ABB Kraftwerksleittechnik betritt objektorientiertes Neuland Corba-Implementierung macht Einzelanwendungen zum System CW-Bericht, Karin Quack

18.11.1994

MUENCHEN - Die Geschwindigkeit der Projektrealisierung ist der Wettbewerbsvorteil, den die ABB Kraftwerksleittechnik GmbH, Mannheim, fuer sich reklamiert. Um diesen Vorsprung gegenueber der Konkurrenz zu halten, hat die ABB-Tochter ein elektronisches Engineering-, Dokumentations- und Servicesystem (EDS) entwickelt, dessen einzelne Anwendungen ("Tools") mit Hilfe eines Object Request Brokers integriert werden.

Als Ende September auf der "Object World Germany" der Preis fuer die beste objektorientierte Implementierung einer verteilten Anwendung verliehen wurde, nahm ein freudestrahlender junger Mann die Trophaee entgegen: Richard Hubert, Geschaeftsfuehrer, Berater und Software-Ingenieur bei der Interactive Objects Software GmbH (IO Software) aus Elzach im Schwarzwald. Der gebuertige Amerikaner ist Mitglied eines vierkoepfigen Teams, das die preisgekroente Anwendung realisiert hat: den "EDS-Navigator" der ABB Kraftwerksleittechnik (KWL).

Die 800koepfige KWL gehoert zu den weltweit mehr als 1000 Gesellschaften der Asea Brown Boveri AG, Zuerich. Sie liefert Leitsysteme, die speziell auf die Belange von Stromerzeugern abgestimmt sind. Nach Angaben von Gerd Hartkorn, als Prokurist fuer die Entwicklung rechnergestuetzter Abwicklungssysteme verantwortlich, muss ein solches System einen hohen Verdichtungsgrad anbieten: Informationen unterschiedlichster Art laufen in einer Konsole zusammen, die im Regelfall von einer einzigen Person bedient wird.

Dieser Anforderung will die ABB-KWL mit ihrem Kraftwerk-Leitsystem "Procontrol P" gerecht werden. Das System arbeitet mit Hardware von Digital Equipment - derzeit noch VAX-Rechner, demnaechst auch Alpha-Workstations - und basiert auf einem selbstentwickelten Bus- System. Um die Planung und Inbetriebnahme der Leitsysteme zu verkuerzen, also um Kosten zu sparen, begannen die KWL-Entwickler vor ungefaehr drei Jahren mit der Konzeption eines Software- unterstuetzten Engineering-, Dokumentations- sowie Servicesystems (EDS). Unter anderem sollte auf diese Weise sichergestellt werden, dass Dokumentation und System, aber auch das am Rechner erstellte Modell und die Realisierung im Geraetespeicher stets konsistent bleiben.

Mit Hilfe des "lebenden Funktionsplans" werden Aenderungen im Entwurf direkt in die Leitanlage uebertragen, und Erweiterungen am Leitsystem schlagen automatisch auf das Modell sowie die Dokumentation durch. Der Hersteller profitiert nicht nur von der Zeitersparnis, sondern auch dadurch, dass er praktizieren kann, was derzeit unter dem Stichwort Concurrent Engineering in aller Munde ist: die gleichzeitige Arbeit an unterschiedlichen Teilproblemen.

Das bislang in zwei Versionen - fuer die innere und fuer die periphere Leittechnik - lieferbare System wurde fuer Ultrix- und OSF/Motif-basierte Client-Server-Systeme konzipiert und nutzt das relationale Datenbank-Management-System Oracle. Es setzt sich aus einer Reihe unterschiedlicher Einzelanwendungen zusammen, die alle Phasen der Projektabwicklung begleiten sollen. Dazu gehoeren unter anderem ein Funktionsplan-Editor sowie eine Messkomponente, eine Anwendung fuer die Antriebskontrolle und ein Kommunikations-Tool. Diese zu einem Teil in C++, zu einem anderen mit Oracle Forms programmierten Applikationen in ein Gesamtsystem zu integrieren, ist das Ziel des EDS-Navigators.

Das Projektteam, das diese Integrationsplattform umgesetzt hat, wird von dem KWL-Mitarbeiter Hans-Josef Verheyen geleitet. Der Diplominformatiker definiert die Aufgaben des Werkzeugs folgendermassen: Die Anwendungen werden in einer zentralen Konsole zusammengefasst, und dieses Tool-Angebot laesst sich kontextsensitiv steuern - in Abhaengigkeit von den selektierten Projektdaten, den vom Kunden definierbaren Benutzerrechten und der jeweiligen Systemkonfiguration. Die uebersichtliche Darstellung der Projektdaten, die schnelle Navigation durch die Datenstrukturen und die Tool-Aufschaltung mit oder ohne zugehoerige Daten gehoeren zu den Kernfunktionen, die das System wahrnehmen soll. Darueber hinaus war angestrebt, neben der Anbindung an einen zentralen Software-Bus Querverbindungen zwischen den einzelnen Applikation zu schaffen, um Daten von einer Anwendung ohne Umweg in eine andere uebernehmen zu koennen.

