Leitplanken für IT und Maschinenbau

Wachstumschancen durch Industrie 4.0

28.09.2014
Von  und
Bernd Seidel ist freier Journalist und Coach in München.
Florian Harbeck ist Journalist der Agentur Bernd Seidel & Friends in München.
"Industrie 4.0" stützt sich auf das "Internet der Dinge", das die Trennung von virtueller und realer Welt weitgehend aufhebt. Damit die vierte Revolution in Produktion und Fertigung die propagierten Vorteile bringt und nicht als Strohfeuer endet, bedarf es neben einer verlässlichen Referenzarchitektur auch klar definierter Spielregeln.

Schon heute ist das Internet der Dinge in vielen Lebensbereichen Realität: im Haushalt, in der Unterhaltungselektronik und in Fahrzeugen. Mit der vierten industriellen Revolution hält es nun auch Einzug in der Fertigung, besonders durch intelligente Fabrikanlagen. Maschinen und Systeme "reden mit" und lassen sich ansprechen. Im Verborgenen arbeiten eingebettete Computersysteme, die, mit dem Internet vernetzt, dem Benutzer Annehmlichkeiten ermöglichen sollen. Für Produktionsanlagen heißt das: Anlagen steuern sich selbst, Werkstücke, die über Produktionsstraßen laufen, bestimmen, wohin sie transportiert und wie sie weiterverarbeitet werden wollen. Dadurch soll die Produktion flexibler werden, Produkte mit kürzeren Lebenszyklen und eine wirtschaftliche Einzelfertigung sind realistisch.

Leitplanken für IT und Maschinenbau
Leitplanken für IT und Maschinenbau
Foto: LE image, Fotolia.com

Bislang wurden allerdings die Chancen hauptsächlich aus Sicht der IT- und TK-Branche beleuchtet, also von Anbietern und Herstellern entsprechender Softwarelösungen für Big-Data-Analysen, Digitalisierung und Vernetzung. So stellt sich die Frage, ob hier möglicherweise ein künstlicher Hype als verkaufsfördernde Maßnahme erzeugt wurde. Oder bietet Internet 4.0 der Produktion tatsächlich einen praktischen und messbaren Mehrwert?

Die vier Stufen der industriellen Entwicklung

Ende des 18. Jahrhunderts – durch die Einführung von mechanischen Produktionsanlagen, die mit Wasser- und Dampfkraft arbeiten.
Beginn des 20. Jahrhunderts – durch Einführung arbeitsteiliger Massenproduktion mit elektrischer Energie.
Beginn der 1970er Jahre - durch Einsatz von Elektronik und IT zur weiteren Automatisierung der Produktion.
Heute – auf Basis von cyber-physikalischen Systemen.

Bitkom prophezeit Wachstum

In einer im April 2014 veröffentlichten Studie stellt der Branchenverband Bitkom zusammen mit dem Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) eine gute Zukunft in Aussicht. Der hiesige Wirtschaftsstandort könne von der vierten industriellen Revolution kräftig profitieren. Untersucht wurden in der Studie Branchen, die vom Zusammenwachsen von Produktion und Internet besonders früh und stark betroffen sind: Maschinen- und Anlagenbau, elektrische Ausrüstung, chemische Industrie, Kraftwagen und Kraftwagenteile, Informations- und Kommunikationstechnik (ITK) sowie Landwirtschaft.

In allen sechs Wirtschaftsbereichen zusammen sollen bis zum Jahr 2025 Produktivitätssteigerungen in Höhe von insgesamt rund 78 Milliarden Euro möglich sein. Durchschnittlich 1,7 Prozent pro Jahr und Branche könnten als zusätzliche Bruttowertschöpfung erzielt werden.

Nicht alle sind aufgeschlossen

Doch dem angekündigten industriellen Aufbruch stehen nicht alle aufgeschlossen gegenüber. Gerade der deutsche Mittelstand sucht noch nach Anknüpfungspunkten, beobachtet Henrik Groß, Analyst bei Techconsult: "Im Rahmen der Langzeitstudie ,Business Performance Index (BPI) Fertigung Mittelstand D/A/CH 2013`, an der sich rund 900 mittelständische Fertiger mit 20 bis 2000 Mitarbeitern beteiligt haben, konnten noch vor einem Jahr überhaupt nur 31,5 Prozent der Befragten etwas mit dem Begriff Industrie 4.0 anfangen."

