IT in der Touristik/Wie TUI seine "Renner" lagert und verwaltet

Automatisches Reservierungssystem hält Reiseprodukte abrufbereit

06.03.1998

Die Touristik Union International (TUI) ist Europas größtes Reiseunternehmen. Der Konzern besteht aus einer Reihe in- und ausländischer Reise- und Hotelgesellschaften. Mit ihrem Beteiligungsportfolio versucht die TUI, die gesamte Wertschöpfungskette in der Touristik abzudecken: vom Kunden über Reisebüros und Veranstalter bis hin zu den Agenturen und Hotels im Zielgebiet. Das 1968 aus dem Zusammenschluß verschiedener Veranstalter entstandene Unternehmen beschäftigt inzwischen 8800 Mitarbeiter. Sie arbeiten in der Konzernzentrale in Hannover und weltweit in den verschiedenen Hotelgesellschaften und Agenturen. Im Geschäftsjahr 1996 betrug der Konzernumsatz 7,7 Milliarden Mark, der Gewinn lag bei 151 Millionen Mark. Der Konzern betreute im gleichen Zeitraum rund 6,3 Millionen Reisegäste.

Um sich über Urlaubsangebote zu informieren oder eine Reise zu buchen, wendet sich der Kunde an ein Reisebüro. Der Kundenberater ruft über seinen Bildschirmarbeitsplatz das Reservierungssystem des Veranstalters auf, der die Urlaubsziele, Hotels, Freizeitangebote etc. kombiniert und als Pauschalreisen anbietet. Im Fall einer Buchung überprüft der Expedient, ob die gewünschte Reise verfügbar ist. Er erfaßt die Kundendaten und erstellt die Einzugsermächtigung der Reisekosten. Rund 30000 Expedienten in Deutschland, Österreich und der Schweiz arbeiten mit dem Buchungs- und Reservierungssystem der TUI. Etwa neunzig Prozent der Reisen bucht das Reisebüro direkt. Sind die angefragten Produkte zu komplex oder nicht automatisiert buchbar, bearbeitet die TUI-Hauptverwaltung oder eine regionale Niederlassung diesen Vorgang.

Nach Vertragsabschluß transferiert das Reservierungssystem die Reiseinformationen automatisch an die verschiedenen Leistungsträger. Ohne erneutes Erfassen stehen die Daten dann unter anderem in den Zielgebieten für die weitere Reiseabwicklung zur Verfügung. Zum Beispiel erfährt die Zielgebietsagentur, mit welchem Flug der Reisende ankommt. Die Informationen landen auch in den Management-Systemen der Hotelbetreiber. Buchungslisten gehen weiterhin an die Rechnersysteme der Fluggesellschaften. Der Kunde wird vom Carrier ins Zielgebiet befördert und dort von der Zielgebietsagentur empfangen, die unter anderem den Transfer zum Hotel und Ausflüge übernimmt. Bisher läuft die Datenübertragung in die Zielgebiete über Stand- oder Wählleitungen. Zukünftig werden Intranet und Internet hierbei eine zentrale Rolle spielen.

Beim Reservierungsdialog werden die Daten der Neukunden erfaßt. Hat der Kunde schon einmal mit der TUI eine Reise unternommen, zeigt das Programm automatisch die Stammdaten an. Das Reservierungssystem verwaltet derzeit rund zehn Millionen Kundendaten, die online aus dem zentralen relationalen Datenbank-Management-System (RDBMS) (DB2 von IBM) abrufbar sind. Die Software überprüft auch, ob Postleitzahl und Ortsname zusammenpassen, und sie kontrolliert eventuelle Namensdubletten. Als weiteres verwaltet die Datenbank die Agenturdaten. Erhält die TUI die Reisekosten nicht direkt vom Kunden, belastet sie das Reisebüro mit den Gebühren. Auf jeden Fall bekommt das Reisebüro Provision für den jeweiligen Geschäftsvorfall, die das System automatisch ermittelt und gutschreibt. Die TUI wiederum verrechnet ihre Kosten mit den Leistungsträgern (Carriers, Hoteliers etc.). Diese Vorgänge laufen komplett über die neu eingeführte Standardsoftware für Finanzen und Auftragsabrechnung.

Das Projektteam der TUI veranstaltete Workshops, an denen sowohl Mitarbeiter aus dem IT-Bereich als auch Endanwender aus den Fachabteilungen teilnahmen. Sie alle untersuchten die Abbildung TUI-spezifischer Geschäftsprozesse, die enge Kopplung mit der Individuallösung und den Einsatz der Software in der Host-Umgebung. Ergebnis der Workshops: Die Funktionen von "Oracle Applications" entsprach TUI-Forderungen am besten.

