Die Janusköpfigkeit von "Informatik und Ökologie"

22.03.1991

Die noch recht junge Umweltinformatik kann auf eine umfangreiche und erfolgreiche Forschungstätigkeit zurückblicken; sie ist anerkannt und befindet sich - anders als verschiedene Technikwissenschaften - in keinem Rechtfertigungsnotstand. Im Gegenteil, die Akzeptanz in der Öffentlichkeit ist eher hoch.

Ihre Forschungsschwerpunkte haben sich ausdifferenziert und umfassen mittlerweile ein beachtliches Spektrum an Aktivitäten. Im Mittelpunkt steht das intelligente Sammeln und Aufbereiten von Daten mit den neuesten Methoden der Datenverarbeitung. Sie nutzt dabei vor allem Methoden der Prozeßdatenverarbeitung, der Prozeßkontrolle sowie der Non-Standard-Datenbanktechnik und setzt Modelle sowie Methoden der Bilddatenverarbeitung, Modellbildung, Simulation und Expertensysteme ein. Ihre Zielsetzung besteht wie Page, Jaeschke und Pillmann jüngst im Informatik-Spektrum formulierten, in der Nutzanwendung der Informatik zur Erarbeitung von Informationsgrundlagen und Maßnahmen zur Lösungkomplexer Fragen der Belastungsminderung und Schadensbekämpfung im Umweltschutz.

Aber nicht nur die Anwendungen der Informatiksysteme, -modelle und -methoden für den Umweltschutz können positiv bewertet werden. Der Einsatz von Mikroelektronik und Computern hat auch zur Ressourcenschonung, Energieeinsparung und Schadstoffreduzierung bei der Konstruktion von Maschinen und Anlagen, in der Verfahrenstechnik oder Energieversorgung geführt. Ihre Bedeutung wird erst dann deutlich, wenn man sich klarmacht, daß Mikroelektronik in die Rolle der Schlüsseltechnologie schlechthin hineingewachsen ist: Mikroelektronik bildet heute nicht nur die Grundlage für Büro- und Produktionstechniken, ohne sie sind Verkehrs-, Sicherheits-, Medizinsysteme oder Konsum- und Unterhaltungsprodukte undenkbar. Ich vermute, daß heute erst ein kleiner Teil der Möglichkeiten ausgeschöpft ist.

Die Möglichkeiten der Ressourcenschonung, Energieeinsparung und Schadstoffreduzierung durch den Einsatz von Mikroelecktronik und IuK-Techniken sind unumstritten. In diese Bilanz müssen die Umweltprobleme, die bei der Chip-Produktion und der Entsorgung des sogenannten Computerschrotts entstehen, als Negativposten mitaufgenommen werden. Welche Substanzen in den über hundert Fertigungsschritten beim fotografischen und galvanischen Beschichten, Imprägnieren, Laminieren, Ätzen, Reinigen, Aufdampfen etc. eingesetzt werden, ist bis ins letzte wohl nur wenigen Insidern bekannt. Es wird von über 3000 verschiedenen Chemikalien, darunter Arsen, Phosphin oder Schwermetallen wie Cadmium und Blei, gesprochen; die Langzeitwirkungen vieler Stoffe sind bislang nicht bekannt.

Gerechterweise muß allerdings hinzugefügt werden, daß zumindest die europäischen Chip-Produzenten sich dieser Problematik heute bewußt sind und einiges in die Vermeidung und Entsorgung investiert haben. Leichtfertigkeiten oder grobe Fahrlässigkeiten, wie sie in Silicon Valley offensichtlich lange an der Tagesordnung waren und zu Vergiftungen und Belastungen von Mensch sowie Umwelt geführt haben, sind in unseren Regionen nur schwer vorstellbar.

Diese Umweltproblematik, die allerdings auch noch nicht als gelöst eingestuft werden kann, soll hier ebensowenig im Mittelpunkt stehen wie die Entsorgung des Computerschrotts.

