Steht Microsoft vor tiefgreifendem Wandel?

Ballmer blickt mit Sorgen in die Zukunft

13.06.2003
MÜNCHEN (CW) - In seiner jährlich an die Mitarbeiter verschickten E-Mail zur Geschäftslage hat Microsoft-Chef Steve Ballmer eine Abkehr von Gewohntem zelebriert: Anders als in früheren Jahren war das Thema Open Source das zentrale Anliegen seiner Botschaft. Ballmer deutete an, dass sich für das weltweit größte Softwarehaus einiges ändern könnte.

Ballmer sagte, die lahmende Wirtschaft und die anhaltende Zurückhaltung bei IT-Investitionen zwinge Microsoft, sein Alltagsgeschäft gründlich zu überdenken. Der Microsoft-Vorstandsvorsitzende akzeptierte, dass die Open-Source-Angebote mittlerweile ernstzunehmende Alternativen darstellten.

Linux ist eine Herausforderung

"In Zeiten knapper IT-Budgets und Bedenken gegenüber Microsofts Kundenorientierung wird nicht kommerzielle Software wie Linux und Open Office als interessante, hinreichend gute oder freie Alternative gesehen", schreibt der Microsoft-Chef. Nicht kommerzielle Software allgemein und Linux im Besonderen stellten für sein Unternehmen und die gesamte Industrie eine Herausforderung dar und bedürften "unserer konzentrierten Aufmerksamkeit."

In einem Interview mit dem Nachrichtendienst "Cnet" betonte Ballmer, er glaube an kommerzielle Software, weil sie Innovationen und einfache Lösungen liefere. Für die gesamte Softwarebranche liefere sie zudem bessere Geschäftsmöglichkeiten für Softwareentwickler.

Darauf angesprochen, dass Linux vor einem Jahr zumindest offiziell noch kein Thema für Microsoft war, dieses Jahr dafür das dominierende, bestätigte Ballmer, sein Unternehmen beobachte "natürlich genau, was unsere Kunden interessiert". Er erklärte auch, wie der E-Mail-Passus zu verstehen sei, in dem er von seinen Mitarbeitern fordert, "alte Gewohnheiten abzulegen". Als Beispiel nannte Ballmer, "wir brauchen nicht Jahr für Jahr neue Releases auf den Markt zu bringen, bloß um jedes Jahr ein Release zu präsentieren."

Ein wesentlicher Grund für den zunehmenden Erfolg von Linux sieht Ballmer in dessen Unterstützung durch IBM. Das habe die Glaubwürdigkeit des Open-Source-Betriebssystems gestärkt. Durch die Unterstützung habe sich auch die Illusion aufgebaut, dass es für Linux einen ähnlich verantwortungsbewussten Support gebe wie für Microsoft-Produkte. Dabei sei keine zentrale Stelle vorhanden, die die kontinuierliche Entwicklung nicht kommerzieller Software sichere. Niemand gewährleiste federführend die Innovation von Open-Source-Produkten in kritischen Bereichen wie Engineering, Verwaltbarkeit, Kompatibilität und Sicherheit.

Neben der Linux-Euphorie beklagt Ballmer in seiner E-Mail eine generell geringere Begeisterung für Technik in weiten Teilen der Bevölkerung. In vielen Gesprächen mit Geschäftskunden werde er mit der Haltung konfrontiert, mit weniger Technik mehr erreichen zu wollen, schreibt der Konzernchef. Dem werde Microsoft systematisch begegnen. Der CEO setzt hier unter anderem auf eine enge Integration der hauseigenen Produkte, eine bessere Ansprache von Entwicklern und last, but not least auf die nächste Windows-Generation "Longhorn".

Hoffnung ruht auf Longhorn

"Wir glauben, dass uns mit Longhorn der nächste große Durchbruch gelingt - vielleicht noch größer als dies bei der ersten Windows-Generation der Fall war." Fast alles, was Microsoft produktseitig unternehme, werde auf das neue Betriebssystem ausgerichtet. "Neben dem Longhorn-Client wird es eine eigene Version von Office, Server-Verbesserungen, Entwicklungs-Tools und eine Variante von MSN geben", schreibt Ballmer. Einen Liefertermin nannte er allerdings nicht (Beobachter rechnen mit dem Jahr 2005). Ballmer wörtlich: "Wir arbeiten daran und nehmen uns so viel Zeit dafür wie nötig, um es richtig zu machen, weil das der nächste elementare Sprung im Computing werden soll."

Als Dinge, die Microsoft schon heute besser machen sollte, nannte Ballmer die Kommunikation mit den Kunden und die Produktsicherheit. "Wir müssen die Konsistenz unseres Geschäftsmodells verbessern", appelliert er an die Belegschaft. "Kunden lieben Vorhersehbarkeit, und das ist recht so. Mit Licensing 6.0 haben wir eine harte Lektion gelernt." Die Trustworthy-Computing-Initiative schreite zwar ordentlich voran, aber Microsofts Kunden würden weiterhin mit Sicherheitslücken konfrontiert. Der Hersteller müsse viel Zeit investieren, um aus Erfahrungen wie dem "Slammer"-Virus zu lernen, was es noch zu verbessern gebe.

Generell wies Ballmer die in Expertenkreisen immer häufiger zu vernehmende Meinung von sich, Software und andere Aspekte der IT seien ausgereizt und aus Kundensicht nicht mehr dazu angetan, die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. "Einige Fachleute unterstellen, IT sei nicht mehr von Bedeutung, die Technik sei am Ende ihrer Innovationskraft angelangt." Ein entsprechender Artikel im "Harvard Business Review" von Nicholas Carr wird derzeit heftig in der Branche diskutiert.

Dem sei keineswegs so, entgegnet der Microsoft-Chef. "Informationen sind das Herzblut des Business, und mittels Software können Menschen und Firmen diese nutzbar machen." Software erlaubt es Firmen, ihren Wettbewerbsvorteil konstant auszubauen. "Entgegen der Ansicht, dass wir in ein posttechnologisches Zeitalter eintreten, glaube ich, dass die nächste Ebene der Software eine der größten Mehrwertquellen für Kunden sein wird, und dass Microsoft gut aufgestellt ist, um dies zu ermöglichen und gleichzeitig davon zu profitieren."

EU geht weiter gegen Microsoft vor

Zur gleichen Zeit, da Ballmer seine Belegschaft auf ein neues Denken einschwören will, wurde bekannt, dass die Europäische Kommission (EC) weitere Anstrengungen unternimmt, um ihr Anti-trust-Verfahren gegen Microsoft auf solide Beine zu stellen. In diesem Zusammenhang hat die EC einen Fragebogen an Musik- und Video-Firmen gesandt und gefragt, wie sie die Technologien einschätzen, die diese benutzen, um ihre Produkte über das Internet zu vertreiben. Die EC hatte Microsoft bereits im Jahr 2000 beschuldigt, mit seinen mit Windows gebündelt ausgelieferten Media-Player-Produkten den Wettbewerb zu behindern.

Marktbeobachter sehen in Ballmers Mail und der darin geäußerten Konzession, Linux sei ein wesentlicher Marktfaktor, nun auch ein Manöver, die EC ins Leere laufen zu lassen. Wenn nämlich neben Windows eine veritable Betriebssystem-Alternative bestünde, dann könnte die gesamte Argumentation der EC bezüglich des Windows-Monopolcharakters wanken. (jm)