Wie man Sachbearbeiter auf Daten setzt NUR Touristik schafft sich ein firmenweites Objektmodell

25.08.1995

MUENCHEN (ua) - Bei der Entwicklung ihres "Touristischen Informations- und Abwicklungssystems" (TIAS) erarbeitete sich die NUR Touristic GmbH ein unternehmensweites Objektmodell. Waehrend des Mammutprojekts, bei dem das Kerngeschaeft der NUR neu geordnet wurde, hat sich herausgestellt, dass objektorientiertes Denken mit Cobol, strukturierter Analyse und CASE-Design durchaus zusammenpasst.

"Wir konnten entweder das Risiko eines Software-GAUs eingehen oder uns mit einem Projekt dieses Umfangs neue Freiheiten schaffen, die das Geschaeft wieder gestaltbar machten", bezeugen uebereinstimmend Simone Schalansky und Willy Voelp von der IS-Abteilung der NUR. Immerhin wurde etwa die Haelfte aller Programme "umgekrempelt", das Vertriebssystem ausgebaut und der Grossteil der Daten angepackt. Ausgenommen blieben lediglich Bereiche, die nicht unmittelbar das touristische Kerngeschaeft betrafen.

Wie tragfaehig das Objektmodell ist, das die IS-Abteilung dabei geschaffen hat, beweist sich nun in Projekten, die darauf aufsetzen. Zur Zeit ist der zum Karstadt-Konzern gehoerende Reiseveranstalter damit beschaeftigt, das NUR Europa Touristik- System (NETS) zu realisieren. Ausserdem interessieren sich inzwischen auch andere Karstadt-Toechter fuer das NUR-Vorgehen. Angesichts der enormen Produktivitaetssteigerung bei der Softwareproduktion verwundert das kaum. Wie Schalansky und Voelp bestaetigen, habe man zuvor etwa 70 bis 80 Prozent der Kapazitaet fuer die Wartung verschwendet. Heute koenne dieser Anteil weitgehend in die Entwicklung eingebracht werden, nur 25 Prozent des Aufwands gehen in die Pflege.

Prioritaet hatte die technische Abloesung. Mit den Fachbereichen wurde vereinbart, sich bei den neuen Funktionalitaeten zu beschraenken. Trotzdem stecken schaetzungsweise 200 Bearbeiterjahre in der TIAS-Entwicklung. Bis zu 80 Entwickler waren gleichzeitig daran beteiligt. Allein mit NUR-Kapazitaet war dieses Projekt nicht zu bewaeltigen. Das Reiseunternehmen holte sich das Muenchner Unternehmen Software Design & Management GmbH & Co. KG (SD&M) und die von ihm entwickelte objektorientierte Methode ins Boot.

"Zu Beginn haben wir allerdings schlucken muessen; denn eigentlich kennen wir nur Projekte dieser Groessenordnung, die gescheitert sind", rekapituliert Schalansky. Doch habe es die einmalige Chance zu einer Integration und Konsolidierung verschiedenster Anforderungen gegeben. Laufen hingegen viele kleinere Projekte parallel, besteht die Gefahr, dass sich jedes in eine andere Richtung entwickelt.

"Die Aussensicht des Systems etwa gegenueber den Reisebueros war weitgehend in Ordnung und die Funktionalitaet leidlich, aber die Erweiterbarkeit und Flexibilitaet hatten ihre Grenzen erreicht", beschreibt Voelp die zum Teil 25 Jahre alten und meist in Assembler geschrieben Altsysteme. So kam der Anstoss zur Veraenderung aus der IS-Abteilung selbst. Darueber hinaus wurden die Anforderungen der Fachabteilung gebuendelt und einem Steuerungsausschuss, bestehend aus Fachbereichs- und IS-Managern und der Geschaeftsleitung, zur Pruefung vorgelegt. "Auf diese Weise konnte die Integration von Teilleistungen schon mit der Konsensfindung beginnen", so Voelp. Der Abstimmung des Projektumfangs folgten Ist-Aufnahmen und Kosten-Nutzen-Analysen zu Teilprojekten und einzelnen Anforderungen.

Zu den Restriktionen des TIAS-Projekts gehoerte die Beibehaltung eines vergleichsweise neuen "Verkaufsdialogs", der inzwischen laut Voelp in ueber 9000 Reisebueros aktiv ist.

Hinzu kommen sollten vertriebsunterstuetzende Anwendungen. Die Produktstammdatenverwaltung und Applikationen wie die Reiseauftragsabwicklung mit dem Erstellen von Flugtickets oder Paxlisten musste angepasst werden.

So entschied sich die NUR, mit DB2, IMS/DC und Cobol in der IBM- Welt zu bleiben. Die neuen Funktionen sollten zum Teil in der Generatorsprache "Cross System Product" (CSP) von IBM geschrieben werden. Die Systemumgebung umfasst als Entwicklungs- und Zielplattformen IBM-Mainframes mit dem Betriebssystem MVS, Transaktionsmonitore und PCs mit OS/2. Bei der Datenmodellierung hatte die NUR Erfahrungen mit dem CASE-Tool Application Development Workbench (ADW) von Knowledgeware (heute Sterling Software) gesammelt. Der Wunsch, das neue System so flexibel wie moeglich zu gestalten, fuehrte zur Objektorientierung und zur SD&M- Methodik*.

