Das Ende der Sprachlosigkeit

19.04.2001
Von Martin Jahrfeld
New Economy und Gewerkschaften konnten in der Vergangenheit wenig miteinander anfangen. Mit der Krise des Dotcom-Business soll sich das ändern. Doch die Funktionäre fremdeln gegenüber der neuen High-Tech-Elite, die Arbeitgeber mauern, und IT-Mitarbeiter trauen sich oft nicht, einen Betriebsrat zu fordern.

Die Reportagen aus der Schönen Neuen Welt sind noch in lebhafter Erinnerung: Bilder von schicken Großraumbüros, in denen junge Teams die Programme der Zukunft schreiben, Börsenwerte in die Höhe treiben, und dabei - ganz nebenbei - die Gesetze der Wirtschaft neu definieren. Porträts von 23-jährigen Unternehmern, die in zwei Jahren mehr Geld akkumulieren als ein erfolgreicher Handwerksmeister in seinem gesamten Berufsleben - Glückskinder einer Arbeitswelt, in der es keine Stechuhren, Hierarchien, und Langeweile mehr gibt, sondern Spaß, Gleichberechtigung und eine Technologie, deren Horizont grenzenlos scheint.

Quelle: Horst Moser
Quelle: Horst Moser

Geschichten von Angestellten, denen das Büro längst die bessere Wohnung geworden ist: Pizza-Service für alle, Ayurveda-Massagen bei Bedarf, Freunde ringsum, Happy Hour um Mitternacht. Der erfolgreiche Start-Upper und seine Kollegen wurden zu Leitbildern einer neuen Epoche, in der der alte Konflikt zwischen Kapital und Arbeit endgültig auf dem Müllhaufen der Geschichte landet.

Vorbei der Traum: Trendblätter, die noch vor Monaten Lobgesänge auf die Helden des Neuen Marktes anstimmten, beeilen sich heute, ihre Leser über die Lebenslügen der New Economy aufzuklären. Doch nicht nur Anleger und Journalisten, auch viele Beschäftige der IT-Branche ahnen mittlerweile, dass ihre Arbeitswelt möglicherweise doch nicht so paradiesisch ist, wie sie lange Zeit geglaubt haben: "Wenn man ständig 60 Wochenstunden arbeitet und dann gesagt bekommt, man könne gehen, wenn es einem hier nicht gefalle, kommt man schon ins Grübeln", sagt ein Angestellter einer großen Software-Firma, der mit dieser Aussage - welch Wunder - nicht namentlich genannt werden will.

Die anonyme, und somit konsequenzlose Artikulation von Unzufriedenheit ist typisch für die Branche. Netzangebote wie die US-Website "netslaves. Com", auf der IT-Angestellte ihrem Frust ungehemmt Luft machen können, haben sich inzwischen zu unverzichtbaren Kummerkästen für die Programmierergemeinde entwickelt.

Dass die neue Arbeitswelt aus Teamgeist, lockeren Umgangsformen und schier unbegrenzter Motivation nur bei schönem Wetter funktioniert und zu bröckeln beginnt, sobald sich der wirtschaftliche Horizont verdüstert, ist heute an vielen Arbeitsplätzen spürbar: Die Unternehmenskultur der New Economy mag im Vergleich zu traditionellen Industrie- und Dienstleistungsbranchen unkomplizierter und hierarchieärmer erscheinen, tatsächlich jedoch mangelt es ihr an geeigneten Institutionen zur Bewältigung von Konflikten.

"Wir erhalten seit einigen Wochen verstärkt Anrufe von IT-Angestellten, die von uns wissen wollen, wie man einen Betriebsrat einrichtet", berichtet Wolfgang Müller, der für die IG Metall in München die IT-Branche betreut. Die Gründe für diese Anfragen liegen für den Gewerkschafter auf der Hand: "Viele Unternehmen haben ihre Mitarbeiter mit Aktienoptionen zu motivieren versucht. Häufig dienten diese Optionen als Kompensation für eher mäßige Einstiegsgehälter. Doch nachdem die Kurse abgestürzt sind, fühlen sich viele Angestellte betrogen. Gleichzeitig wächst der Frust über die sonstigen Arbeitsbedingungen, etwa die vielen Überstunden oder die hohe Mitarbeiterfluktuation."

