Wachstumspfad und das Versprechen völliger Offenheit

Großer Klimmzug für DECs Hoffnungsträger: Alpha-Chip

27.03.1992

Zwölf Jahre, acht Monate und sechs Tage

400 MIPS - das ist die maximale Leistung, die ein Alpha-Chip bei 200 MHz Taktfrequenz unter optimalen Umständen - also quasi bei Rückenwind - heute erreichen könne, sagt DEC. - Doch wer kann sich darunter eigentlich noch etwas vorstellen?

Nun, DEC-Manager Wolfgang Stübich kann - wie er in einer kleinen Rechnung darzulegen versteht. Und wer einen beliebigen Taschenrechner habe, könne dies fortan auch, erläutert der engagierte Alpha-Propagandist weiter.

Man nehme nämlich nur einfach diesen Rechner und addiere zwei achtstellige Zahlen. Damit hat man dann, nachdem dies ja rund 1 Sekunde dauern dürfte etwa 1 IPS (Instruktionen pro Sekunde) erzielt. Und fährt man nun fort, bis man exakt 400 Millionen dieser Additionen ausgeführt hat, so wird man ziemlich genau um zwölf Jahre, acht Monate und sechs Tage älter sein. Denn so lange dauert im manuellen Verfahren nun mal das, was Alpha in einer einzigen Sekunde leisten könne. es

Es war ein Paukenschlag, angekündigt von leisen Marketing-Trommelwirbeln: die offizielle Vorstellung des Alpha-Chips von Digital Equipment vor wenigen Wochen. Damit setzt der seiner VMS-Tradition allzulange verhaftete DEC-Konzern Signale für seine Technologieausrichtung in den nächsten Jahrzehnten.

Dies wäre speziell im Falle DEC auch sehr notwendig, betrachtet man die Umsatz- und Gewinnentwicklung der letzten Monate und Jahre. Sicher sehen der DEC-Gründer und -Chef Kenneth H. Olsen und seine Leute in Alpha mit seinem in die Zukunft weisenden Leistungs-Potential nicht weniger als eine Wunderwaffe im Kampf um Marktanteile.

Dieser RISC-Chip mit seiner 64-Bit-Struktur soll das Traditionsunternehmen aus Massachusetts nämlich nicht nur in die erste Linie der Chip-Hersteller katapultieren; er soll das Haus auch aus der proprietären VAX- und VMS-Enge befreien und mit seiner "völlig offenen" Architektur eine Bresche in den freien Markt schlagen. Offenbar will sich Digital auch die Position eines Architektur-Anführers verschaffen.

Hals-über-Kopf-Reaktion von Intel

Alpha hat die Konkurrenz prompt aufgeschreckt. Das zeigen eilends verbreitete Mitteilungen wie etwa die des Erzrivalen HP, man habe jetzt auch schon einen Risc-Chip mit immerhin 100 MHz Taktfrequenz und mehr als 120 Specmarks im Programm. Intel signalisiert ebenfalls, man wolle jetzt nicht nur den avisierten 586 raschestens vorstellen, sondern binnen Jahresfrist auch den Nachfolge-Top-Chip P6 beziehungsweise 686. Für eine Weiterentwicklung unter dem Arbeitstitel P7 gebe es überdies "konkrete Ideen". Diese Hals-über-Kopf-Reaktion von Intel zeigt, wie ernst die Konkurrenz DEC nimmt.

Der neue Chip soll nicht nur die Wachstumswünsche der etablierten VAX-Kunden befriedigen, sondern auch das Spektrum vom PC bis zum Supercomputer abdecken. Alpha-Lizenzen sollen an weitere Chip-Hersteller vergeben werden; auch sollen Produzenten einzelner Platinen und kompletter Systeme - so erhoffen sich das die DEC-Leute - "auf allen Integrationsebenen" Alpha-Produkte samt der zugehörigen Betriebssysteme und Compiler etc. einsetzen. Auf daß sich in einem Leistungsbereich weit oberhalb der heutigen, mehr oder weniger offen lizenzierten und kopierten Chips beziehungsweise Architekturen - wie eben beispielsweise wieder Intels X86er-Reihe, Suns Sparc oder auch die Mips-Prozessoren-Linie - ein massiver Trend in Richtung Alpha einstellen möge.

Ziel dieser Strategie: Sogar abgemagerte Alpha-Varianten könnte dieser Trend noch einschließen. Und diese könnten dann direkt gegen die heute fest etablierten Prozessoren antreten.

