UI und Benutzerführung

Von Apps für das (Prozess-)Management lernen

18.02.2015
Von 


Prof. Dr. Komus – Leiter des BPM Labors – ist Professor für Organisation und Wirtschaftsinformatik an der Hochschule Koblenz. Er ist außerdem wissenschaftlicher Leiter der Rechenzentren der Hochschule Koblenz und Mitbegründer der Modellfabrik Koblenz. Prof. Komus promovierte am Institut für Wirtschaftsinformatik, Prof. Dr. Dr. h.c.-mult. August-Wilhelm Scheer. Vor seiner Tätigkeit als Hochschullehrer war Prof. Komus 10 Jahre lang als Unternehmensberater mit Fragestellungen wie Organisationsgestaltung, IT-Strategien, SAP-Einführung und -optimierung betraut. Herr Komus ist Certified Scrum Master und ECM Master.
Prozesse und Workflows gestalten sich oftmals schwierig und komplex. Der Erfolg von Apps zeigt aber wichtige Ansatzpunkte für erfolgreiches Design im IT- und Prozess-Management. Hier einige Beispiele.

"Drei Ergebnisse in Deutschland, ein Ergebnis in Schweiz" zeigt die Webseite, die mir eigentlich nur die Wettervorhersage für Koblenz an Rhein und Mosel liefern sollte.

Wetter für Koblenz in Rheinland-Pfalz, in der Schweiz, Thüringen, und Sachsen
Wetter für Koblenz in Rheinland-Pfalz, in der Schweiz, Thüringen, und Sachsen
Foto: Ayelt Komus

Damit hatte ich nicht gerechnet. Ja, ich wusste, dass es auch in der Schweiz einen Ort Koblenz gibt. Aber zwei weitere Koblenz in Deutschland, das war mir nicht klar. Eine kurze Recherche zeigt: Während Koblenz in der Schweiz immerhin noch über 1.500 Einwohner beherbergt, haben Koblenz in Thüringen und in Sachsen in Summe keine 450 Einwohner - im Vergleich zu Koblenz in Rheinland-Pfalz mit über 110.000 Einwohnern.

100 Prozent der Nutzer dieses Wetterdienstes müssen also eine zwischengeschaltete Webseite erfassen und sich weiterklicken, damit weniger als zwei Prozent der möglichen Nutzer gleichberechtigt Zugang zu ihren Wetterdaten bekommen. Bleibt zudem noch anzumerken, dass die Nutzer aus den kleineren Koblenz-Orten wohl die Verwechslungsgefahr kennen und somit darauf vorbereitet sind, einen Extraklick ("Meinen Sie ein anderes Koblenz als Koblenz in Rheinland-Pfalz?") zu tätigen - ganz zu schweigen von den Möglichkeiten der Lokalisierung über den Internetzugang etc. bei Städten die viele hundert Kilometer entfernt sind.

Hier ist die Benutzerführung aus Sicht des Anwenders also alles andere als optimal.

Von Apps lernen

Geht es besser? Ja!

Champions der guten Nutzerschnittstelle sind die Apps, wie sie mit Apples iPhone ihren Durchbruch hatten.

Drei Eigenschaften von Apps sind bemerkenswert:

  • Fokussierung

  • Kontextbezug

  • Intuitive Darstellung und Nutzerführung

Fokussierung: Typische Apps sind keine Universal-Anwendungen. Ganz im Gegenteil: Oft dienen sie nur einem sehr spezifischen Zweck. Es ist eben nicht der Versuch, alle Fragestellungen und Wunschfunktionalitäten abzudecken. Vielmehr steht meist ein sehr spezifischer Anwendungsfall im Vordergrund. So ist etwa eine Wetter-App auf den Wunsch fokussiert, die aktuelle Wettervorhersage zu erfahren. Dieser spezielle Aspekt ist Raison d'être für die App, im Unterschied zum Universaltool Webbrowser, mit dem wir auf dem PC die Wettervorhersage abrufen. Auch ist die Funktionalität bei Apps meist deutlich eingeschränkt.

Kontextbezug: Eine gute App nutzt Kontextdaten und verhält sich entsprechend. So legt die Wetter-App die Annahme zugrunde, dass der Nutzer im Standardfall seine regionale Wettervorhersage angezeigt bekommen möchte; in unserem Beispiel also das Wetter in Koblenz am Rhein für eben dieses und kein anderes Koblenz. Gleiches gilt für die Fahrplananzeige beim Zug etc. Sollte ich darüber hinaus Informationen für einen anderen Kontext wünschen, so kann ich dies gegebenenfalls über einen besonderen Menüweg erfassen.

Intuitive Darstellung und Nutzerführung: Darstellung und Nutzerführung in guten Apps sind einfach zu begreifen und zu bedienen. Wetterdaten werden mit Hilfe von Visualisierungen unterstützt. Schneetreiben bei Schnee oder eine helle Darstellung der Sonne bei Sonnenschein lassen den Nutzer Informationen intuitiv einordnen. Einfache Bedienelemente wie Wischen oder Drehen lassen digitale Eingaben sehr analog und real wirken.