Dem Einsatz dieser Standardsoftware gingen Untersuchungen voraus, unter welchem Betriebssystem sie laufen sollte: Unix oder IBMs MVS. Da zwischen dem Reservierungssystem und den kommerziellen Applikationen erhebliche Datenströme fließen und deswegen Datensicherheit eine große Rolle spielt, entschied man sich bei der Datenbank für die MVS-Plattform; die Programm-Server laufen unter Unix. Das Management zentraler Systeme ist besser realisierbar als das dezentraler; die Betriebssystem-Mechanismen stellen einen reibungslosen Produktionsbetrieb sicher. Drei Anbieter von Standardsoftware standen zur Auswahl. Eine Expertengruppe aus Mitarbeitern des Anbieters, von TUI und IBM ermittelte in dreiwöchigen Tests den effizientesten Weg zur Umsetzung der neuen Software-Architektur.

Gefragt war nicht nur Standardfunktionalität, sondern vor allem eine weitgehende Unterstützung der komplexen touristischen Geschäftsprozesse. Die ausgewählten Module für Buchhaltung, Controlling, Leistungsträger- und Agenturabrechnung versprachen eine flexiblere Anpassung und Implementierung. Die anderen evaluierten Lösungen hätten nach Ansicht der Projektmitarbeiter eine viel stärkere Standardisierung verlangt. Statt Software-Customizing wäre vor Inbetriebnahme der Programme eine weit stärkere Modifikation der Geschäftsprozesse notwendig gewesen. Die erweiterte Standardsoftware löst momentan die vorgeschaltete Eigenentwicklung zur Provisionsermittlung ab. Geprüft wird auch, ob weitere Softwaremodule Teile der eigenentwickelten touristischen Programme ersetzen können.

Zwei Monate vor der Software-Einführung änderte sich die Konzernstruktur - eine Herausforderung für das IT-Management. Denn Gesellschafts- und Berichtsstrukturen entsprachen nicht mehr dem vordefinierten IT-Konzept. Oracles Standardsoftware zeigte sich jedoch flexibel genug, den organisatorischen Turnaround innerhalb der kurzen Zeitspanne mitzumachen, so daß die Applikationen trotz der Veränderung wie geplant am 1. November 1997 in Produktion gingen.

Viele Eigenentwicklungen können entfallen

In der neuen Konzernstruktur organisieren und offerieren drei touristische Geschäftsbereiche Reiseveranstaltungen und Hotelurlaub in den weltweiten Zielgebieten. Ein weiterer Bereich ist für Zielgebietsservice und Hoteleinkauf zuständig. Den fünften Unternehmensbereich bildet die TUI Infotec, deren 250 Mitarbeiter zukünftig für den konzernweiten IT-Service zuständig sind.

Durch den Einsatz von Standardsoftware für die Finanzanwendungen läßt sich hier die Fertigungstiefe im IT-Bereich deutlich verringern; ein Großteil der bisherigen Eigenentwicklung entfällt. Vorgefertigte Module decken zwar selten die Geschäftsprozesse bis ins letzte Detail ab, aber sie erfüllen zumindest auf Anhieb die wesentlichen Anforderungen. Zusätzliche anwenderspezifische Funktionen lassen sich prozeßgerecht entwickeln und einbinden. Was bei den Finanzapplikationen, dem angestammten Einsatzbereich von Oracle Applications, gut realisierbar ist, gestaltet sich jedoch für das Tourismusgeschäft weit komplizierter. Bei einem Reservierungs- und Buchungssystem sollen nach Möglichkeit die Bedürfnisse von Veranstalter und Reisebüro harmonieren: einerseits die optimale Präsentation der Reiseangebote samt effizienter Abwicklung, andererseits umfassende Beratungsmöglichkeiten und einfache Systembedienung.

Auch im Planungs- und Kalkulationssystem steckt umfangreiches touristisches Know-how. Fertige Lösungen gab es in beiden Fällen nicht. Die Applikationen wurden daher individuell in Cobol programmiert. Vorgelagerte Anwendungen für die Bildverarbeitung oder die Katalogverwaltung und -redaktion sind als Client-Server-Architekturen implementiert. Die Clients laufen unter OS/2, die Server unter Unix. Ein Projektteam stellt die OS/2-Plattformen derzeit auf Windows NT um. Das Reservierungssystem unter dem Betriebssystem OS/390 läuft auf einem Host. Aufgrund des Umfangs und der Risiken, die mit einer gleichzeitigen Umstellung sämtlicher Programme verbunden sind, ersetzte das neu entwickelte Reservierungssystem zwischen 1994 und 1996 nach und nach die alten Programme. Die Kommunikation zwischen den beiden Systemen lief zeitweilig über Softwarebrücken im Hintergrund; zum Kunden hin blieb die geforderte Kontinuität in den Programmabläufen trotzdem erhalten.

