme /360 und /370 war eine sehr große Zahl von Anwendungsprogrammen entstanden, die bei einer revolutionären Änderung der Architektur alle hätten neu erstellt werden müssen.

Programme, die nach den Regeln einer Architektur geschrieben wurden, stellen große Investitionen für die Kunden und für den Hersteller dar. Obwohl inzwischen eine ganze Reihe von Architekturerweiterungen im Großrechnerbereich vorgenommen wurden, sind früher entwickelte Programme bis heute im wesentlichen noch ablauffähig.

Dies ist möglich, weil durch innovative Erweiterungen die /360- und /370-Architektur ständig an neue Erfordernisse angepaßt wurde.

Die Notwendigkeit für Architekturänderungen wird klar, wenn man sich System- und Anwendungsumgebungen zu den Zeitpunkten 1964 (Definition der /360-Architektur) und 1988 betrachtet.

- 1964 verarbeiteten Prozessoren der IBM System /360-Familie einige tausend Instruktionen pro Sekunde; der damalige Magnetkernspeicher war kleiner als ein Megabyte. Magnetplattenspeicher hatten eine Kapazität von 7,5 Megabyte, und ein weit verbreitetes externes Speichermedium war die 80spaltige Lochkarte.

Die Stapelverarbeitung (serielle Verarbeitung aufeinanderfolgender Jobs) war die übliche Art, einen Rechner zu nutzen.

- 1988 sind IBM-Prozessoren in der Lage, nahezu 100 Millionen Instruktionen pro Sekunde (das ist das hundertfache von 1964) zu verarbeiten und auf über 2 Gigabyte Prozessorspeicher (das ist das zweitausendfache von 1964) zuzugreifen.

Auch Platteneinheiten haben heute eine Kapazität von mehreren Gigabyte und sind darüber hinaus in großen Mengen installiert. Die hauptsächliche Nutzung eines Informationssystems erfolgt heute durch verschiedene Formen der Online-Verarbeitung (Interaktiver Betrieb und Datenbanksysteme), wobei sich der Fokus mehr und mehr auf Funktionen für individuelle Datenverarbeitung verlagert.

Der Wechsel in den Szenarien erforderte in diesen 24 Jahren mehrere innovative Erweiterungen der Architektur, die stets in evolutionärer Weise erfolgten, so daß ein Programm, das 1964 für ein IBM System /360 geschrieben wurde, heute noch typischerweise auf einer IBM 3090 E unter dem jetzt neu angekündigten Betriebssystem MVS/ESA laufen könnte. Natürlich sind Programme aus dem Jahre 1964 heute veraltet oder wurden schrittweise neuen Erfordernissen angepaßt.

Am Beispiel der Adressierungsmöglichkeiten und -grenzen sind im folgenden die wichtigsten Schritte der evolutionären Entwicklung dargestellt.

Die System /360-Architektur aus dem Jahr 1964

Die System /360-Architektur wurde zu einer Zeit definiert, in der ein Rechner normalerweise zu einem Zeitpunkt nur ein Programm bearbeitete. Der zur Verfügung stehende Kernspeicher erlaubte es nicht, mehrere Programme oder eine große Menge an Daten im Speicher zu halten, das heißt es waren viele Ein-/ Ausgabeoperationen zum Heranschaffen neuer Programme und Daten notwendig.

Für die Adressierung waren 24 Bit vorgesehen; dies erlaubte das Ansprechen von insgesamt 16 Megabyte (etwa 1,6 Millionen Speicherstellen), eine zu diesem Zeitpunkt unvorstellbar große Menge an Speicher.

System /370-Architektur (Virtueller Speicher)

Die erste wesentliche Erweiterung der System /360-Architektur erfolgte mit der Einführung des virtuellen Speichers im Jahre 1972. Damit war es erstmals möglich, den vollen Adreßbereich von 16 Megabyte unabhängig von der Größe des installierten Hauptspeichers zu verwenden. Das Betriebssystem SVS (Single Virtual Storage) und alle Benutzer teilten sich diesen Bereich.

