Wo die Beschraenkung auf 16 Anwender keine Rolle spielt Die P/370-Karte: Fuer Backup und Entwicklung gut geeignet

08.07.1994

Die "P/370"-Karte der IBM (siehe CW Nr. 22 vom 3. Juni 1994, Seite 1: "IBM schraubt die Leistung der PS/2-Rechner auf /370-Niveau") ist bei vielen Anwendern auf grosses Interesse gestossen. Welche Softwaremoeglichkeiten diese Hardware-Erweiterung eroeffnet, darueber kursiert allerdings eine Reihe von falschen Vorstellung. Hagen Cyrus* will Klarheit schaffen.

Die Missverstaendnisse auf seiten der Anwender lassen sich in drei Kategorien unterteilen:

1. Die P/370-Karte ist eine interessante technische Spielerei, aber ein ernsthafter Einsatz ist nicht moeglich.

2. Es handelt sich um einen Prozessorbeschleuniger, der einen PC auf Mainframe-Leistung puscht.

3. P/370 ist nutzlos, da es nur eine Einplatzloesung bietet.

Im allgemeinen ist zu beobachten, dass die Skepsis ueberwiegt. Richtig eingeschaetzt wird die Karte allerdings vom IBM-Vertrieb, der eine Verringerung seiner Einnahmen befuerchten muss: Der Preis pro Mainframe-MIPS betraegt naemlich etwa 2500 Mark.

Die folgenden Ausfuehrungen sollen die genannten falschen Vorstellungen korrigieren. P/370 ist ein Koprozessor fuer den Mikrokanal. Auf der Karte befinden sich neben dem mikrokodierten /370-Prozessor eine Gleitkomma-Einrichtung, 16 MB adressierbarer Speicher und ein Adapter fuer den Mikrokanal.

Ausfuehrung geschieht mit etwa vier MIPS

Das Betriebssystem, das mit der P/370 kooperiert, ist OS/2. Von OS/2 aus wird der Mikrocode auf die P/370-Karte geladen. Mit Ausnahme der E/A-Instruktionen werden alle /370-Maschinenbefehle direkt von der P/370 erledigt. Die Ausfuehrungsgeschwindigkeit betraegt etwa vier MIPS.

Die privilegierten E/A-Instruktionen werden von OS/2-Treibern emuliert. Fuer alle gaengigen Geraete liegen Treiber vor, die die Analogie zu den Steuereinheiten darstellen. Mit der Kanaladapterkarte laesst sich auch Originalperipherie via Steuereinheit anschliessen - allerdings keine Magnetplatten. Diese werden grundsaetzlich von OS/2-Treibern simuliert. Physisch kompatibel zur /370-Welt sind Magnetband und Magnetkassetten. Sie werden zur Auslieferung des Betriebssystems und seiner Komponenten benutzt.

Daraus koennen folgende Tatsachen abgeleitet werden: Die IBM- Betriebssysteme MVS/XA, VSE/ ESA, VM/ESA und DPPX laufen unmodifiziert, alle darunter verfuegbaren Softwarekomponenten ebenfalls. MVS/ESA hingegen funktioniert nicht, weil die aktuelle MVS-Ausfuehrung /390-Instruktionen benutzt, die auf P/370 nicht verfuegbar sind. (Eine P/390-Karte ist laut IBM jedoch in Vorbereitung, Anmerkung der Redaktion.)

Weitere Einschraenkungen: Die Zahl der aktiven Benutzer ist auf 16 limitiert. Ausserdem muss die Lizenzsoftware fuer die Mikroprozessor- Maschine neu erworben werden, auch wenn eine alte 9370 stillgelegt wird.

Allerdings betragen die Lizenzgebuehren nur einen Bruchteil der bisher fuer die niedrigste Maschinengruppe gezahlten.

Mit der P/370-Karte wird eine Reihe von Anwendungsgebieten erschlossen:

1. Backup: Da es keine Einschraenkung im Batch gibt und alte Peripherie anschliessbar ist, kann die P/370 als Ausweichrechner fungieren, wenn 16 aktive Benutzer fuer den Notbetrieb ausreichen.

2. Entwicklung: Die Lizenzgebuehren richten sich bekanntlich nach der Maschinengruppe. Durch Auslagerung der Entwicklung auf die P/370 lassen sich demnach Lizenzgebuehren sparen. Insbesondere bei einer 4GL ist die Aufteilung in eine Entwicklungslizenz auf der P/370 und eine Runtime-Lizenz auf dem Produktionsrechner denkbar. Auch sollte der Anwender sorgfaeltig pruefen, ob auf der Produktionsmaschine VM noetig ist. OS/2 bietet fuer den Entwickler bessere Tools als VM. Darueber hinaus stoeren die Entwickler auf der P/370 nicht den Produktionsbetrieb. Da alle Geraete im OS/2 emuliert werden koennen und auch Kanal- und Geraeteadressen "soft" sind, lassen sich beliebige Geraetekonstellationen simulieren.

3. CAD/CAM: Einige Unternehmen pruefen die Moeglichkeit, "Cadam" vom Zentralrechner auf RS/6000 zu verlagern. Die hohe CPU-Leistung und die Binaerkompatibilitaet machen jedoch die P/370 mit VM zur kostenguenstigen Alternative.

4. Produktionsrechner fuer kleinere Organisationseinheiten: Wenn die Kommunikation instabil ist, etwa in Entwicklungslaendern und im ehemaligen Ostblock, bietet sich eine P/370 als kleiner autonomer Rechner an. Diese Rolle war eigentlich der 9370 zugedacht, die hohen Preise fuer Hardware und Betriebssystem-Software verhinderten jedoch deren breiten Einsatz. Beachtet werden muss allerdings die schon erwaehnte Einschraenkung auf 16 aktive Benutzer.

5. Client-Server: P/370 fungiert als Koprocessor fuer den Pentium- Chip. Die Platten der P/370 werden unter OS/2 verwaltet. Ein File- Transfer zwischen dem Host und dem PC ist also de facto ein lokaler Datentransfer von einem Plattenbereich in einen anderen, mithin die schnellste PC-Host-Kommunikation ueberhaupt. Serielle Geraete lassen sich durch sequentielle Dateien unter OS/2 darstellen. Wenn die Anwendersoftware mit einem Compiler geschrieben ist, der EBCDIC-Darstellung direkt verarbeiten kann, so ist sie fuer den Client-Server-Betrieb praedestiniert. Die Anwender auf dem LAN unterliegen uebrigens nicht der 16-User- Restriktion. Von daher lassen sich auch grosse Anwendersysteme mit einer P/370 unter OS/2 implementieren.

6. Netz mit Token-Ring-Verbindung: Ueber eine CICS-zu-CICS- Kommunikation lassen sich Anwendungen auf mehrere Rechner verteilen. Diese Moeglichkeit erlaubt auch die Nutzung der P/370- Karte in einem MVS-Shop.