Entwicklungswerkzeug von Bristol

Big Blue will NT-Programme auf den Großrechner portieren

31.05.1996

Konkret ermöglicht es das Produkt mit der Bezeichnung "Wind/U", in C oder C++ geschriebene Programme, die mit einer Anwendungs-Schnittstelle für Windows NT versehen sind, auf diverse Unix-Derivate zu portieren. Die IBM hat nun dafür gesorgt, daß diese Anwendungen auch auf dem Großrechner-Betriebssystem OS/390 laufen, das seinerseits mit allen dafür nötigen Unix-Schnittstellen ausgestattet ist. Die Erprobung der Portierung von NT-Anwendungen bei ausgewählten Kunden soll Ende des Jahres abgeschlossen sein.

Dem Vernehmen nach wird dabei auch die von Microsoft noch nicht fertiggestellte, verteilte Version der OLE-Technik unterstützt. Windows-NT-Anwendungen müssen für den Einsatz in der neuen Systemumgebung allerdings rekompiliert und optimiert werden. Sie sollen dabei nicht an Funktionalität verlieren, sondern im Gegenteil durch Schnittstellen und Middleware-Techniken den Leistungen der OS/390-Welt angepaßt werden.

IBM bezeichnet diese Möglichkeit als Beweis für die Offenheit der bislang als proprietär geltenden Großrechnersysteme. Da man die S/390-Rechner als unternehmensweite Server positioniert habe, sei es ein logischer Schritt nach Unix auch Windows-NT-Anwendungen einzubinden.

Aus NT-Programmen werden Unix-Anwendungen

Fachleute sehen die Einsatzmöglichkeiten von NT-Programmen auf Großrechnern weniger in der Verwendung herkömmlicher NT-Server-Anwendungen. Vielmehr solle den Benutzern die Möglichkeiten eröffnet werden, ihre Maschine mit den im Windows-Umfeld reichlich vorhandenen Werkzeugen beispielsweise zum Internet-Server auf Netscape-Basis auszubauen.

Daher vermutet der britische Branchendienst "Computergram", daß die IBM dabei ist, einen Rechner der S/390-Reihe durch Unterstützung mehrerer Betriebssysteme wie Unix und NT zum multifunktionalen System auszubauen. Die Briten tippen dabei auf das Modell 9672, das sich vor allem bei fortschrittlichen Anwendern großer Beliebtheit erfreuen.

Die Öffnung der Mainframes kann sich jedoch auch als Eigentor erweisen, befürchtet der Nachrichtendienst. So würden die Anwender nun geradezu dazu eingeladen, zentrale Mainframe-Anwendungen via Unix oder NT durch Client-Server-Software zu ersetzen, die nicht von der IBM stammt - zumal NT-Produkte weitaus preisgünstiger als solche für MVS oder OS/390 sind. Wenn darüber hinaus auch noch die Daten auf andere Plattformen gebracht würden, stünde einem Ausstieg aus der Großrechnerwelt nichts mehr entgegen.

Daß NT nicht vollständig portiert wurde, begründet die IBM laut "Computergram" mit dem unverhältnismäßig hohen Verwaltungsaufwand des Microsoft-Betriebssystems. Dieser habe sich am besten dadurch reduzieren lassen, indem man alle wichtige Aufgaben, etwa die Steuerung der Systemaufrufe, beim OS/390-Betriebssystem belassen habe.

Schon seit einiger Zeit hat die IBM jegliche Scheu vor den Microsoft-Produkten abgelegt. So ist es längst üblich, Intel-basierte Desktop- und Server-Systeme mit den Windows-Betriebssystemen auszustatten. Auch existiert bereits eine NT-Version für die Midrange-Rechner der AS/400-Reihe. Anders als bei den Großrechnern, läuft das Microsoft-Betriebssystem dort allerdings als eigenständiges Betriebssystem auf einem zusätzlichen 80486er Co-Prozessor.