Derzeit fallen in der Bundesrepublik der Wochenzeitung "Die Zeit" vom 30. Juni 1989 zufolge jährlich etwa 25 000 Tonnen Elektronikschrott und 6500 Tonnen Computerschrott an, bei zirka elf Millionen genutzten Rechnern und einer geschätzten Zuwachsrate von fünf bis zehn Prozent.

Neben lohnenswerten wiederverwertbaren Stoffen wie Kupfer, Gold, Silber, Palladium und Platin kommen in Leiterplatten und Gehäusen Kunststoffe vor, denen flammenhemmende Stoffe beigemischt sind. Werden diese in herkömmlichen Müllverbrennungsanlagen entsorgt, so entstehen hochgiftige bromierte Dioxine und Furane. Umweltschützer und Entsorgungsexperten streiten sehr heftig darüber, ob durch Pyrolyse-Verfahren und Temperaturen von über 1200 Grad Dioxine und Furane ausreichend zerstört werden. Unstrittig scheint lediglich zu sein, daß bislang nur ein geringer Prozentsatz des anfallenden Schrotts auf diese Weise entsorgt wird.

Ich möchte vielmehr die Frage ins Blickfeld rücken, ob und wieweit Informatik und Informatikprodukte beteiligt sind an der zunehmenden Beschleunigung und Globalisierung industrieller Wirtschafts- und Lebensweisen, die, wie Klaus Meyer-Abich befürchtet, das ökologische Grundkapital unseres Planeten schneller verbraucht, als es hergestellt werden kann.

Diese Fragestellung ist nicht so ganz neu, bereits bei der denkwürdigen von Bossel und Simon veranstalteten Tagung "Computer und Ökologie" im Jahre 1985, wurde diese Thematik aufgeworfen. Exemplarisch dafür steht ein Diskussionsbeitrag von Ebbinghaus:

Diese Beziehung hat zur Entfaltung der Produktivkräfte in einem Ausmaß beigetragen, das in der Tat nur in Visionen vorausgeahnt worden war, mit der Folge immer weiterer "Entgrenzungen" in der Nutzung von Zeit und Raum und zur "Grenzenlosigkeit" im Gebrauch von Energie, Rohstoffen und Landschaft. Dem entspricht, was heute Alltagserfahrung ist: die rastlose Erzeugung neuer Produkte und Verfahren, das industrielle Eindringen in die letzten Zonen der Natur, die Ausbeutung verbliebener Zeitreservate.

Dieser Prozeß ist begleitet von einem im letzten Jahrzehnt in kaum vorstellbarem Maße erweiterten Umweltbewußtsein sowie finanziellen Anstrengungen, die nicht zuletzt darauf ausgerichtet sind, durch massiven Einsatz von Umwelttechnik die voranschreitenden Umweltzerstörungen unter Kontrolle zu bringen. Die Erfolge sind selbst in unseren nationalen Grenzen begrenzt, wohl nicht zuletzt auch deshalb, weil der Wettlauf zwischen der Ökologie-orientierten Informatikwissenschaft auf der einen Seite und den Beschleunigungen und Globalisierungen der Volkswirtschaften andererseits, mitermöglicht durch Informatikforschungen und -produkte, nicht zu gewinnen ist.

"Die zentrale Frage ist: Wie wirkt sich die Computerisierung insgesamt ökologisch aus? Wenn wir uns einmal umsehen, wo denn die Computer hauptsächlich eingesetzt werden, dann finden wir an erster Stelle Betriebswirtschaft, Finanzwesen, Management-Informationssysteme, Datenbanken, Bürokommunikation, Textverarbeitung, Robotertechnik usw. Hier geht es überall um Rationalisierung, und das heißt: Die menschliche Arbeitskraft wird effizienter gemacht und mehr oder weniger eingesetzt. Dabei lohnen sich Computer offensichtlich eher als bei der Optimierung der Nutzung von natürlichen Ressourcen. Der Computer ist das Steuerungsinstrument für den Wirtschaftsprozeß, der von der Ausbeutung der Natur lebt. Dieser Prozeß. . . wird mit Hilfe von Computern immer effizienter. Damit beschleunigt sich die Industrialisierung aller Lebensbereiche mit all ihren Folgen. Das Kernproblem ist, wie wir dem entgegenwirken können. "