Mit dem Betriebssystem MVS (Multiple Virtual Storage) stand ab 1974 jedem Benutzer ein eigener Adreßraum von 16 Megabyte zur Verfügung. Die Adressierbarkeit schien auch für die fernere Zukunft keine Probleme mehr zu bereiten.

Benutzeranwendungen und das Betriebssystem selbst begannen, die Vorteile dieser (für damalige Verhältnisse sehr großen) Adreßräume zu nutzen und damit ein-/Ausgabeoperationen einzusparen. Dies geschah durch ständiges Speichern von mehreren Programmen im Speicher oder durch Definition von großen Datenpuffern, um häufig verwendete Daten nicht mehrfach lesen zu müssen.

Aber bereits Ende der 70er Jahre zeichneten sich erneut Engpässe ab. Bestimmte Adreßräume waren an der Grenze ihrer Kapazität angelangt. Die Architekturerweiterung dual Address Space Facility gestattete es, mit dem "Cross Memory Services" Programme oder Daten in einen zweiten Adreßraum zu verlagern und machte es dem Rechner durch neue zusätzliche Mikrocodeinstruktionen möglich, die Informationen in beiden Adreßräumen effektiv verwenden zu können.

System /370 Erweiterte Architektur (1981)

Die Nutzung der virtuellen Speicher war jedoch bald soweit fortgeschritten, daß 16 Megabyte für große Anwendungen (auch bei Nutzung mehrerer Adreßräume) nicht mehr ausreichten. Dies wurde vor allem durch ein beschleunigtes Wachstum im Bereich von Online-Anwendungen verursacht. Die Zahl der Benutzer, der Terminals, der Anwendungen, der Datenbanken und damit auch der zusätzlichen Transaktionen nahm ganz erheblich zu.

Dies führte zu Architekturerweiterungen, die 1981 unter dem Namen System /370 Erweiterte Architektur 370-XA angekündigt wurden. Die Adressierung des Realspeichers und des virtuellen Speichers wurde von 24 Bit auf 31 Bit erweitert.

Hierdurch wurden die Adreßräume von 16 Megabyte auf 2 Gigabyte (das sind etwa 2000 Megabyte) vergrößert. Trotz dieser gravierenden Architekturänderung konnten bestehende Programme, ohne daß sie neu umgewandelt werden, weiter im 24-Bit-Modus laufen. Dies wurde durch eine "bimodale Betriebsweise" ermöglicht. Dadurch wurde der Übergang zu dieser Architektur erheblich erleichtert, und die meisten großen DV-Anwender aus allen Bereichen (Banken, Versicherungen, Fertigungsindustrie und aus dem Bereich der öffentlichen Verwaltung) nutzen heute diese Architektur.

Neben der Erweiterung der Adressierung wurde auch eine grundlegende Änderung bei der Ein-/Ausgabeverarbeitung vorgenommen. Die Steuerung der gesamten ein-/Ausgabe wurde in ein eigenständig arbeitendes Subsystem (Kanalsubsystem) verlagert, so daß der Zentralprozessor entlastet wurde. Dies führte zu erheblichen Leistungssteigerungen und stark verbessertem Antwortzeitverhalten.

Der Realspeicher wurde darüber hinaus durch ein neues Speichermedium - den Erweiterungsspeicher - ergänzt. Dadurch erhielt die Speicherhierarchie eine weitere Stufe. Der Erweiterungsspeicher ist ein Halbleiterspeicher mit kurzer Zugriffszeit, der erheblich preiswerter als der Arbeitsspeicher ist. Seine Struktur ist anders als die des Zentralspeichers, er ist in 4-KB-Blöcken adressierbar. Damit lassen sich die großen Datenstrome innerhalb einer Rechenanlage besonders wirtschaftlich bewältigen. Auch die Grenze der Adressierbarkeit liegt durch diese Blockstruktur bei 4000 mal zwei Gigabyte (16 000 Megabyte).

Die Implementierung der Erweiterten Architektur in den dem Betriebssystem untergeordneten Subsystemen wie CICS, VTAM, TSO und so weiter, sowie die Bereitstellung von neuen Compilern zur Nutzung der Erweiterten Architektur war ein sehr aufwendiger Prozeß, der inzwischen jedoch abgeschlossen ist.

