Offshore kündigt einen Strukturwandel an

09.10.2003
Von Peter Dück

Es war zu erwarten, dass die allgemeinen Wirtschaftsprobleme und der damit erneut gestiegene Kostendruck auf IT-Organisationen dem Offshore-Modell vermehrten Zulauf bringen würden. Doch der Boom und der hohe Aufmerksamkeitswert des Themas - selbst Tageszeitungen berichten inzwischen darüber regelmäßig - lassen sich damit alleine nicht begründen. Was wir gegenwärtig erleben, ist nicht nur der Erfolg eines Kostensparmodells, es ist die Globalisierung der IT-Dienstleistungen und damit einer der vielen Reifeprozesse, die diese Branche gegenwärtig durchlebt. Sie folgt damit anderen Industriezweigen, wie etwa der Textilindustrie oder dem Maschinenbau.

Die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt, das soziale Gefüge und die Struktur der Branche werden ähnlich dramatisch sein. Gartner geht für die Vereinigten Staaten davon aus, dass allein bis Ende 2004 in der IT-Industrie und bei IT-Dienstleistern etwa zehn Prozent und bei Anwenderunternehmen etwa fünf Prozent der Stellen einer Verlagerung ins Ausland zum Opfer fallen werden, für Großbritannien werden ähnliche Zahlen erwartet. Im restlichen Europa dürften arbeitsrechtliche Regelungen, mittelständische Unternehmensstrukturen und die insgesamt geringere Bereitschaft zum Outsourcing weniger gravierende Auswirkungen zulassen.

Deutliche Stimmen gegen Offshore werden bereits laut, und es mehren sich die massiven Widerstände. Vier Staaten in den Vereinigten Staaten versuchen per Gesetzgebung, das Abwandern von IT-Arbeit zu verhindern. Erste Streiks werden gemeldet, es gibt Beispiele, wo Unternehmen von ihren Kunden gezwungen wurden, die Auslagerung ihrer telefonischen Kundenbetreuung "zu überdenken".

Die Verlagerung von IT-Dienstleistungen in Niedriglohnländer ist ein Zeichen für die Reife des Marktes. Den Prozess, die Arbeit dorthin zu verlagern, wo sie unter dem Vollkostenansatz am günstigsten erbracht wird, haben die Textilindustrie und der Maschinenbau bereits durchlebt. Der aktuelle Offshore-Trend in der IT-Branche bringt die etablierten Dienstleister in Zugzwang, ihre Kosten zu reduzieren, und wird Spuren im Arbeitsmarkt hinterlassen. Zwischenzeitliche Kritik und schwierig verlaufende Auslagerungsprojekte werden diesen Trend nicht aufhalten können.

Solche Widerstände, aber auch schlecht aufgesetzte und durchgeführte Offshore-Projekte werden zu Rückschlägen führen, aber aufhalten werden sie den Trend nicht. Es gibt bei bereits erfahrenen Kunden und Anbietern solide Vorstellungen, wie Projekte erfolgreich durchgeführt werden können und wie dazu differenzierte Modelle mit Ressourcen vor Ort, in nahen Projektzentren und in den "Offshore-Fabriken" eingesetzt werden können.

Aufstrebende Regionen wie Osteuropa, Mittel- und Südamerika, aber auch nordafrikanische Länder und Südafrika beleben nicht nur die Vielfalt von Offshore- und Nearshore-Ansätzen, sondern erlauben den Anwendern auch, das Risiko besser zu streuen. Die EU-Erweiterung wird hier in Kürze interessante Varianten zulassen. Clevere indische Offshore-Anbieter arbeiten schon an der Ausweitung der Wertschöpfungskette in das noch billigere China, einem Land mit einem auch in dieser Hinsicht riesigen Potenzial. Die Verlagerung kompletter Infrastruktur- und Applikationsservices, aber auch von Geschäftsprozessen nicht nur im Bereich Call Center und Customer Care ist längst kein Tabu mehr.