Alle Internetagenturen hassen Projekte und machen sie trotzdem

Der Traum der Produktfirma

12.09.2016
Von 
Seit 1997 hat sich Alain Veuve an einer Reihe von Open-Source-Projekten, IT- und Internet-Unternehmen sowie Startups beteiligt. In Rahmen dieser Tätigkeiten hat Alain unterschiedliche internationale Unternehmen bei der digitalen Transformation sowie bei ihren E-Business-Unterfangen begleitet und beraten. Heute ist Alain ein vielzitierter Thought Leader für die digitale Transformation in Europa, der regelmäßig als Referent an Konferenzen teilnimmt. Sein Blog, alainveuve.ch, ist eine beliebte Quelle für Erkenntnisse für Entscheidungsträger innerhalb der Digital-Branche.
Ich kann Ihnen sagen, 20 Jahre Projektgeschäft gehen nicht spurlos an einem vorüber. Fast alle in der Branche mit denen ich spreche, haben es eigentlich satt. Fast alle Digitalagenturen hegen daher früher oder später den Wunsch, ein Produkt zu lancieren. Dies ist meist zwei Dingen geschuldet: Der Frustration mit dem bestehenden Geschäft und der fehlenden Vorstellung, was Produkt-basiertes Business wirklich bedeutet.

Ganz ehrlich, ich konnte in vielen Jahren nur ganz selten ein Projekt erleben, das auf ganzer Ebene wirklich gut lief. Das heisst nicht, dass die anderen Projekte fehlschlagen, sondern es hat eher mit der Definition eines guten Projekts zu tun.

Das Dilemma: Keine Win-Win-Win Situationen

Ich denke in einem wirklich erfolgreichen Projekt muss es drei Gewinner geben:

  1. Der Kunde, weil er ein Produkt, das ihm den gewünschten ROI bringt, «in time & budget» erhält.

  2. Der Anbieter, der einen zufriedenen Kunden gewinnt und mit dem Projekt einen Gewinn erwirtschaften konnte.

  3. Und die Mitarbeiter des Anbieters, die ohne großen Stress in guter Atmosphäre ein gutes Produkt entwickeln konnten, dazulernten und mit dem Kunden Spaß hatten

In den meisten Projekten, so meine Erfahrung, leidet jedoch eine der Parteien. Meistens sind das die Mitarbeiter, die sich schlicht durchbeißen und teilweise einen ziemlich stupiden Zirkus mitmachen müssen. Sehen Sie sich um, es gibt genug Agenturen, die eine hohe Fluktuationsrate haben.

Luftschlösser sind im Traum schnell gebaut. Aber in einer Projektumsetzung haben sie nichts mehr zu suchen.
Luftschlösser sind im Traum schnell gebaut. Aber in einer Projektumsetzung haben sie nichts mehr zu suchen.
Foto: Andrushaka - shutterstock.com

Ich sehe hier die Unternehmer in der Pflicht zwei Dinge zu tun:
a) nur wirklich gute Mitarbeiter einzustellen und
b) diese dann auch zu schützen - nicht selten, muss man auch sagen, vor sich selber. Denn manch einer, gerade in jüngeren Jahren, mutet sich einfach zu viel zu und kann den Druck nicht durchstehen.

Meistens leidet auch der Gewinn der Agentur. Wenn alle Agenturen auch wirklich durchverrechnen können würde diese Branche finanziell ganz anders dastehen. Das tut sie aber nicht.

In eher seltenen Fällen büßt der Kunde für die anderen zwei Parteien. In der Regel aber wissen die Agenturen zu verhindern, dass solches in allzu krassem Masse durchschlägt. Also büßen eben einfach alle Parteien ein bisschen dafür. Das Resultat ist die Projektfrustration. Und ich kann mit gutem Gewissen sagen, es gibt keine nennenswerte Agentur in Deutschland und der Schweiz über die ich nicht schon denkwürdige Projektgeschichten gehört hätte.

Nachhaltigkeit des Business'

Projekte sind auch aus unternehmerischer Sicht irgendwie wenig nachhaltig. Denn ein Projekt zeichnet sich dadurch aus, dass es einen definierten Anfangs- und Endpunkt hat. Und die allermeisten Kunden haben gar nicht genug Projekte, um auch für einen langfristig nachhaltigen Umsatz bei einer mittelgrossen Agentur zu sorgen. Hat eine Agentur einen solchen Kunden mal an der Angel, ist sie allzu schnell von diesem Kunden abhängig, was auch wieder nicht so gut ist.

Ein weiterer Punkt ist: Vor dem Projekt ist nach dem Projekt. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass am Anfang in einer Agenturgeschichte, oder wenn sie neu in die Branche komm, ziemlich viel «Excitement» vorhanden ist. Das erste verkaufte Projekt über 100k, das erste 500k, das erste über 1M, das erste über 5M.

"The ceiling is the limit"

Das sind Momente die man nicht wieder vergisst. Aber der Champagner - oder mit was Sie die Erfolge am liebsten begießen - fließt von Mal zu Mal weniger. Am Ende dieser Entwicklung, gehen Sie nach dem Closing eines riesigen Deals einfach nach Hause und sitzen am nächsten Morgen im Office und jagen dem nächsten Ding nach.

Skalieren über Manpower

Ein weiteres Problem ist, dass sich Agenturbusiness im Moment nur zu einem wesentlichen Teil über Manpower skalieren lässt. Das ist aus unternehmerischer Sicht stupid. Denn gute Leute finden, ihnen tolle Arbeit zu geben und sie zu einem Teil des Unternehmens zu machen ist sehr schwierig - und teuer.

Produkt FTW!

Ein Produkt scheint alle diese Probleme zu lösen. Besonders ein Software-Produkt. Es kann grenzenlos kopiert und verkauft werden, praktisch ohne einen zusätzlichen Mitarbeiter einzustellen. Oder als SaaS in der Subskription für regelmäßige, wiederkehrende Umsätze sorgen. Und man ist den Stress los, denn die Kunden nutzen ja einfach das Produkt. Das ist weit weniger komplex als ein multidimensionales Projekt zu führen. Und: Yesss, endlich keine stressigen Termine mehr.

Sie merken schon: alles zu schön um wahr zu sein. Denn Produktbusiness ist genauso hart - einfach auf andere Weise. In den letzten Jahren wurde ich mit unzähligen Ideen gepitcht und ich gebe sehr gerne Feedback (einfach Mail schreiben und mir den Lunch bezahlen) und versuche auch nettes aber trotzdem ehrliches Feedback zu geben. Das ist oft sehr hart, denn was da an Produkt-Business-Ideen kommt ist vielfach einfach ein «Scratch-your-own-Itch»-Ding von Agenturinhabern die eben projektgeplagt sind. Die meisten Unternehmer machen fundamentale Fehler und haben verklärte Vorstellungen.