ESA /370 ist eine evolutionäre Weiterentwicklung der 370-XA-Architektur. Durch neue komplexere Anwendungen im Bereich von Bild- und Grafikverarbeitung, durch Textverarbeitung, aber auch durch Installationen mit großen oder vielen Datenbanken mit der entsprechenden hohen Anzahl von Benutzern, ist ein überproportionaler Anstieg des Datenvolumens festzustellen.

Enterprise Systems Architekture /370 (ESA /370)

Die effiziente Verarbeitung dieser großen Datenmengen verlangt neue Architekturen. Auch die Verwaltung der ebenfalls stark wachsenden Speicher- und Datenvolumen auf den externen Einheiten erfordert ein neues Konzept, mit dem diese Aufgaben "systemgesteuert" durchgeführt werden können. Deshalb wurde mit ESA /370 das Konzept von einem Adreßraum zugeordneten Datenräumen eingeführt. Damit kann jeder Benutzer mehrere Datenräume zu je zwei Gigabyte für Daten definieren und auf sie zugreifen. Solche Datenräume können auch von mehreren Benutzern gleichzeitig verwendet werden.

Darüber hinaus wurde speziell für Blockstrukturen ein zusätzliches Element - der HlPER-Raum High PERformance Raum) eingeführt. Damit können Daten in großen Blöcken von und zu einem Adreßraum übertragen werden. Solche HlPER-Räume werden nicht im Zentralspeicher abgebildet, sondern nur im dazu passenden Erweiterungsspeicher. Dort können dann große Tabellen oder auch temporäre Datenbestände gehalten werden und von den zugeordneten Benutzern im Adreßraum schnell verarbeitet werden.

Die neue Systemarchitektur enthält ergänzend auch eine neue Komponente (Data Facility Storage Management Subsystem) zur systemgesteuerten Verwaltung von externen Datenbeständen. Dazu werden dem System bestimmte Regeln vorgegeben. Die Daten werden in Klassen (Organisation, Zugriffsberechtigung, Leistung, Aufbewahrungsfristen und Sicherung) eingeteilt.

Die Beschreibung der vorhandenen Plattenspeichergeräte ist dem System ebenfalls bekannt; sie werden in bestimmte Speichergruppen eingeteilt. Die optimale Plazierung der Daten (zum Beispiel Zugriff über schnelle Pufferspeicher) und die anschließende dynamische Verwaltung kann dann aufgrund dieser Vorgaben vom System selbst durchgeführt werden.

Die Architektur ESA /370 wird implementiert durch die Großrechner IBM 3090 E. Da bei der Entwicklung der Rechner die neue Architektur schon berücksichtigt wurde, enthalten sie schon die dafür notwendigen Hardwareeinrichtungen (einschließlich spezieller Register).

Auch zwei weitere Rechner der Serie IBM 4381 können zur Unterstützung der neuen Architektur im Rahmen einer Modellaufrüstung (von den Modellgruppen 23 und 24 in die Modelle 91 E und 92 E) die neue Architektur implementieren. Dabei bleiben die bestehenden Investitionen geschützt.

Das Betriebssystem für die neue Architektur ist MVS/ESA. Die geplante Verfügbarkeit für MVS/ESA ist 1988; die schrittweise Auslieferung der Funktionen beginnt im August dieses Jahres. Die Umstellung von MVS/XA auf dieses neue Betriebssystem wird einfach sein und entspricht einem "Releasewechsel", wie er in der Regel von Großkunden standardmäßig etwa einmal im Jahr vorgenommen wird.

Die neue Architektur ESA /370 ist die Architektur-Basis für die zu erwartende stark zunehmende Menge an Daten und Informationen eines zentralen Großsystems. Durch die Einführung dieser neuen virtuellen Speicherstruktur von MVS/ESA sind für die Adressierung praktisch keine Grenzen mehr erkennbar. Grund dafür ist der auf das 8000fache erweiterte Adreßrahmen.

Damit sind die Voraussetzungen für die Verarbeitung von bisher kaum vorstellbaren Datenmengen in den neunziger Jahren geschaffen.

Hermann Bückle ist Leiter des Bereichs System- und Produktmanagement bei der IBM Deutschland in Stuttgart.