Japan gegen IBM (Teil 2)

Die Computer der Fünften Generation: nicht IBM-kompatibel

13.12.1991

Standen die 80er Jahre im Zeichen des amerikanisch-japanischen Ringens um die Vormachtstellung im Halbleitergeschehen, haben die siegreichen Japaner nun ihren US-Kontrahenten erneut den Kampf angesagt: In den 90er Jahren wird sich entscheiden, welche der beiden Nationen künftig den Ton in der Computerindustrie angibt. Dabei stehen die Chancen für die Japaner gut, auch hier den Amerikanern den Rang abzulaufen.

Für Oktober 1981 war die Elite der Computerforscher aus aller Welt in das riesige Auditorium der Handelskammer Tokio eingeladen: Japan stellte sein neues, auf zehn Jahre (1982-92) berechnetes Großprojekt vor - die Entwicklung von Computersystemen der "Fünften Generation". Der Angriff auf der zweiten Flanke war eröffnet.

Was die Japaner entwickeln wollten, waren Computer mit "Künstlicher Intelligenz" Denk-Maschinen, die Schlußfolgerungen ziehen und Urteile fällen, die Bilder erkennen und menschliche Sprache verstehen. Computer der Fünften Generation würden in Zukunft beispielsweise einem Arzt Entscheidungsvorschläge an die Hand geben, wie eine Krankheit zu diagnostizieren und zu behandeln ist; in Robotern oder in Fahrzeugen eingebaut, würden sie diesen die Fähigkeit des "Sehens" geben und damit die Fähigkeit, sich selbst zu steuern; an Telefone angeschlossen, würden sie von einer Sprache in die andere übersetzen. Vor allem aber würden mit diesem Denkmaschinen die Barrieren fallen, die heute noch zwischen Computern und vielen Menschen stehen. Die Benutzer müßten nicht erst ein Handbuch studieren, um mit einem Computer umgehen zu können, sondern könnten ihm in ihrer normalen Sprache Fragen stellen und Aufträge zu Problemlösungen erteilen. Wenn die Computer der Fünften Generation dann auch noch, wie es das MITI-Projekt vorsieht, klein und billig sind dann wäre in der Tat der Weg frei, daß Computer zum alltäglichen "Denkzeug" in der Hand jedes einzelnen werden, in Fabrik und Büro nicht anders als zu Hause.

Worauf also das Projekt der Fünften Generation hinauslief, dies war nicht eigentlich eine neue Generation von Computern, sondern eine neue Gattung. Nicht eine Weiterentwicklung plante MITI, sondern eine Revolution - eine Revolution, die das IBM-Königtum stürzen und durch Japans Herrschaft ablösen würde. Künftig würde die Frage nicht mehr lauten, ob ein Computer IBM-kompatibel, sondern ob er Japan-kompatibel ist.

Zwei Aufgaben stellte MITI: die Entwicklung einer grundlegend neuen Computer-Hardware und die Entwicklung einer grundlegend neuen Computer-Software. Ziel der Hardware-Entwicklung ist die "Persönliche Schlußfolgerungsmaschine".

Bei ihr sind die gängigen Schlußfolgerungstechniken nicht in Software realisiert, sondern bereits in die Hardware eingebettet. Um die "Denkgeschwindigkeit" der Maschine weiter zu steigern, soll sie im Endstadium eine hochparallele Architektur mit 1000 Prozessoren haben.

Das Herz oder richtiger: das Gehirn - des Computers der Fünften Generation aber ist die neue Software. Bisher geben Software-Programme dem Computer die Instruktionen, wie eine Aufgabe Schritt für Schritt auszufahren ist. Die Programme der Fünften Generation sollen ihm statt dessen einen Satz von Wenn/Dann-Regeln geben, die der Computer auf die in der "Wissensbank" gespeicherten Fakten anwendet, um zu Schlußfolgerungen zu kommen. Für ein solches "regelbasiertes Programmieren" haben die Amerikaner Mitte der sechziger Jahre die symbolische Programmiersprache LISP (List Programming) entwickelt. Die Japaner folgten in diesem Fall jedoch ausnahmsweise nicht dem amerikanischen Beispiel, sondern wählten die 1972 an der Universität Marseille entwickelte europäische Programmiersprache PROLOG (Programming with Logic).

