Big Blue will kein proprietärer Defensivtaktiker mehr sein

Marktverhältnisse zwingen IBM zur Abkehr vom Mainframe-Kult

20.09.1991

MÜNCHEN (gs) - Kapituliert die IBM vor dem Unausweichlichen? Mit dem Slogan "Es ist Zeit, daß die Systeme sich verstehen" wirbt der Mainframe-Marktführer für sein Integrationskonzept "Open Enterprise". Grundlage der neuen Offenheit ist AIX, das es nun auch für das High-end der uen Rechner geben wird.

Noch ist die System Application Architecture (SAA) in weiten Bereichen mehr Versprechen als Realität, da setzt sich der Blaue Riese aus Armonk bereits ein weit ehrgeizigeres Ziel: Soll SAA der gemeinsame Nenner aller IBM-Systeme sein, so werde Open Enterprise "die Grundlage für eine nahezu uneingeschränkte Integration von Hard- und Software-Komponenten unterschiedlichster Hersteller" (O-Ton IBM) darstellen. Standards, Konzepte, Schnittstellen, Produkte sowie kompetente Berater stünden bereits zur Verfügung (siehe Berichte zu den jüngsten IBM-Ankündigungen auf den Seiten 11 und 27).

Als Basis der systemübergreifenden Offenheit ist AIX vorge len, IBMs Unix-Derivat, beziehungsweise das auf AIX aufbauende OSF/1. AIX/ESA soll auf den ES/9000-Jumbos im "native mode" laufen und damit eine gleichberechtigte Alternative zu MVS oder VM werden. Für Unix bedeutet dieser Schritt so etwas wie die offizielle Anerkennung durch die 370-Company: AIX wird Teil von SAA - wenn auch nur als "Rucksack" - und über AIX plus Netview sollen die Drähte schließlich auch zu fremden Unix-Systemen führen.

Möglich gemacht hat diese Entwicklung laut IBM die technische Entwicklung und vor allem die Arbeit nationaler und internationaler Normungsgremien, die erforderliche Basisstandards definierten. Daß diese Gremien nichts machen, was den Interessen der IBM zuwiderläuft, dafür sorgen 1300 in ihnen aktive IBM-Mitarbeiter.

Nach Ansicht von Branchenkennern aber haben letztlich die Kunden die Öffnung erzwungen. Die immer engere Zusammenarbeit von Unternehmen erfordert eine entsprechende Kooperation und Verzahnung der DV-Systeme. Ein Just-in-Time-System läßt sich kaum realisieren, ohne daß die Computer der beteiligten Firmen direkt miteinander kommunizieren, auch wenn sie von verschiedenen Herstellern stammen.

Dazu kommt die Downsizing-Drohung: Sollen Mainframes - nach wie vor zentrale Umsatzsäule der IBM - eine Überlebenschance haben, muß ihre Leistung im Rahmen von Client-Server-Konfigurationen allen offenstehen, nicht nur den Benutzern von lBM-Produkten.

Fürs erste besteht Open Enterprise denn auch im wesentlichen aus Hilfsmitteln, die es erlauben, von OS/2-, AIX- oder Sun/OS-Clients beziehungsweise Netware-Servern aus "physische oder logische Daten auf einem MVS- oder VM-Server zu verwalten" und Druckausgaben über den Host abzuwickeln.

Kompatibel sind zunächst nur AIX/ESA und AIX/370. Zur Kompatibilität mit den RS/6000 und PS/2-Varianten von AIX äußert sich das Unternehmen ausweichend, doch es sieht so aus, als sei zwischen den großen und den kleinen Systemen lediglich ein Datenaustausch möglich.

Wie es mit der Kooperation mit Fremdsystemen aussieht, bleibt abzuwarten. Die Standards nämlich, an die IBM derzeit denkt, sind - neben X-Windows und den OSI-Normen - primär von ihr selbst entwickelte oder beeintlußte Standards: die der Open Software Foundation (OSF) sowie "De-facto-Standards" wie TCP/IP, SNA oder CPI-CI (SAA). Und schließlich sorgen AlX-Erweiterungen, die die Leistungsfähigkeit der großen Rechner nutzbar machen sollen, zugleich dafür, daß alles nicht gar zu offen wird.