Im Maerz dieses Jahres erst in Angriff genommen, soll der EDS- Navigator Ende dieses Jahres bereits in einer Version vorliegen, die fuer die mit Planung und Inbetriebnahme befassten KWL- Mitarbeiter einsetzbar ist. Diese - intern mit der Release-Nummer 2.0 belegte - Ausfuehrung wird ueber Zugangsschutzfunktionen und einen Konfigurations-Server verfuegen. Das fuer Mitte 1995 geplante Release 3.0 ist dazu ausersehen, auch an die Kunden ausgeliefert zu werden. Neben anderen Features bietet es, so verspricht Hartkorn, eine Release-Verwaltung.

IO Software stiess vor knapp zwei Jahren als Partner von Digital Equipment zu ABB-KWL. Das 1990 gegruendete Software-Unternehmen hat sich auf die Realisierung von C++-Projekten spezialisiert und fungiert seit kurzem als Vertriebspartner der Iona Technologies Ltd., die unter der Bezeichnung "Orbix" eine Implementierung der von der Object Management Group (OMG) spezifizierten "Common Object Request Broker Architecture" (Corba) anbietet.

Der Object Request Broker (ORB) des irischen Unternehmens bildet auch die Basis fuer das Rueckgrat des EDS-Navigators, den "Job- Controller". Die einzelnen Tools sind jeweils in eine C++-Schale eingekapselt sowie ueber eine selbstentwickelte Schnittstelle - im KWL-Jargon "Accessor" genannt - mit dem Job-Controller und miteinander verbunden.

Eigenen Aussagen zufolge war Hartkorn nicht von Anfang an auf eine ORB-Anwendung fixiert. Vielmehr habe er auch andere Moeglichkeiten erwogen. Zur Debatte gestanden habe beispielsweise eine Realisierung mit Hilfe von Remote Procedure Calls oder auch mit Oracle-Triggers, wobei er die datenbankbasierte Loesung allerdings als "heikel" beurteile.

Die mit Hilfe eines ORBs moegliche Funktionalitaet hat den Abteilungsleiter ueberzeugt. Insbesondere fuehrt er in diesem Zusammenhang den Fehlermeldungsmechanismus ("Exception Handling") an, der in den Corba-Spezifikationen enthalten und in Orbix implementiert sei. "Das war fuer mich ein wichtiger Grund, Orbix zu unterstuetzen", konstatiert Hartkorn.

Die vom ORB gelieferten Funktionen clever genutzt

Als nuetzlich bezeichnet der Kraftwerksexperte darueber hinaus die Moeglichkeit, sofort zu erkennen, welches Tool bereits gestartet wurde. Das sorge fuer Klarheit bei den Benutzern und fuer einen sparsamen Umgang mit Speicherressourcen. "Wir haben sogar einen Trick gefunden, wie wir das auch mit den Forms-Anwendungen hinbekommen", freut sich der KWL-Prokurist. Ergaenzt Hubert: "Die von Orbix gelieferte Funktionalitaet haben wir nur ausnutzen muessen."

Ein weiterer Vorteil der ORB-Implementierung besteht laut Hartkorn darin, dass sie sich gut fuer eine verteilte Verarbeitung eignet. Waehrend der Anwender an der Oberflaeche mit einem Funktionsplan beschaeftigt sei, koenne im Hintergrund eine zuvor definierte Tool- Kette ablaufen. Das System selbst ist zwar als verteilte Anwendung realisiert, residiert bislang aber physisch auf einem einzigen Rechner.

Als die Entscheidung fuer eine Corba-Implementierung gefaellt werden musste, war Orbix, so Hartkorn und Hubert, das einzige am Markt verfuegbare Werkzeug, das C++ und statisches Binding unterstuetzte. Das von Digital Equipment offerierte ORB-Produkt ermoeglichte lediglich ein dynamisches Binding, was zwar die Flexibiltaet erhoeht, dafuer aber zu Lasten der Performance geht. Und die hatte fuer die KWL oberste Prioritaet.

Konsequent hat das EDS-Navigator-Team auf am Markt vorhandene Softwarekomponenten zurueckgegriffen. Neben Orbix nutzte es die Klassenbibliotheken View.h++ und Toolspro.h++ sowie den Klassengenerator RWCgen von Rogue Wave. Darueber hinaus kam der GUI-Builder UIM/X von Visual Edge zum Einsatz, der C++- Schnittstellen zu Motif als View.h++-Klassen generiert. Wie Hubert erlaeutert, haben fertige Klassenbibliotheken den Vorteil, dass sie nicht mehr getestet werden muessen. Sein Credo: "Jede Minute, die wir verwenden, um Low-level-Funktionalitaet zu programmieren, ist verlorene Zeit."

Unternehmensprofil

Die ABB Kraftwerksleittechnik GmbH ist Teil der deutschen Asea Brown Boveri AG, Mannheim, und gehoert zugleich dem weltweit operierenden ABB-Bereich Power Plant Control (PPC) an. Das rund 30 Jahre alte Unternehmen plant und realisiert Leittechnik-Systeme fuer Kraftwerke und Muellverbrennungsanlagen. Zum Ende des vergangenen Jahres beschaeftigte es 840 Mitarbeiter. Der Umsatz lag 1993 mit 424 Millionen Mark um fast ein Viertel hoeher als im Jahr zuvor.