Es ist unbestritten, daß Mikroelektronik und Informatiksysteme wichtiges zu unserem heutigen ökonomischen Wohlstand beigetragen haben. Aus der Perspektive der Ökologie ziehen die durch die Informatik mitverursachten Produktivitätssteigerungen in der geltenden Logik der Wachstumsorientierung neue Nachfragen nach sich, es werden also immer mehr und neue Produkte und Dienstleistungen erzeugt. Informatik und Ökonomie verknüpfen sich, wie Michael Müller und Klaus Meyer-Abich es formulieren, zum Credo des "schneller, höher, weiter".

Die Globalisierungen der Volkswirtschaften werden unterstützt durch weltweite Vernetzungen von Computersystemen; IuK-Techniken übernehmen hier die Funktion des Trend- und Strukturverstärkers vorhandener ökonomischer Zielsetzungen und Leitbilder. Insbesondere Globalisierungen haben unsere Wohlstandsentwicklung mitgetragen, zugleich haben sie die unter ökologischen Aspekten besonders bedenklichen Transportnotwendigkeiten und den Energiebedarf in Riesenschritten vorangetrieben.

Wie können Informatiker mit der "Janusköpfigkeit" der Beziehung Informatik und Ökologie umgehen? Der Politiker Peter Glotz empfiehlt, die ökologischen Schäden, die durch die ökonomische Nutzung der modernen Technik angerichtet worden sind und werden, angesichts der Weltwirtschaftslage im ausgehenden 20. Jahrhundert primär durch noch modernere Techniken zu beheben, jedenfalls den Versuch zu wagen, sie auf diese Weise einzugrenzen. In diesem Verständnis spricht einiges für das Fortbestehen der vorhandenen Arbeitsteilung: hier Infolmatiker, die sich ganz auf die Forschung und Entwicklung Beschleunigung und Globalisierung konzentrieren, dort Umweltinformatiker, die vielleicht auch einen Teil Sisyphusarbeit leisten.

Ein anderer Weg wurde von dem Physiker Jochen Benecke auf der erwähnten Konferenz "Computer und Ökologie" gezeigt; in einem Diskussionsbeitrag sagte er: "Ich sehe das so, daß wir mit der Wissenschaft, die wir haben, und der daraus abgeleiteten Technik die ganzen Belastungengeschaffen haben, unter denen wir jetzt leiden. Und Sie wollen mit derselben Art Wissenschaft an die Probleme im Sinne einer Milderung oder Akzeptanzforschung herangehen. Ich bin überzeugt, daß wir mit den üblichen fachspezifischen wissenschaftlichen Methoden gar nicht dazu in der Lage sind, die Fragen zu stellen, die gestellt werden müßten, um die Probleme wirklich zu lösen. Wir brauchen vielmehr eine andere Art wissenschaftlicher Methoden, die es zulassen, andere Fragestellungen mit einzubeziehen und genauso ernstzunehmen wie irgendwelche Fragestellungen aus Chemie und Physik".

Ich schlage den Weg vor, sich mit der Janusköpfigkeit des Verhältnisses auseinanderzusetzen und diese Beziehung zu einem Teil der Umweltinformatik zu machen, ihre bisherige Orientierung also um diesen Strang zu erweitern. Sie wird dann vermutlich auch zu Fragen kommen, wie Komplexität, Beschleunigung und Globalisierung der Ökonomie unter ökologischer Perspektive zu beherrschen sind. Indem sie diesen Weg wählt, öffnet sich die Informatik für Fragen der Ethik und Verantwortung.

Arno Rolf, Universität Hamburg, Fachbereich Informatik