Kritik an Beurteilungssystemen

Wozu Jahresendgespräche?

30.10.2014
Von 
Klaus Kissel ist einer von zwei Geschäftsführern des ifsm Institut für Sales & Managementberatung in Urbar bei Koblenz, das unter anderem Unternehmen im Prozess der Nachfolgeregelung unterstützt und begleitet. Kissel ist Mitautor des Buches "Das Prinzip der minimalen Führung".
In vielen Unternehmen werden die Leistungen der Mitarbeiter regelmäßig bewertet, um danach über ihre künftige Entlohnung und ihr berufliches Fortkommen zu entscheiden. Sind solche Beurteilungssysteme noch zeitgemäß oder sind sie Relikte aus einer Zeit, in der jeder Mitarbeiter eine klare Stellenbeschreibung hatte?

Beurteilungssysteme gelten als ein wichtiges Instrument,

  • um "High- und Low-Performer", also Leistungsträger und Minderleister, zu identifizieren, die Leistung der Mitarbeiter vergleichbar zu machen,

  • über Gehälter, Zulagen sowie Beförderungen zu entscheiden und

Klaus Kissel, Geschäftsführer des ifsm Institut für Sales- und Managementberatung, kritisiert, dass viele Jahresendgespräche nur um die Leistungen des Mitarbeiters in der Vergangenheit kreisen.
Klaus Kissel, Geschäftsführer des ifsm Institut für Sales- und Managementberatung, kritisiert, dass viele Jahresendgespräche nur um die Leistungen des Mitarbeiters in der Vergangenheit kreisen.
Foto: Klaus Kissel

Viele Personalexperten äußern jedoch Bedenken, inwieweit die traditionellen Beurteilungssysteme noch den Arbeitsinhalten und -beziehungen in modern geführten und strukturierten Unternehmen gerecht werden; außerdem den Erwartungen autonomer Mitarbeiter.

Nur Blick auf die Vergangenheit

Trotzdem halten die meisten Unternehmen an ihren Beurteilungssystemen fest, obwohl mit ihnen auch ein hoher administrativer Aufwand verbunden ist. Eine zentrale Ursache hierfür ist: In der "freien" Wirtschaft erfolgt die Bezahlung der Mitarbeiter individuell - selbst wenn die Leistung weitgehend im Team erbracht wird. Zugleich soll die individuell ausgehandelte Vergütung jedoch gerecht sein. Also muss, so das Credo, die Leistung individuell gemessen werden, damit sie bewertbar und vergleichbar wird. Diese auf dem Leistungsprinzip basierende Logik haben auch die Mitarbeiter verinnerlicht. Deshalb akzeptieren sie die Beurteilungssysteme als notwendiges Übel - trotz ihrer Schwächen.

Welche "Note" ein Mitarbeiter im Jahresendgespräch erhält, entscheidet mit darüber, ob er eine Gehaltserhöhung oder Prämie bekommt.
Welche "Note" ein Mitarbeiter im Jahresendgespräch erhält, entscheidet mit darüber, ob er eine Gehaltserhöhung oder Prämie bekommt.
Foto: bluedesign - Fotolia.com

Ein zentrales Manko aller Beurteilungssysteme ist: Die ihnen zugrunde liegenden Mitarbeitergespräche fokussieren sich nicht darauf, wie die Leistung des Mitarbeiters gesichert oder gar gesteigert werden kann. Das heißt, im Mittelpunkt der Gespräche stehen nicht Fragen wie:

  • Was erfordert die aktuelle oder künftige Arbeitssituation?

  • Welche Ziele gilt es zu erreichen?

  • Was bedeutet dies für das Verhalten/Tun des Mitarbeiters?

  • Welche Unterstützung benötigt er, um künftig seinen Beitrag zum Erreichen der Bereichs-/Unternehmensziele zu leisten?

Das Gespräch konzentriert sich vielmehr auf die Leistung des Mitarbeiters in der Vergangenheit. Und was für den Mitarbeiter primär zählt, ist die "Note" für seine erbrachte Leistung. Denn sie entscheidet unter anderem darüber, ob er eine Gehaltserhöhung oder Prämie erhält. Alle anderen Fragen, die in dem Gespräch eventuell zudem erörtert werden, sind für ihn von untergeordnetem Belang. Wäre es deshalb nicht sinnvoll, auf solche Beurteilungen zu verzichten, damit in den Mitarbeitergesprächen wieder die Herausforderungen, vor denen das Unternehmen steht, im Vordergrund stehen?

Individuelle Leistung ist schwer messbar

Die den Beurteilungssystemen zugrunde liegende individuelle Leistungsmessung und -bewertung wird der Arbeitssituation in modern geführten und strukturierten Unternehmen immer weniger gerecht. Denn in ihnen werden die Leistungen, zumindest in den Kernbereichen weitgehend in Teams erbracht. Und die Leistung des einzelnen Mitarbeiters? Sie hängt immer stärker von der Zuarbeit sowie Qualität der Leistung von Kollegen oft auch aus anderen Unternehmensbereichen ab. Deshalb ist es zunehmend schwierig zu quantifizieren, welchen Beitrag die einzelnen Mitarbeiter zum Erreichen der Bereichs- und Unternehmensziele leisten - selbst wenn sie anscheinend identische Aufgaben haben. Denn meist sind die Rahmenbedingungen verschieden.

Das heißt: Die Unternehmen agieren bei ihren Beurteilungssystemen oft mit einem sehr vagen Begriff von Leistung. Und dieser wird als die Basis für aus Mitarbeitersicht so weitreichende personalwirtschaftliche Entscheidungen wie Gehaltserhöhungen, Prämien, Beförderungen, Versetzungen und im Extremfall sogar Kündigungen herangezogen. Deshalb werden die Beurteilungen immer häufiger als ungerecht empfunden. Denn die Mitarbeiter haben das Gefühl: Meine Person und der Beitrag, den ich zum Erreichen der Ziele leiste, werden nicht adäquat wahrgenommen und geschätzt.

Zahl der Beurteilungsfehler steigt

Wenn die Leistung den Mitarbeitern nicht mehr eins zu eins zuordenbar ist und die Führungskräfte zudem ihre Mitarbeiter eventuell sogar aus der Ferne führen, erhöht sich automatisch die Zahl der Beurteilungsfehler. Also ist auch häufiger zum Beispiel die auf Basis der Beurteilungen erfolgte Verteilung der verfügbaren Belohnungen ungerecht. Das ist vielen Führungskräften bewusst. Deshalb sehen sie in der Beurteilung zunehmend eine lästige Pflicht und "machen" diese für die Personalabteilung - jedoch nicht für ihre Mitarbeiter.

In modern geführten und strukturierten Unternehmen müssen die Führungskräfte mit ihren Mitarbeitern in einem Dialog stehen - und zwar kurzfristig-operativ und mittelfristig-entwickelnd. Dieser Dialog sollte von wechselseitigem Vertrauen und gegenseitiger Wertschätzung geprägt sein. Deshalb sollten die Gespräche Führungskraft-Mitarbeiter, soweit möglich, vom Element "rückwärtige Bewertung und Beurteilung" befreit sein. Und die Dokumentation der Gespräche? Sie sollte für die Gesprächspartner in erster Linie eine Hilfe zur Erinnerung und ein Zeichen der Verbindlichkeit sein. Die Dokumentation für Dritte wie die Personal- und Unternehmensleitung hingegen, sollte sich auf ein Mindestmaß beschränken.