Alpha ist laut DEC so konzipiert, daß Unix- beziehungsweise OSF/1-Programme hier ebenso eingesetzt werden können wie herkömmliche VMS-Software. Damit offeriert Olsen seinen rund 500 000 VMS-Anwendern jetzt einen Wachstumspfad.

Außerdem sei Alpha, so erläutert DEC-Deutschland-Manager Achim Apel, auch offen für andere Betriebssysteme etwa Windows NT, und für andere Sprachen beziehungsweise Compiler.

Die Architektur ziele im übrigen auf die existierenden Mehrprozessor-Systeme sowie auf künftige, massiv parallele Computersysteme höchster Leistungsklassen. Der 64-Bit-Prozessor weise ein Entwicklungspotential auf, das Leistungs-Zuwächse bis zu einem Faktor tausend erlauben soll. Damit habe man, so die Meinung bei DEC, wohl rund ein Vierteljahrhundert weiterer Entwicklungen der Computer-Technik antizipiert.

Olsens Unternehmen begründet die erwartete Langlebigkeit von 25 Jahren der Alpha-Architektur vor allem mit deren RISC-Charakteristika und der Wortbreite von 64 Bit.

DEC hat damit folgende Anwendungen im Auge:

- komplexes CAD,

- Programme für die Meteorologie,

- das Modellieren neuer Moleküle.

Dies sind alles Anwendungen, die heute an die technischen Grenzen herkömmlicher 32-Bit-Systeme stoßen. Auch schielt man bereits nach Multimedia-Anwendungen, die gleichfalls immense Volumina an Daten zu bearbeiten haben.

Der erste konkrete Alpha-Chip für den freien Markt trägt die Bezeichnung 21064 und das Unternehmen spezifiziert ihn als 150-MHz-Baustein, der im Labor allerdings vielfach auch schon 200 MHz erreichen soll. Er arbeitet mit der niedrigen Spannung von 3,3 Volt und vereint knapp 1,7 Millionen Transistorfunktionen.

Der luftgekühlt betriebene Chip ist intern mit drei Metallisierungsebenen versehen, also sehr komplex strukturiert; ein hoher Anteil seiner Transistoren entfällt auf Logik-Schaltungen, die ja erheblich schwieriger einzurichten sind als simple Speicherblöcke.

Dieser Prozessor weist intern eine siebenstufige Pipeline für die Verarbeitung von Ganzzahl-Befehlen sowie eine zehnstufige für Gleitkomma-Instruktionen auf.

Gleichzeitig dienen weitere Rechenwerke, die ebenfalls als Fließbänder arbeiten, der Adreß- und der Verzweigungs-Berechnung. Daher kann dieser Chip mit seinen kompakten 750-Nanometer-Strukturen 300 MIPS beziehungsweise 150 MIPS erreichen, verspricht Digital. Oder auch, anderes gerechnet, 100 beziehungsweise - bei 200 MHz - 150 Specmarks.

Der neue Prozessor weist laut DEC je nach Betrachtungsweise zwischen 120 und 160 Maschinenbefehle beziehungsweise Befehlsvarianten auf und soll in seiner Leistung jenen Bereich abdecken, der oberhalb rund 80 SpecMarks beginnt. Umgekehrt erreichen heutige RISC Prozessoren maximal 80 Specmarks, etwa der Typ R 4000 von Mips - an diesem mittlerweile von Silicon Graphics übernommenen Unternehmen hält DEC noch eine fünfprozentige Beteiligung und ihm ist Olsens Company auch über die Gruppierung ACE verbunden.

Wichtige Merkmale des neuen Prozessors sind zwei Pufferspeicher von je 8 KByte für Daten beziehungsweise Befehle sowie die Besonderheit, daß die Gleitkommaeinheit nicht nur die bekannten IEEE-Gleitkommaformate unterstützt; sie ist auch in der Lage, die herkömmlichen VAX-Gleitkommazahlen zu verarbeiten. Denn es gilt ja hier auch, die alte VMS-Klientel weiterhin an sich - das heißt DEC - zu binden.

Der jetzige Chip kann pro Taktsignal vorerst nur zwei Befehle gleichzeitig ausführen, genauer, deren Ausführung beenden. Spätere Varianten der Alpha-Architektur werden laut DEC-Manager Apel pro Takt auch vier beziehungsweise acht Befehle zu Ende

führen können.

