"Die Wirklichkeit hat die New Economy eingeholt"

21.09.2001
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Harald Lutz lebt und arbeitet als Fachjournalist und Technikredakteur sowie in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit in Frankfurt am Main. Spezialgebiete: Informations- und Kommunikationstechnik (IKT), Logistik, Informationslogistik, Wissenschaft und Forschung.
Unter den etwa 800 000 Beschäftigten der heimischen ITK-Branche halten mittlerweile rund 35 Prozent ein Mitgliedsbuch der DGB-Gewerkschaften Verdi oder IG-Metall in ihren Händen. Über die aktuelle Krise der New Economy und den neuen Arbeitsfelder der Gewerkschaft sprach Harald Lutz im Auftrag der CW mit Dieter Scheitor, Teamleiter IT-Industrie beim Vorstand der IG-Metall.

CW: Die New Economy scheint im Vergleich zu früheren Jahren entzaubert. Haben die Gewerkschaften Grund zum Frohlocken?

Scheitor: Wir frohlocken nicht, weil mit der ökonomischen Krise, die die New Economy jetzt in voller Schärfe erfasst hat, teilweise soziale Dramatik verbunden ist. Wir fühlen uns jedoch in einem Punkt absolut bestätigt, nämlich dass die Gesetze der Schwerkraft auch in der New Economy nicht außer Kraft gesetzt sind. Die Gewerkschaften gehören zu den Regelungsmechanismen dieser Schwerkraft. Es hat sich insbesondere in jüngerer Zeit gezeigt, dass Betriebsräte und Gewerkschaften auch in der ITK-Branche unverzichtbar sind. Es werden ja nicht nur Startup-Firmen und Unternehmen am Neuen Markt von der Krise ereilt. Leider sind es jetzt auch große Namen wie Siemens oder Cisco Systems, die zum Teil ganz erhebliche Gewinn- und Umsatzeinbrüche zu verzeichnen haben. Zum Teil wurden bereits happige Entlassungsprogramme verkündet, gegen die sich die Betriebsräte und Belegschaften zur Wehr setzen, die wir in ihrer Arbeit nachhaltig unterstützen.

CW: Wirtschaftsexperten verlautbaren für 2001 nach wie vor ein Branchenwachstum um den Faktor drei bis vier im Vergleich zum volkswirtschaftlichen Durchschnitt.

Scheitor: Ich bezweifle, dass die New Economy noch höhere Wachstumsraten als die Old Economy hat. Es gilt genau hinzuschauen, was man statistisch unter New Economy versteht. Wenn man darunter – wie auch der Bitkom – die Telekommunikationsdienstleister und -hersteller, die IT-Dienstleister und die DV-Unternehmen fasst, dann ist in diesem Bereich unter dem Strich nahezu Stagnation zu verzeichnen; wie die jüngste Ifo-Umfrage deutlich zeigt. Einzelne Bereiche wie die PC-Hersteller haben sogar Umsatzrückgänge. Man kommt an den Fakten nicht vorbei: Die Wachstumsdynamik der New Economy ist auch in Deutschland zusammengebrochen. Die Gewerkschaften haben in der ITK-Industrie zur Zeit ganz traditionelle Aufgaben übernommen wie Schadensbegrenzung zu betreiben und abzuwehren, dass die Beschäftigten die Zeche bezahlen müssen.

CW: Die Branche hat in der Vergangenheit jede Menge an Besonderheiten hervorgebracht, auf die traditionelle gewerkschaftliche Strukturen und Denkmuster nicht passen. Welche neuen Antworten haben Sie gefunden?

Scheitor: Richtig ist, dass die Branche zumindest in den vergangenen drei bis vier Jahren eine Sonderrolle spielte. Es ist eine alte gewerkschaftliche Erfahrung, dass bei wirtschaftlicher Prosperität, solange es den Unternehmen und auch den Mitarbeitern gut geht, die Beschäftigten nicht als Erstes an Betriebsräte und Gewerkschaften denken. Damit müssen wir leben. Es gab in der ITK-Industrie hohe individuelle Freiräume, teilweise sehr gute außertarifvertragliche hohe Bezahlung, mitunter auch in Form von „Stock-Options“. Die Träume mancher IT-Experten, sehr schnell sehr reich zu werden, sind mittlerweile zerplatzt. Auch in der New Economy wissen die Beschäftigten inzwischen, dass sie für ihren Lebensunterhalt lange werden arbeiten müssen. Von daher ist die New Economy von der Wirklichkeit eingeholt worden.