Nach den jüngst erhobenen Zahlen aus dem Jahr 2014 haben sich inzwischen vier von zehn Befragten eingehender mit der Materie auseinandergesetzt. Für die erhöhte Wahrnehmung zeichnen laut Analyst Groß Veranstaltungen wie die Hannover Messe im letzten Jahr und die Berichterstattung in den Medien verantwortlich, in deren Folge sich der Mittelstand mehr mit dem Thema beschäftigt habe.

Industrie 4.0 wird demnach vor allem in der Hightech- und Elektroindustrie als wichtiges Zukunftsthema wahrgenommen, ist aber im Mittelstand noch nicht so angekommen. Viele Berührungspunkte zu bestehenden Strukturen liegen in der Planung und vor der Einführung neuer Technologien und Verfahren noch im Dunkeln. Auch steht für manchen Mittelständler die Frage der Wirtschaftlichkeit im Raum. So schrieb Alexander Verl, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) und des Stuttgarter Universitäts-Instituts für Steuerungstechnik der Werkzeugmaschinen und Fertigungsmaschinen (ISW) in der Fachzeitschrift "Automationspraxis": "Wenn man Kosten und Wirtschaftlichkeit betrachtet, sind viele Dinge, die die Informatiker gerne machen würden, eigentlich obsolet. Schließlich gibt es in den Werken heute bereits ingenieurmäßige Lösungen mit RFID oder Barcodes, die ihren Zweck kostengünstig und effizient erfüllen."

Damit die Industrie 4.0 ihre Vorzüge tatsächlich ausspielen kann, ist nach Ansicht des Zentralverbandes Elektrotechnik- und Elektronikindustrie (ZVEI) der Übergang von der zentralen Steuerung der Produktionsanlagen, wie sie heute üblich ist, zu einer dezentralen Steuerung entscheidend. In dieser führt das zu bearbeitende Werkstück die Informationen für seine Bearbeitung bereits mit sich.

Die Folge: Produktionskapazitäten ließen sich in Zukunft nicht mehr nur durch die Vergrößerung der bestehenden Einheiten erweitern, sondern auch durch die Implementierung modularer Produktionseinheiten, die sich nach Auftragslage zu- oder abschalten lassen. So bestehe die Chance, dass "Produktion wieder urban verträglich wird, also im Einklang mit dem gesellschaftlichen Umfeld funktioniert, und so die Arbeit zum Menschen gebracht wird", heißt es beim ZVEI.

Die Wertschöpfungskette hätte dann eine viel tiefgreifendere Detailsteuerung. Daraus resultierte die Möglichkeit, in den laufenden Prozess einzugreifen, um die viel zitierte "Losgröße eins" herzustellen, ohne die heute noch vorherrschenden Kosten und Aufwände von Einzelfertigungen zu verursachen. Auch könnten dank der bereits erhobenen Daten über Produktionsabläufe fällige Entscheidungen vor der Produktion erst einmal simuliert werden, bevor sie tatsächlich umgesetzt werden. So ließe sich im Computer ein Ablauf bereits prüfen, noch bevor eine neue Anlage in Betrieb ginge.

Ein komplettes digitales Produktgedächtnis brächte auch in späteren Stadien des Produktlebenszyklus Vorteile. Mehrere Szenarien sind denkbar: zum Beispiel beim Recycling oder der zustandsbasierten Wartung von Produktionseinheiten auf Basis von statistisch abgeschätzten Ausfallwahrscheinlichkeiten. Das System sammelt so kontinuierlich Erfahrung im Rahmen der Lebenszeit von Produkten oder Systemen und kann sich selbst in bestimmten Intervallen einen Wartungsservice oder notwendige Ersatzteile bestellen.