Der neue Chip wird vorerst nur in DECs eigenen Halbleiter-Werken im schottischen South Queensferry und in Hudson, Massachusetts, produziert. Doch laut Apel laufen schon Gespräche mit verschiedenen freien Halbleiter-Produzenten über die Herstellung von Alpha-Chips.

Bei RISC-Prozessoren beziehungsweise bei Maschinen mit deutlichen RISC-Merkmalen spielt die Qualität des jeweiligen Compilers eine besondere Rolle, denn er muß jeweils eine effizient bearbeitbare Abfolge von Maschinenbefehlen herstellen. Hierfür

hat DEC ein Compilersystem entwickelt, das sich aus sogenannten Frontend- und Backend-Komponenten zusammensetzt. Das System soll nicht nur "eine große Breite von Sprachen wie etwa auch Cobol" abdecken, sondern sei überdies so ausgelegt, daß man auch fehlertolerante sowie Echtzeitsysteme auf Basis von Alpha einrichten könne. Das betriebssystemneutrale Konzept Alpha sei auch insofern ein offenes System, meint DEC, als man diesen Prozessor in einer ganzen Reihe unterschiedlicher Systembus-Umgebungen wie etwa Turbochannel, EISA, Futurebus und anderen einsetzen könne. Alpha soll, so das hochgesteckte Ziel des einstigen Mini-Marktführers, "ein Weltstandard werden".

DEC will in den nächsten Monaten die ersten Chips ausliefern und ab Anfang 1993 Alpha-Systeme in großen Stückzahlen herstellen. Dabei sollen die Chips übrigens in Kleinstmengen pro Stück knapp 3400 Dollar kosten, bei Abnahme von mehr als 1000 Exemplaren in des nur 1500 bis 1600 Dollar.

Die jetzt präsentierten Chips des Typs 21064 weisen einen physischen Adreßraum von 34 Bit sowie einen virtuellen Adreßraum von einstweilen nur 43 Bit auf, doch seien sie, versichert DEC, auf 64 Bit geprüft.

Der Grund für diese Einschränkung liegt darin, daß die Anschluß-Zahl des derzeit verwendeten Chip-Gehäuses mit seinen 431 Stiften begrenzt ist, während spätere Versionen mehr Möglichkeiten bieten sollen. Die Vorstellung der neuen Architektur Alpha fällt mitten in eine Zeit, "in der die gesamte Software-Branche vor einem gewaltigen Umbruch steht", so die DEC-Leute. Viele der bewährten, traditionsverhafteten und oft Jahrzehnte in die Vergangenheit zurückreichenden Programmsysteme seien nunmehr so

ziemlich am Ende ihrer Ausbau- und Verbesserbarkeit angelangt.

Insofern sei der DEC-Chip zum richtigen Zeitpunkt gekommen, ferner seien für völlig neu konzipierte Programmsysteme auch Maschinen wünschenswert, die neben neuen Möglichkeiten auch Entwicklungsperspektiven aufweisen.

Fragt sich nur, wie lange Alpha diese aktuelle Spitzen-Position halten kann? Wann wird die Konkurrenz mit Chips reagieren, die das Rad der Entwicklung nochmals ein Stück weiter drehen?

Bei Intel scheint man schon aktiv zu werden. Und dann gibt es ja noch Firmen wie Sun, HP, Mips, Hitachi und andere, sowie, nicht ganz zu vergessen, IBM.

Wir stehen also vor interessanten Zeiten.

DEC puscht Alpha - doch wo bleibt ACE?

Mag DEC mit seinem neuen Alpha-Chip bei technikinteressierten Informatikern schieres Entzücken hervorrufen - in Kreisen ganz anderer Art dürfte die Präsentation dieser Architektur für die nächsten 20, 30 Jahre eher mit Stirnrunzeln aufgenommen werden. Wobei wir hierbei in erster Linie an die Prozessoren-Schmiede Mips denken, die mit DEC und vielen anreden Herstellern in der Gruppierung ACE (Advanced Computing Environment) verbunden ist. Und deren Manager bislang doch hoffen durften, im oberen Leistungsbereich der künftigen ACE-Rechner werde allein ihre 64-Bit-R4000er-RISC-Maschine Furore machen. Während weiter unten bekanntlich die traditionsverhafteten Intel-CISC-Maschinen der 32-Bit-Reiche 386/486 ihren Platz finden sollten.