CW: In jüngerer Zeit werden in der ITK-Industrie vermehrt Betriebsräte gegründet. Haben die in der Branche verbreiteten informellen Mitarbeitervertretungsteams etc. endgültig ausgedient?

Scheitor: Wir sind uns im Klaren, dass es in der Branche solche Strukturen nach wie vor gibt. In Krisenzeiten sind diese Gremien allerdings vollkommen überfordert, weil sie keine gesetzlichen Rechte haben, Verhandlungen über Sozialpläne nicht erzwingen können und Entlassungen nicht ernsthaft verhindern können. Diese Rechte haben nur gewählte Betriebsräte. Am Neuen Markt sind mittlerweile ein gutes Dutzend Firmen insolvent geworden, und es werden weitere folgen. Es hat sich gezeigt, dass in solchen zugespitzten Situationen nur Betriebsräte eine ernsthafte Chance haben, noch etwas für die Beschäftigten herauszuholen.

CW: Können sich Mitarbeiter, die einen Betriebsrat gründen wollen, in den Unternehmen frei entfalten oder haben sie persönliche Nachteile und Restriktionen zu befürchten?

Scheitor: Wir haben sehr unterschiedliche Erfahrungen damit gesammelt, wie Geschäftsführungen und Unternehmensleitungen darauf reagieren, wenn sich in ihren Unternehmen zum ersten Mal ein Betriebsrat gründen will. In der großen Mehrheit halten sich die Unternehmensführungen an die Maßgaben des Betriebsverfassungsgesetzes, indem sie die Betriebsratswahl weder behindern noch beeinflussen. Bei etwa einem Viertel der Fälle allerdings reagieren Unternehmensleitungen un-gehalten und versuchen Druck auf die Beschäftigten auszuüben. In dieser Situation leisten wir den Belegschaften volle politische und juristische Unterstützung.

CW: Immer wieder ein Thema in der IT-Industrie sind die langen Arbeitszeiten und die auf Dauer hohe Belastung der Beschäftigten. Welche Strategie in puncto Arbeitszeitregelung verfolgen Sie?

Scheitor: Wir sehen mit Sorge, dass für hochqualifizierte Angestelltenarbeit die Arbeitszeiten lang und länger werden. Damit gehen für die Beschäftigten starke gesundheitliche Probleme und psychische Belastungen einher; es wird komplizierter soziale Kontakte zu pflegen oder ein geregeltes Familienleben zu führen. Für die ITK-Industrie verfolgen wir in der Arbeitszeitfrage eine Doppelstrategie: Uns ist klar, dass wir die Beschäftigten nicht einfach per Order davon abhalten können, länger zu arbeiten. Auf der anderen Seite versuchen wir aber auch deutlich zu machen, dass es eine Grenze für die tägliche und auch wöchentliche Arbeitseit geben muss. Wir wollen Beschäftigte, die großen Spaß an ihrer Tätigkeit haben, nicht ausbremsen. Wer allerdings auf eine normale 35-, 38- oder 40-Stunden-Woche überwechseln will, soll dies auch verwirklichen können, ohne von seinem Chef oder den Kollegen schief angesehen zu werden.

CW: Die IT-Experten gehören einer eher privilegierten Berufsgruppe an, mit einem Selbstverständnis wie Architekten oder Rechtsanwälte. Wie wollen Sie diese Klientel für eine klassische Arbeitnehmerorganisation wie die Gewerkschaften gewinnen?

Scheitor: IT-Experten fühlen sich sicherlich privilegiert. Ich komme selbst aus der IT-Industrie und habe dort unter anderem. als Projekt-Manager gearbeitet. Aus eigener Erfahrung kann ich daher sehr gut nachvollziehen: Der Computer ist ein sehr faszinierendes Instrument und es macht großen Spaß, mit diesem phänomenalen Werkzeug zu arbeiten. Bei IT-Experten herrscht aber durchaus auch ein Selbstverständnis vor, wie es beispielsweise hochqualifizierte Ingenieure haben, die sich außerordentlich stark mit ihrem Beruf und der Technik, mit der sie umgehen können, identifizieren. Daher sind wir recht zuversichtlich, dass wir diese Beschäftigtengruppe verstärkt für ein Engagement in Betriebsräten und Gewerkschaften gewinnen können. Auch die IT-Experten sind nicht davor gefeit, dass ihr Unternehmen Entlassungspläne auflegt oder die Gehälter kürzen will.