Die Ankündigung des MITI-Projekts der Fünften Computergeneration schlug in der amerikanischen und europäischen. Computerwelt wie eine Bombe ein. So mancher der ausländischen Teilnehmer der Tokio-Konferenz dachte an 1975 zurück, als MITI die japanische Elektronikindustrie zu einem Fünfjahresprogramm für die Entwicklung höchstintegrierter Schaltkreise zusammenführte. Damals kam niemand auf die Idee, daß 1979, am Ende das Programms, die Japaner zum Siegeszug auf dem amerikanischen Halbleitermarkt antreten würden. Jetzt nahm man die Japaner ernst, sehr ernst. Der Stanford-Professor Edward Feigenbaum, einer der Pioniere der Künstlichen Intelligenz, schrieb alarmiert:

"Die Fünfte Generation wird das Fundament unserer Gesellschaft verschieben; sie wird die Grundqualität unseres Lebens berühren; sie wird die Weise verändern, in der wir uns selber als intelligente Wesen begreifen. Aber, am wichtigsten: sie wird das neue Kräftegleichgewicht in der Weit bestimmen. So wie wir uns in den 70er Jahren Öl-abhängig vom Mittleren Osten fanden, so könnten sich die Vereinigten Staaten und andere entwickelte Länder in den 90er Jahren wissensabhängig von Japan finden - wenn wir nicht heute handeln."

Und nicht anders berichtete der amerikanische Botschafter aus Tokio nach Hause: "Japans Versuche, durch eine Zusammenfassung aller nationalen Kräfte die Technologie für die Fünfte Computergeneration weltweit zu dominieren, stellt die größte Herausforderung der amerikanischen Position einschließlich des Militärischen Sektors dar."

In Amerika war die KI-Forschung schon Mitte der fünfziger Jahre begründet worden. An einer Reihe Spitzenuniversitäten etablierten sich damals KI-Zentren. Aber da die großen Versprechungen sich nicht erfüllten, war das Interesse wieder erlahmt. Nun ließen die Hiobsnachrichten aus Tokio die Stimmung über Nacht umschlagen. Eine hektische Aktivität begann. Das Verteidigungsministerium legte ein zunächst mit 650 Millionen Dollar dotiertes Zehn-Jahres-Programm für "Strategic Computing" auf. 22 der führenden informationstechnischen Unternehmen Amerikas gründeten eine gemeinsame Forschungsfirma: die Microelectronics and Computer Technology Corporation (MCC). Auch der Gigant IBM gab seine Skepsis auf und machte die Künstliche Intelligenz zu einem neuen Schwerpunkt. In das Rennen gingen aber vor allem auch viele neue Unternehmer hinein, denen die amerikanische Wirtschaft, hier wie in allen Hochtechnologien, einen wesentlichen Teil ihrer gewaltigen Innovationskraft verdankt.

Die Amerikaner explorieren das unbekannte Land der Künstlichen Intelligenz auf vielen verschiedenen Bahnen. Sie experimentieren mit regelbasiertem, ebenso wie mit zielbasiertem Programmieren, mit spezialisierten LISP-Maschinen ebenso wie mit KI-Programmen, die auf normalen Personal Computern laufen. Demgegenüber konzentrierten die Japaner ihre Hauptkräfte auf einen einzigen Weg: den des MITI-Projekts der Fünften Computergeneration. Welche der beiden Strategien wird aufgehen?

Das Grundproblem der Parallelverarbeitung

Im Dezember 1988, gut sieben Jahre nach der Ankündigung des Projekts der Fünften Generation, lud Japan wiederum zu einer internationalen Konferenz nach Tokio ein, um das Zwischenergebnis vorzustellen: den Prototyp einer Schlußfolgerungsmaschine mit 64 parallel arbeitenden Prozessoren. Dieses Mal jedoch waren die anwesenden Amerikaner wenig beeindruckt. Die 64 Prozessoren erreichten lediglich die drei- bis vierfache Schlußfolgerungsgeschwindigkeit eines einzelnen Prozessors.

Diese geringe Steigerung der Geschwindigkeit weist auf das Grundproblem jedes parallel arbeitenden Computers hin: Parallelverarbeitung läßt sich nur für jene Teile einer Aufgabe nutzen, die parallel angegangen werden können. Darüber hinaus stellt das Schreiben von Software für einen hochparallelen Computer die Programmierer vor komplexe Probleme. Es ist, als ob MITI das Problem der Künstlichen Intelligenz für sich allein als noch nicht schwierig genug ansah und deshalb ein weiteres Problem hinzufügte: nämlich Künstliche Intelligenz mit Hilfe von hochparallelen Computern zu verwirklichen.

Noch haben die Forscher des MITI-Projekts bis Ende 1991 Zeit. Aber schon heute äußern viele amerikanische Computerexperten die Ansicht daß der von MITI gewählte Weg eine Sackgasse ist. Selbst wenn sich diese Ansicht als richtig erweist, bleibt jedoch das Nationale Projekt der Fünften Computergeneration ein Meilenstein auf Japans Weg zur informationstechnologischen Vormacht. Es hat die Energien der japanischen Computerindustrie auf die Software-Entwicklung hingelenkt, die in den Achtziger Jahren zum Zentrum der Computerindustrie geworden ist.