ACE wird ja weithin als Versucht von Rechner-Herstellern wie DEC, Compaq, Wang, Olivetti und Zenith verstanden, sich mit Hilfe der Prozessoren von Mips sowie der ACE-konformen Betriebssystem-Entwicklungen von SCO und Microsoft aus der Umklammerung durch den X86er-So-gut-wie-immer-noch-Monopolisten Intel zu befreien. Weshalb die ACEler - zu denen beispielsweise Apple, insbesondere aber HP, IBM und Sun als Produzenten eigener Risc-Maschinen nicht gehören - ein Konzept entwickelt haben, nach dem sowohl auf Intel-CISC- als auch auf Mips-RISC-Prozessoren die Betriebssysteme Unix beziehungsweise Windows NT eingesetzt werden können. Dabei sollen die zugehörigen Anwenderprogramme unter dem ACE-Signet quellcodekompatibel sein, das heißt, sie müßten sich nach einfachem Rekompilieren jeweils auf dem anderen Prozessor beziehungsweise System betreiben lassen.

Bislang schien außer Debatte zu stehen, daß die RISC-Maschinen der ACE-Welt allein auf Mips-Prozessoren basieren werden. Doch jetzt will DEC Alpha zum "Weltstandard" machen - und da kann es eben nicht ausbleiben, daß manche der - heute schon über 200 - ACE-Mitglieder sich fragen werden: Welche RISC-Prozessoren-Linie wird wohl mehr Zukunft haben? Etwa noch die des Silicon-Graphics-Subunternehmens Mips, deren R4000er ja bis auf weiteres allenfalls 80 bis maximal 100 SpecMarks leisten soll? Oder doch eher, wie von DEC verheißen, die neue Alpha-Linie? Fangen bei ihr die SpecMarks doch überhaupt erst bei der 100er-Linie an; und später lassen sich - so jedenfalls DECs Intentionen - durchaus auch Varianten geringerer Leistung fertigen, sollte "der Markt" solche wünschen. Das könnte der Mips-Technik - die ja ihrerseits wohl noch an Leistung zulegen kann - das Leben nicht nur im angestammten Performance-Bereich unterhalb 100 Specmarks erschweren.

Für das eigene Haus sagt in diesem Zusammenhang DEC-Manager Achim Apel, Olson Company werde "weiter bei ACE bleiben", zumal die Maschinen auf Intel- und Mips-Basis "für uns der Massenmarkt sind". Hingegen stelle Alpha - sowie vorerst auch die VAX-Linie - "für uns den High-end-Bereich" und "eine Technik für jene Zeit dar, da die anderen Linien auslaufen". Doch seien immerhin, so Apel auf Befragen, auch Einfach-Alpha-Rechner "vorstellbar", die mit 50 bis 100 MHz Taktrate arbeiten und die beispielsweise auf dem bekannten - und seinerzeit speziell von Compaq massiv propagierten - EISA-Bus basieren.

ACE-Systeme auf Risc-Basis müssen der ARC-Spezifikationen - Advanced Risc Computing - entsprechen; denn nur so werde - in typischer Intel-/IBM-PC-Manier - freie Austauschbarkeit der verschieden ACE-ARC-Risc-Maschinen untereinander sichergestellt, heißt es bei Mips. Doch sehen technisch versierte Beobachter gerade in Anbetracht der vielgepriesenen Flexibilität und Offenheit des Alpha-Konzepts keinen absolut zwingenden Grund, weshalb ARC-Systeme nicht auch mal auf einem anderen als einem Mips-Prozessor aufbauen sollten.

ACE umfaßt nach Angaben des Hauses Mips inzwischen mehr als 200 Unternehmen, die zusammen rund 60 Milliarden Dollar an Verkaufserlösen erzielen; sie repräsentieren rund ein Drittel des gesamten DV-Weltumsatzes von 150 bis 200 Milliarden Dollar.

Und für ACE-Rechner sollen rund 45 000 Programme greifbar sein, die übrigens zu rund neun Zehnteln der riesigen DOS-Welt entstammen sollen.

Speziell mit Blick auf Apels Anmerkungen zum Thema Massenmarkt ist noch zu notieren, daß 1990 laut IDC weltweit rund 24 Millionen PCs abgesetzt wurden, jedoch nur 550 000 leistungsstärkere Workstations. Und festzuhalten wäre außerdem, daß jene Unternehmen, die heute bei ACE mitmachen, zusammen schon auf einen Jahres-Absatz von mindestens 7 Millionen PC kommen sollen. Was bedeuten würde, daß sie allein schon ein Viertel bis ein Drittel des Gesamt-Absatzes an PCs und Arbeitsstationen stellen.

es

Von CW-Mitarbeiter Egon Schmidt