In Spitzenzeiten muß der Datenbank-Server täglich rund zwei Millionen Transaktionen bewältigen; bei solch hohen Übertragungsraten sind Host-Konzepte sinnvoll.

Andere Unternehmen haben versucht, ähnliche Installationen mit geclusterten Unix-Systemen zu realisieren. Relativ schnell zeigten sich jedoch massive Probleme in puncto Leistungsfähigkeit und System-Management. Die sanfte Migration erleichterte vor allem die Zusammenarbeit mit den Expedienten.

Eine Big-bang-Umstellung hätte bedeutet, alte und neue Anwendungen zumindest übergangsweise im Produktionsbetrieb nebeneinander zu fahren. Die rund 20000 Mitarbeiter der Reisebüros gleichzeitig mit zwei Reservierungssystemen zu konfrontieren, erschien jedoch unrealistisch. Der Übergangszeitraum von zwei Jahren erleichterte den Reisebüros auch, sich schrittweise auf die neue Software einzustellen und die Mitarbeiter sukzessive in den acht Verkaufsniederlassungen im Umgang mit den neuen Applikationen zu schulen.

Die Tochtergesellschaften in den verschiedenen Ländern arbeiten häufig noch mit unterschiedlichen IT-Systemen. Zur Zeit wird evaluiert, ob konzernweit gleiche Prozesse etablierbar sind. Das Ziel ist, möglichst die gesamten Buchhaltungs- und Auftrags-Abwicklungs-Prozesse zu vereinheitlichen.

Ausgehend von den zahlreichen Kunden und Reisebüros über die Veranstalter bis ins Zielgebiet will man die einzelnen Prozesse stärker integrieren, so daß die Daten ohne Systembrüche jederzeit zur Verfügung stehen.

Einen Schwerpunkt bildet die direkte Anbindung der Leistungsträger-Systeme eigener Hotelgesellschaften ebenso wie die externer Partner.

Dabei baut man auch auf Kooperationen im Markt touristischer Systeme. So sind Fidelio als Anbieter von Hotel-Management-Software und Oracle dabei, ihre Anwendungen durch das Festlegen von Standard-Schnittstellen zu integrieren.

Bei der Auswahl der Finanzapplikationen waren die Jahr-2000-Fähigkeit und Euro-Eignung Entscheidungskriterien. Da das Reservierungssystem auf einem RDMBS basiert und die Applikation die Datenbankfunktionen nutzt, bereitet die Umstellung der touristischen Anwendungen keine größeren Probleme.

Anfang 1999 ein Integrationstest

Die Analyse zeigte, daß der geschätzte Aufwand "nur" zwischen 500 und 1000 Manntagen liegen wird. Bei einem jährlichen Entwicklungs- und Wartungsaufwand von etwa 35000 Manntagen ist dieses Projekt eher moderat. Anfang 1999 findet ein Integrationstest statt, um den fehlerfreien Ablauf und das Zusammenspiel aller Programmsysteme zu testen, so daß am 1. Januar 2000 alles reibungslos verläuft. Den ersten Jahr-2000-Test hat das Reservierungssystem längst bestanden. Denn die Jahrtausendwende ist bereits ein Renner am Reisemarkt. Viele Reisen sind bereits im System vorgemerkt, lange bevor die Preise hierfür tatsächlich feststehen.

In einem weiteren Projekt geht es um die Eurofähigkeit der Programme. Aufgrund der multinationalen Aktivitäten arbeitet die TUI seit Jahren mit verschiedenen Währungen, so daß auch die Abbildung des Euro kein völliges Neuland bedeutet.

Angeklickt

Die fertigen "Reiseprodukte" lagern abrufbereit im Reservierungssystem der TUI. Es verarbeitet die Informationen zu fertigen Reiseangeboten und verwaltet auch die darin enthaltenen Teilleistungen. Die Software gibt tagesaktuell Auskunft über die verfügbaren Zimmer eines Hotels und informiert über freie Flug-, Schiffs- oder Bahnkapazitäten, so daß Leistungsbestandteile auch individuell kombinierbar sind. Das System informiert ferner über Wasser- und Lufttemperaturen an den Sonnenstränden oder über Schneeverhältnisse in Skigebieten. Die Beratungskomponente des Programms unterstützt Kunden, die keine genauen Vorstellungen ihrer Reiseziele haben. Sie suchen nach einem Vier-Sterne-Hotel am Strand unter Palmen. Oder sie machen Vorschläge aufgrund von Kostenlimits. Bei der Suche nach Postleitzahlen werden automatisch die dem Wohnort nahegelegenen Abflughäfen berücksichtigt.

*Josef van Kisfeld ist Leiter Informations-Management bei der TUI Infotec GmbH in Hannover.