Amerika erntet Früchte der KI-Forschung

Bisher lag Japan in der Softwaretechnik gegenüber Amerika und auch zu Europa zurück. Das Projekt der Fünften Generation hat die Zahl der japanischen Software-Entwickler vervielfacht und ihre Qualität gesteigert.

Japan ist heute ungleich stärker in der Software-Entwicklung als zu Beginn des Projekts der Fünften Generation.

Amerika erntet unterdessen die Früchte seiner breitgefächerten KI-Forschung. Aus den Labors fließt ein immer breiterer Strom von KI-Produkten auf die Märkte: Die ersten Produkte sind die sogenannten Experten-Systeme - Software-Programme, die das Fakten- und Regelwissen eines Experten, beispielsweise eines Ingenieurs, speichern und mit Hilfe von Schlußfolgerungsmechanismen aus diesem Wissen selbständig Lösungsvorschläge herleiten. Das System gibt dabei zu jedem Zeitpunkt Auskunft darüber, welche Hypothesen gerade untersucht werden, und macht damit den Lösungsprozeß nachvollziehbar.

Seit 1986 wächst der Einsatz solcher Systeme in Amerika explosionsartig. Ende 1989 wurde die Zahl der Expertensysteme bereits auf 4400 geschätzt. IBM prüft mit seinem System DEFT (Diagnostic Expert Final Test) die großen Plattenlaufwerke, die die Information für seine Großcomputer speichern Xerox überwacht durch Datenfernverarbeitung, die sich auf ein Expertensystem stützt, die bei seinen Kunden stehenden Kopiermaschinen. Flugverkehrsgesellschaften stellen mit Hilfe von Expertensystemen komplizierte Flugpläne auf, Kreditkartenorganisationen prüfen die Kreditwürdigkeit von Antragstellern, Ärzte diagnostizieren Krankheiten und erstellen Pläne für die Behandlung der Patienten.

Eine zweite Anwendung von Künstlicher Intelligenz, die rasch vordringt, ist die Mustererkennung. Sie macht "stehende" Roboter, und dereinst auch sich selbst steuernde Autos möglich. Mit großem Nachdruck arbeiten die KI-Forscher ferner an Computern, die natürliche Sprachen verstehen.

Ziel: Durch Diktat gesteuerte Schreibmaschine

Im Einsatz sind bereits Übersetzungsmaschinen. Amerikanische Firmen beherrschen der Markt für Maschinenübersetzung in den europäischen Sprachen, japanische Firmen den Markt für Übersetzungen vom Japanischen ins Englische und umgekehrt. Die Maschinenübersetzungen bedürfen noch der Nachbesserung durch den menschlichen Übersetzer. Aber dieser kann in der Zeit, in der er sonst eine Seite übersetzt, drei bis vier maschinenübersetzte Seiten redigieren.

Ein von mehreren Firmen verfolgtes Ziel schließlich ist die durch Diktat gesteuerte Schreibmaschine. IBM beispielsweise arbeitet an dem System Tangora, das nach Albert Tangora benannt ist, der den Weltrekord im Maschinenschreiben aufstellte.

Insgesamt erreicht, der amerikanische Markt für KI-Software und -Hardware 1988 einen Umsatz von zwei Milliarden Dollar. 1989 dürfte dieser Wert um 50 Prozent auf drei Milliarden Dollar angestiegen sein. Die amerikanische Computerindustrie hat darüber hinaus am japanischen KI-Markt, der 1988 einen Umfang von 700 Millionen Dollar hatte, einen Anteil von 40 Prozent gewonnen.

Schlüsseltechnologie für Wettbewerbsfähigkeit

Das Vordringen der Künstlichen Intelligenz wird von Computer-Experten als zweite Welle der informationstechnischen Revolution gesehen. Auf die Automatisierung der Datenverarbeitung folgt nun die Automatisierung von Entscheidungsprozessen. Verbunden sind Produktivitätssprüngen über die ganze Breite Volkswirtschaft hin - in der Fabriken ebenso wie in den Büros, bei den Facharbeitern und Ingenieuren ebenso wie bei Ärzten, Rechtsanwälten, Steuer- und Finanzberatern. Die Computer der "Fünften Generation" werden damit ebenso wie die Supercomputer zu einer Schlüsseltechnologie für die Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft.

Dies erklärt, warum Amerikaner wie Japaner die KI-Technik und ihre Anwendung mit aller Kraft vorantreiben. In diese Wettlauf haben die Amerikaner einen klaren Vorsprung.

(wird fortgesetzt)