Novell: Mit Linux zum One-Stop-Shop

21.08.2003
Von 
Jürgen Hill ist Chefreporter Future Technologies bei der COMPUTERWOCHE. Thematisch befasst sich der studierte Diplom-Journalist und Informatiker derzeit mit aktuellen IT-Trendthemen wie KI, Quantencomputing, Digital Twins, IoT, Digitalisierung etc. Zudem verfügt er über einen langjährigen Background im Bereich Communications mit all seinen Facetten (TK, Mobile, LAN, WAN). 
MÜNCHEN (COMPUTERWOCHE) - Im März überraschte Novell -CEO und President Jack Messman die Netware-Gemeinde mit der Ankündigung, künftig verstärkt auf Linux und den Open-Source-Gedanken zu setzen. Aus dieser strategischen Orientierung entwickelten die Netzwerker mittlerweile einen konkreten Produktfahrplan.

Wie ernst es Novell mit seinem Bekenntnis zu Linux ist, zeigt die jüngste Akquisition der Netzwerker: Das Unternehmen schluckt den US-amerikanischen Softwarehersteller Ximian. Dieser hatte sich unter anderem einen Namen mit der für Arbeitsplatzrechner konzipierten Linux-Distribution "Ximian Desktop" oder der Groupware-Anwendung "Evolution" gemacht. Zudem hat das Softwarehaus mit "Red Carpet" Lösungen zur Softwareverteilung und der Server-Administration sowie dem Update-Management für Linux-Distributionen im Portfolio. Ferner erwerben die Netzwerker mit der Übernahme Ximians die Entwicklungsumgebung "Mono". Hinter dem Codenamen verbirgt sich der Plan, Anwendungen für Microsofts .NET-Plattform unter Linux laufen zu lassen.

Vor dem Hintergrund der Ximian-Akquisition scheint eine strategische Neuorientierung Novells, weg von einem Server-fokussierten Lösungsanbieter hin zu einem One-Stop-Shop, der Produkte vom Desktop bis hin zum Server-Betriebssystem offeriert, sehr wahrscheinlich. Vermutungen, die Novell-Vice-Chairman Chris Stone bekräftigt: "Wir werden den Ximian Desktop mit einigen unserer Produkte bündeln, denn wir wollen Linux vom Server bis zum Desktop verwenden." Offen war zu Redaktionsschluss jedoch noch, ab wann Novell eine Linux-Version für Desktops in sein Programm aufnimmt. Mutmaßungen darüber, dass Novell damit Microsofts Windows-Bastion auf dem Desktop angreifen wolle, widerspricht Stone energisch.

Novell-Kenner entdecken hinter dem jüngsten Zukauf jedoch Paralellen zur Vergangenheit: Anfang der 90ger Jahre versuchten die Netzwerker schon einmal, Microsoft anzugreifen. Damals bemühte sich das Unternehmen mit "Novell DOS" (DR-DOS), den Wordperfect-Applikationen, Netware und Unixware als Application-Server ein durchgängiges Lösungsangebot zu offerieren und der Gates-Company Marktanteile abzujagen. In der Folge erlebten die Netzwerker allerdings ihr Waterloo, da sie die Attraktivität von Windows als Betriebssystem für Desktops und von Windows NT als Server-Plattform auf sträflich unterschätzt hatten.

Heute versteht sich Novell nach den Worten von Chairman und CEO Jack Messman als Lösungsanbieter, der ein Cross-Platform-Computing in heterogenen Umgebungen ermöglicht. Dabei hat man mit dem Linux-Engagement, wie Vice Chairman Stone ergänzt, weniger den Konkurrenten Microsoft im Visier, sondern will vielmehr die neuen Möglichkeiten ausschöpfen, die der Linux-Markt eröffnet.

Und dies könnte für Novell ein lohnendes Geschäft sein. Nach Prognosen des Marktforschungsinstituts IDC ist der Linux-Markt im Bereich der Server-Betriebssysteme in den nächsten Jahren das am schnellsten wachsende Segment. Glaubt man den Prognosen der Auguren, so steigen die Umsätze bis 2006 jährlich um durchschnittlich 19,7 Prozent - ausgehend von einem Weltmarktvolumen in Höhe von 80,8 Millionen Dollar im Jahr 2001. Dabei sehen die Marktforscher für Novell gute Chancen, sich ein großes Stück vom Linux-Kuchen abzuschneiden, denn laut IDC hat Novell zahlreiche Netzdienste für Enterprise-Lösungen im Portfolio, welche die Linux-Community in den nächsten ein bis zwei Jahren kaum selbst entwickeln kann. John Enck von der Gartner Group geht gar noch einen Schritt weiter und ist davon überzeugt, dass es Novell mit seiner Linux-Option gelingt, auch Altkunden, die Netware bereits den Rücken gekehrt haben, zurückzugewinnen. "Novells Linux-Lösungen warten mit einem leistungsfähigeren Directory und ausgefeilteren File- und Print-Services auf als die Angebote der Open-Source-Gemeinde", begründet Enck seine Einschätzung.

Ebenso positiv fällt das Echo auf Anwenderseite aus. So begrüßt etwa der Finanzdienstleister MLP in Heidelberg Novells Entscheidung zugunsten von Linux. Das Unternehmen will dieses Betriebssystem künftig Server-seitig einsetzen, dabei aber Novell und seinen Netzdiensten die Treue halten. Auch bei der Lufthansa Systems, einem großen Novell-Shop, nahm man die Entscheidung zugunsten von Linux positiv auf. Der Ansatz der Netzwerker, der sich mit der aktuellen "Netware 6.5" herauskristallisiere, gebe der Fluglinie die Möglichkeit, das Beste beider Welten zu nutzen. Dies ist für Lufthansa Systems auf der einen Seite eine standardbasierende Plattform, die Open-Source-Techniken unterstützt, und zum anderen die Zuverlässigkeit und Skalierbarkeit der Novell-Netzservices im Corporate-Umfeld.