CW: Mit IG-Metall und Verdi konkurrieren in der ITK-In-dustrie derzeit zwei große DGB-Gewerkschaften um eine noch eher kleine Mitgliedschaft. Belebt auch in diesem Fall die Konkurrenz das Geschäft?

Scheitor: Konkurrenz belebt bei den Gewerkschaften nicht das Geschäft. Es ist ja gerade der Sinn von Gewerkschaften, die Konkurrenz der Beschäftigten untereinander gegenüber dem Unternehmen zu reduzieren und damit ihre Arbeitsbedingungen günstiger zu gestalten. Das Gleiche trifft auch für die Gewerkschaften selbst zu. Wir arbeiten im Deutschen Gewerkschaftsbund hart daran, dass es nicht zu einer schädlichen gegenseitigen Unterbietung sozialer Leistungen kommt, wie wir sie beispielsweise aus Großbritannien kennen.
Die ITK-Industrie ist sehr viel besser gewerkschaftlich organisiert als man gemeinhin denkt. Wenn man die Branche als Ganzes nimmt, sprechen wir von etwa 800 000 Beschäftigten. Davon sind gut 35 Prozent in DGB-Gewerkschaften organisiert. Diese Quote entspricht dem privatwirtschaftlichen Durchschnitt. Wenn man sich die einzelnen Segmente anschaut, differenziert sich jedoch das Bild. In der Telekommunikationsindustrie ist bei den Dienstleistern wie der Deutschen Telekom der Organisationsgrad durch Verdi sehr hoch. Bei den Herstellern wie Alcatel oder Siemens ist die IG-Metall sehr gut vertreten. In anderen Teilbereichen wie den IT-Dienstleistern und den Softwarehäusern ist die gewerkschaftliche Mitgliedschaft geringer. Natürlich geben sich weder IG-Metall noch Verdi mit dem vorhandenen Organisationsgrad zufrieden.

CW: Beim Thema neuer Ausbildungsberufe arbeitet die IG-Metall eng mit dem Branchenverband Bitkom zusammen. Den Erfolg bestätigen auch die Arbeitgeber. Sehen Sie weitere Kooperationsfelder mit der Industrie?

Scheitor: Das Thema Ausbildung, insbesondere die lebenslange Aus- und Weiterbildung, ist eines der Schlüsselthemen: Die Innovationsrate in der ITK-Industrie ist so hoch, dass für die Beschäftigten lebenslanges Lernen notwendig geworden ist. Das gilt im Übrigen nicht nur für die akademischen Berufe, sondern für alle Arbeitskräfte in der Branche. Wir haben in Zusammenarbeit mit dem Bitkom einiges erreicht. Nach wie vor aber mangelt es an klaren Berufsbildern mit verbindlichen Bezeichnungen, die für Beschäftigte, Personalleiter, Gewerkschaften und Manager als Orientierung dienen können. Es fehlt ein System der betrieblichen und überbetrieblichen Weiterbildung, das die Arbeitnehmer das ganzes Berufsleben begleitet. Damit der einzelne Weiterbildungssuchende auch einen qualifizierten Bildungsträger auswählt, müssen die Bildungsinstitutionen zertifiziert werden.
Last but not least stellt sich die Frage, wer die Weiterbildung bezahlt. Es ist vollkommen unzumutbar, dass ein Beschäftigter seine Weiterbildung, von der in erster Linie das Unternehmen profitiert, in seiner Freizeit ableisten und aus eigener Tasche finanzieren soll. Hier sehen wir haustarifliche Regelungen bei Compaq und Debis als beispielhaft an. In den genannten Firmen haben die Beschäftigten einen Anspruch auf mindestens eine Woche berufliche Weiterbildung pro Jahr. Eines unser Ziele ist es, solche Regelungen verbindlich auf die gesamte ITK-Industrie zu übertragen.