Die Arbeitnehmervertreter der Old Economy wittern angesichts dieser Situation Morgenluft: "Mit dem Kursverfall der Internet-Werte und den zunehmenden Arbeitsplatzgefährdungen steigen die Sympathien für die gute alte Gewerkschaftsbewegung", glaubt der zweite IG-Metall-Vorsitzende Jürgen Peters. In den nächsten Jahren will die Gewerkschaft ihre Aktivitäten in der IT-Branche deutlich ausbauen. Angestrebt werden dabei vor allem tarifvertragliche Regelungen der Arbeits- und Einkommensbedingungen, die den speziellen Interessen der rund 433 000 IT-Beschäftigten in Deutschland gerecht werden sollen.

Der 25-jährige Programmierer als Jungbrunnen eines Interessenverbandes, der selbst bei den Angestellten traditioneller Wirtschaftszweige immer weniger Unterstützung findet? Dass Softwareentwickler künftig zu Tausenden in die Gewerkschaft eintreten, ist ebenso unwahrscheinlich wie die massenhafte Gründung von IT-Betriebsräten in der Branche. Tatsächlich wird die aktuelle Zahl der gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten in der New Economy auf ein Prozent geschätzt. Die Existenz von Betriebsräten ist selbst in größeren Softwarehäusern noch immer eine Ausnahme, von entsprechenden Interessenvertretungen bei kleineren Startups ganz zu schweigen.

Die Debatte über die Ausgestaltung dieser Regulationsformen hat gerade erst begonnen: Noch zaghaft sind die Kontakte zwischen IT-Vorständen und Gewerkschaftern, die etwa im Rahmen eines gemeinsamen Forschungsprojekts von Bertelsmann-Stiftung und der DGB-nahen Hans-Böckler-Stiftung stattfinden, noch wenig aussagefähig auch die Erkenntnisse, die sich aus derartigen Studien gewinnen lassen.

Der Arbeitswissenschaftler Werner Dostal vom Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung bedauert, dass sich die Betrachtung bisher auf Extrembeispiele konzentriert: Auf der einen Seite der jugendliche, hoch qualifizierte und mobile IT-Akteur, der ohne Familienpflichten und soziales Gewissen seinen Weg geht, und auf der anderen Seite ein Old-Economy-Angestellter, dessen Arbeitsleben im Rahmen tariflicher Rahmenbedingungen und institutioneller Garantien weitgehend kalkulierbar und sozial gesichert ist. Für Dostal taugen beide Leitbilder nicht dazu, Erkenntnisse über die Erwerbsarbeit der Zukunft zu gewinnen.

Die lässigen, eitlen Selbstinszenierungen der New Economy sind für eine funktionierende Unternehmenskultur jedenfalls genauso wenig hilfreich wie die überkommenen Regeln eines Industriezeitalters, dessen starre Rollenverteilungen von den Traditionalisten glorifiziert werden. Die Mehrheit der Top-Entscheider und Personalchefs in der IT-Branche beschwört mit Blick auf ihre Mitarbeiter dagegen das Bild der "intelligenten Individualisten", die selbstbewusst genug seien, um ihre Anliegen eigenständig und ohne kollektive Interessenvertretung vortragen zu können. "Wir sind ein Unternehmen der flachen Hierarchien, die Wege zu den Chefs sind kurz, wer Kritik vorbringen will, findet immer offene Türen", sagt Manuel Dohr, Personalchef beim Münchener Dokumenten-Software-Hersteller Ixos. 

Matthias Schmidt-Pfitzner, Vorstand der Ricardo AG
Matthias Schmidt-Pfitzner, Vorstand der Ricardo AG

Matthias Schmidt-Pfitzner, Vorstand des Internet-Auktionshändlers Ricardo, sieht die Dinge ähnlich: "Jeder kann in mein Büro kommen. Wir sind ein langsam wachsendes Unternehmen von derzeit 109 Leuten. Was bringt da ein Betriebsrat?" Die Tatsache, dass die Aktienoptionen der Ricardo-Mitarbeiter nach den Kursstürzen wertlos sind, beunruhigt den 34-jährigen nicht: "Jeder im Unternehmen - auch ich - hat sich sehenden Auges auf dieses Geschäft eingelassen. Das ist eine Frage persönlicher Risikobereitschaft. Deshalb besteht jetzt auch kein Grund zur Klage." Aktienoptionen für Mitarbeiter hält der Ricardo-Chef auch künftig für sinnvoll: "Wir werden neue Tranchen ausgeben. Durch den derzeit niedrigen Kurs sind diese Optionen dann auch wieder für unsere Mitarbeiter interessant."