Ausgangspunkt ist dabei die Vorstellung von einem Sachbearbeiter, der einen Vorgang zu erledigen hat. Zur Bewaeltigung seiner Arbeit haelt er Kontakt zu seinen Kollegen, bezieht sich auf Vorschriften eines Regelwerks und greift auf Informationen zu, die nur ihm zur Verfuegung stehen und die nur er veraendern darf. Falls erforderlich, kann er die Dienste einer anderen Instanz in Anspruch nehmen.

Der Sachbearbeiter stellt die Spezifikation fuer eine Software- Einheit, ein Objekt, dar. Dieses Objekt kapselt eine Reihe von Funktionen, die Sachbearbeiterauftraege sowie Entitaeten und Beziehungen des Datenmodells, also die Datensicht des Sachbearbeiters. Zustands-, Funktionen- und Datenmodell bilden das Objektmodell. "Was muss ein Sachbearbeiter koennen, was muss er dazu wissen, das sind die Designfragen, die direkt zur Konstruktion der Objekte fuehren", so Voelp.

Natuerlich, so raeumen Schalansky und Voelp ein, sei auch bei der NUR das Problem "How to find the objects" aufgetreten. Es gebe keinen starren Algorithmus, vielmehr sei Heuristik gefordert. "Das Denken bleibt einem nicht erspart." Und dass Objektorientierung in erster Linie ein Denkmodell ist, darin sind sich die beiden NUR- Mitarbeiter einig. Das Feedback seitens der NUR- Anwendungsentwickler, die bis zu diesem Zeitpunkt vor allem mit der Structured Analysis gearbeitet hatten, spiegele "Aha- Erlebnisse" wider: Eigentlich denken wir schon immer so, nur haben wir bisher die Dinge voellig zerbroeselt.

NUR ging von den Hauptentitaeten des bestehenden Datenmodells aus. Die Aufgabe der Projektteams bestand im wesentlichen darin, sinnvolle Cluster von Daten und Funktionen zu finden und diese schliesslich mit den anderen Gruppen abzustimmen.

Koordinationsinstanzen wie etwa die Qualitaetssicherung (siehe Abbildung auf Seite 15) sorgten fuer eine abgestimmte Vorgehensweise. "Nur so war es moeglich, dass mehrere Teams gleichzeitig ihre Arbeit aufnahmen", erklaeren Schalansky und Voelp.

Die Qualitaetssicherung wurde fuer TIAS neu aufgebaut, hat das Projekt ueber den gesamten Zeitraum begleitet und besteht auch heute noch. Die Gruppe "Datenadministration", in deren Haenden die Datenintegritaet lag, war ebenfalls eine staendige Instanz. Das "Chefdesign", zustaendig fuer den Entwurf des Gesamtkonzepts, hatte dagegen nur temporaeren Charakter.

Basis des Designs bildet eine Drei-Schemata-Architektur. Der Anwendungskern, bestehend aus den Sachbearbeitern, wird durch eine Benutzerschicht (Dialog oder Batch) und eine Datenzugriffsschicht vervollstaendigt. Die Dialoge lassen sich spezifizieren, indem die allgemeinen Baumuster in Dialogtypen beschrieben werden. Diese Typen geben per Zustandsuebergangsdiagramm an, ueber welche Interaktionsmoeglichkeiten der Benutzer verfuegt und welche Art von Eingaben welche Aktionen anstossen.

Objektorientierte Paradigmen nachbilden

Auch die Folgezustaende sind hier festgelegt. Dabei fassen Dialog- Roots global moegliche Benutzereingaben zusammen. Eine zugeordnete konkrete Dialoginstanz "erbt" demnach die Eigenschaften der Dialog-Root und des zugehoerigen Dialogtyps. Es handelt sich um eine Nachbildung eines einfachen Vererbungsmechanismus.

Die Umsetzung des Designs in ablauffaehige Programme erfolg-te mit konventionellen Techniken. Aus Dialoginstanz, Sachbearbeiterauftraegen und Objekten der Zugriffsschicht wurden jeweils eigene Module. Der Mangel an technischen Standardklassen liess sich zum Teil durch die Bereitstellung von Programmrahmen und wiederverwendbaren Querschnittsfunktionen kompensieren.

Probleme mit der Objekttechnik hatten die NUR-Programmierer bei der Verwaltung der Objektinhalte. Dieses Schicksal duerften sie allerdings mit C++- und Smalltalk-Entwicklern teilen. Auch die objektorientierten Sprachen bieten noch keine Patentloesungen. Ein spezielles Data-Dictionary und Konfigurationswerkzeuge sollen das Problem entschaerfen.

NUR im Profil

Der Reiseveranstalter NUR Touristic GmbH, Oberursel, (NUR = Neckermann und Reisen) ist eine hundertprozentige Tochter der Karstadt AG. Neckermann, Gut-Reisen, Aldiana und Terramar sind die bekanntesten Markennamen, unter denen NUR ebenfalls am Markt praesent ist. Insgesamt beschaeftigt das Unternehmen mit Sitz in Oberursel rund 1200 Mitarbeiter und erwirtschaftet in Deutschland einen jaehrlichen Umsatz von mehr als drei Milliarden Mark. Rund 2,8 Millionen Touristen machen sich pro Jahr mit NUR auf den Weg. Damit ist das Unternehmen nach der TUI das zweitgroesste seiner Branche.