"Flache Hierarchien", "offene Türen" und das Betonen individueller Leistungs- und Risikobereitschaft sind die Zauberworte, mit denen viele Chefs sich gegen kollektive Verhandlungsformen und institutionelle Arrangements in ihren Unternehmen wehren. Wer sich an der Basis umhört, dem kommen jedoch Zweifel an der Plausibilität dieser Argumentation. Denn längst nicht jeder Mitarbeiter, der seine Arbeitsbelastung als zu groß empfindet, unter schlechter Arbeitsorganisation leidet oder sich unterbezahlt fühlt, findet den Weg durch die vielbeschworene offene Chefzimmertür.

Mindestens ebenso gängig ist der Weg in die innere Emigration, eine Vorstufe zur Kündigung. Angesichts attraktiver Alternativen, die der IT-Arbeitsmarkt besonders für Entwickler und Vertriebsleute im Überfluss bietet, ist dieses Verhalten für den Betroffenen einfacher als der einsame Clinch mit dem Vorgesetzten.

Die Strategie des stillen Abschieds aus dem Unternehmen ist dabei mitunter im Interesse des Chefs, denn sie trägt dazu bei, den Personalbestand flexibel zu steuern. Der Personalchef eines Münchener Softwarehauses, das sich im vergangenen Jahr aufgrund verschlechterter Auftragslage zum Abbau von 100 Stellen gezwungen sah, erklärt dies so: "Bei einem Stellenabbau spreche ich mit einer Reihe von Leuten einfach nicht mehr, ich zeige ihnen keine Perspektiven im Unternehmen mehr auf, ich beschäftige mich nicht mehr mit ihnen. Der Arbeitsmarkt ist so gut, da kommen die Kündigungen dann ziemlich schnell von selbst."

Eine solche Personalpolitik fördert langfristig wohl kaum die Attraktivität eines Unternehmens. Untypisch ist sie deshalb noch lange nicht. Dem US-Soziologen Richard Sennett beispielsweise gelten Phänomene wie stiller Abschied und stumme Ausgrenzung gar als inhärente Merkmale der New Economy: "Der neue Kapitalismus erzeugt eine durchgehende Unsicherheit, nicht nur bei den Verlierern, auch bei den Gewinnern geht jede Gewissheit verloren".

Die beruflichen Anforderungen seien auf Elastizität und stete Veränderbarkeit angelegt, der Stellenwert des Einzelnen bleibe nebulös. Preis dieser Flexibilisierung sei der Verlust arbeitsweltlicher Identität und Bindung, ein Phänomen, dass Sennett als "Drift" bezeichnet: Das ziellose und letztlich gleichgültige Dahintreiben zwischen immer neuen Aufträgen, Jobs und "Projekten".

Dass die Gewerkschaften für diese Probleme Konzepte parat hätten, behaupten nicht einmal die Gewerkschaften selbst. Doch fast ebenso groß wie ihr Mangel an Antworten scheint auch ihre Sprachlosigkeit gegenüber der IT-Branche: "Die Gewerkschaften besitzen keine Strategie, um mit IT-Beschäftigten ins Gespräch zu kommen", kritisiert Hannes Oberlindober, Mitinhaber von Tekomedia, einem mitarbeitergeführten Call-Center, das einst von gekündigten Call-Center-Angestellten der Bochumer City-Bank gegründet wurde.

Nach Ansicht des langjährigen Gewerkschaftsaktivisten Oberlindober sind traditionelle Betriebsräte und tarifliche Rahmenbestimmungen kaum geeignet, um an diesem Dilemma etwas zu ändern. "Die Gewerkschaften müssen lernen, dass es darum geht, die Köpfe der Menschen zu erreichen. Dazu bedarf es völlig anderer Ansätze als in der Vergangenheit." Eine Chance bestehe nur dann, wenn es den Gewerkschaften gelinge, "mit den Sinnstiftungsangeboten der Unternehmen zu konkurrieren".

Die Personalführung der Unternehmen samt ihrer Attribute aus informellem Teamgeist und vermeintlicher Hierarchiearmut, seien bei näherer Betrachtung zwar oft nicht mehr als ein "Reflex auf die Spaßgesellschaft", jedoch - so glaubt Oberlindober - gerade aus diesem Grunde für junge Leute sehr attraktiv. Für die Gewerkschaften müsse es aber darum gehen, zu verdeutlichten, dass auf dieser Basis langfristig keine tragfähige Unternehmenskultur entstehen kann. Denn dass kostenlose Obstkörbe am Arbeitsplatz, das Duzen der Vorgesetzten und bunte Events nichts mit realer Partizipation an der Unternehmensentwicklung zu tun haben, steht für ihn außer Zweifel.

In seiner Firma Tekomedia, die auf der Basis "repräsentativer Demokratie" geführt wird, ist ein Teil der 25 Mitarbeiter Anteilseigner, unternehmensstrategische Entscheidungen werden von allen Beschäftigten in intensiven Meetings und durch den Austausch übers Intranet vorbereitet und getragen. Die Lohnunterschiede und Karrierechancen der Beschäftigten seien eher gering, die Bindung an die Firma jedoch sehr hoch. Zwar seien die Meetings der Gesamtbelegschaft häufig zeitraubend, jedoch ist der Unternehmer von dem wirtschaftlichen Erfolg dieses Ansatzes überzeugt: "In kommunikationsbasierten Unternehmen ist die Wertschöpfung in der Regel immer am Größten."

Dass Partizipationsmodelle nicht nur in mitarbeitergeführten Kleinunternehmen funktionieren, sondern - in abgeschwächter Form - auch für größere, börsennotierte IT-Firmen Früchte tragen können, zeigt das Beispiel der Arxes Information Design AG in Aachen: Die Interessen der 1380 Mitarbeiter der Softwarefirma werden hier nicht durch einen Betriebsrat, sondern im Rahmen eines runden Tisches repräsentiert. Teilnehmer dieser monatlich stattfindenden Veranstaltung sind Vertreter aus sämtlichen Abteilungen, die von den dortigen Mitarbeitern für ein Jahr gewählt werden und anschließend neu kandidieren müssen.

Peter Boltersdorf, Personalmanager bei Arxes, legt Wert auf die Feststellung, dass die Round-Table-Mitarbeiter ähnlich Betriebsräten mit eine Reihe "exklusiver Rechte" ausgestattet seien: Unternehmensstrategische und arbeitsorganisatorische Probleme würden hier genauso verhandelt wie klassische Arbeitnehmeranliegen. "Da wird oft sehr hart und kontrovers diskutiert", sagt Boltersdorf, der das Gremium auch nach der jüngsten Expansion von Arxes nicht missen will: "Wir haben neue Standorte in anderen Städten erworben, wo wir ähnliche Kommunikationsplattformen etablieren wollen."

Viele Mitsprachemodelle scheinen möglich zu sein. Jedenfalls solange diese Modelle nicht Betriebsrat heißen und auch nicht die selben Rechte wie dieses Gremium haben. Ein IT-Unternehmen wie die BOV AG in Essen leistet sich beispielsweise für ihre rund 300 Mitarbeiter einen ausgebildeten Sozialpädagogen, der zwar nicht von der Belegschaft gewählt wurde, aber ähnliche Aufgaben wie ein Betriebsrat hat. Die Förderung der sozialen und kommunikativen Kompetenz der Belegschaft, etwa im Rahmen von Weiterbildungsmaßnahmen, so Unternehmensgründer Stefan Wiesenberg, sei Bestandteil einer "mehrdimensionalen Mitarbeiterentwicklung", die für den Erfolg des Unternehmens unerlässlich sei.

Vor diesem Hintergrund entwickelt der 33jährige auch unorthodoxe Methoden: So unterstützen BOV-Mitarbeiter im Nordosten Brasiliens im Rahmen eines Entwicklungsprojektes den Aufbau einer Computerschule. Für Wiesenberg ist dieses karitative Engagement nicht nur eine Frage der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung seines Unternehmens, sondern ebenso ein Mittel zur Motivation der Mitarbeiter: "Wenn jemand auf einer Party erzählt, an welcher Software er gerade schreibt, interessiert das niemand. Wenn er aber als Entwicklungshelfer in Brasilien war, ist das eine spannende Sache."

Dritte-Welt-Engagement statt tariflicher Absicherung? Runder Tisch statt Betriebsrat? Kommunikative Kompetenz statt institutioneller Garantie? Sind derartige Ansätze in der New Economy tatsächlich Alternativen zu den etablierten Mitbestimmungsformen der Vergangenheit? Oder kaschieren sie lediglich mit allerlei Einfallsreichtum den auch in der Informationsgesellschaft nicht verschwundenen Grundkonflikt zwischen Chef und Angestelltem?

Sicher ist eins: Die Verantwortlichen in den Unternehmen wie auch die der Gewerkschaften sollten sich beeilen, ihre zaghaft begonnenen Lernprozesse auf diesem Terrain auszubauen. Denn erst wenige IT-Chefs haben bisher erkannt, dass in einer Ökonomie, in der menschliches Wissen die alles entscheidende Ressource darstellt, die Abkoppelung der Mitarbeiter von den unternehmerischen Entscheidungen auf Dauer nicht zum Erfolg führt. Und nur wenige Gewerkschafter wissen bis heute, dass die Beschäftigten der New Economy nicht über starre Institutionen, sondern nur über zeitgemäße Dialogformen zu erreichen sind.