Natürlich geben Apps mit ihren allgegenwärtigen Erfolgen wichtige Hinweise, wie eine gute Benutzerschnittstelle zu gestalten ist - unabhängig davon, ob diese Applikation auf einem mobilen Device oder einem stationären PC laufen soll. Spannend ist aber vor allem die Reflexion, was wir für das Management von Geschäftsprozessen (Business Process Management) und das Management allgemein daraus lernen können.

Wenn jede Eventualität bedacht wird

Bei der Gestaltung und Optimierung von Prozessen und Systemen legen wir in unserer Management-Kultur gerne viel Energie in die Berücksichtigung der kompliziertesten Konstellationen und Herausforderungen.

Das ist zunächst einmal sehr positiv: Wenn Lösungen einmal zu Ende gedacht sind, funktionieren sie nicht nur als "Schönwetter-Lösungen"; auch in den unwahrscheinlichsten Konstellation - und selbst diese wird es irgendwann geben - funktionieren die Prozesse und Anwendungen sicher und stabil.

Die Berücksichtigung aller möglichen Sonderfälle hat aber einen hohen Preis. Oft verwenden wir viel mehr Energie auf diese Ausnahmen als auf die Optimierung des Standardfalls. Vor lauter Berücksichtigung der Sonderfälle wird der Standardfall in den Hintergrund gedrängt.

Die Symptome sind wohlbekannt - egal, ob es sich um einen Fahrkartenautomaten, die Gestaltung eines Geschäftsprozess oder vieles andere handelt:

Schlechte Usability wie etwa überladene Nutzeroberflächen, die wenig verständlich sind oder Prozessmodelle, die kaum noch interpretiert werden können, sind nur zwei typische Beispiele.

Noch viel schlimmer und oft nicht so einfach zu erkennen, sind die verspäteten Lernkurven und überhöhten Aufwände bei Konzeption und Realisierung. Weil Themen in jeder Variation durchdacht werden, steigt der Aufwand drastisch und die Zeit bis zur Realisierung verzögert sich. Dies führt dazu, dass der Lackmus-Test der praktischen Anwendung viel zu spät kommt. Ansätze, die in der Praxis einfach nicht praktikabel sein werden, bleiben viel zu lange im Labor, statt sie frühzeitig im täglichen Leben einfach auszuprobieren. Grundlegend andere, bessere Ansätze werden nicht erdacht und erprobt, weil Entwicklungsprozesse zu lange dauern und vor allem zu teuer werden.

Zunächst einmal den Happy Path optimieren

Apps und nicht zuletzt agile Methoden zeigen, dass die Entwicklung neuer Prozesse und Applikationen zunächst einmal auf den Standard-Fall fokussiert sein sollten.

In der Prozessoptimierung wird dieses Vorgehen auch als "Happy Path" bezeichnet. Dies ist der einfachste Prozess im Standard, End-to-End. Erst wenn dieser Prozess (zumindest im Konzept) optimal läuft, sollte Energie in die Betrachtung der Spezialfälle investiert werden. Erst wenn der Prozess End-to-End durchdrungen wurde, ist eine Abschätzung der Komplexität und der Herausforderungen möglich, die eine sinnvolle Betrachtung der Sonderfälle eröffnet.

Achtung: In der Praxis ist diese Vorgehensweise nicht immer einfach umzusetzen. Sind Praktiker aus den jeweiligen Prozessen involviert, wie es sich ja meist empfiehlt, so sind deren Erfahrungen und Wahrnehmungen oft vornehmlich durch Schwierigkeiten in der Bearbeitung von Sonderfällen geprägt. Der Blick für die Potenziale der Optimierung im Standardgeschäft ist dabei oft verloren gegangen.

Anschließend empfiehlt es sich, die so generierten Erfahrungen schnell auf den Prüfstand zu stellen. Funktionieren die Verbesserungen im Standardfall wirklich so gut wie gedacht? Haben wir wirklich den "Standardfall" abgebildet? Diese Fragen lassen sich am besten beantworten, wenn die Lösung das Labor verlässt und in der Praxis erprobt wird.

Agile Methoden haben diese Vorgehensweise gleichsam in ihrer DNA berücksichtigt, so etwa beim Scrum durch die schnelle Realisierung erster lieferfähiger Produkte nach kurzen Sprints. Beim Design Thinking sorgen die sogenannten Personas dafür, dass sehr konkrete Rahmenbedingungen und Aufgabenstellungen des typischen Falls die Kreativität beflügeln und nicht etwa Sonderfälle dazu führen, dass neue Denkansätze vorzeitig verworfen werden.

Kontextorientierung und einfache Darstellung

Auch Kontextorientierung und einfache Darstellung sollten beim Management von Prozessen und IT als entscheidende Faktoren berücksichtigt werden.

Hier zeigen wiederum Lean und agile Methoden wie dies zu realisieren ist.

Mit dem sogenannten Gemba Walk wird die Optimierung in den Kontext gebracht, um den es geht. Nur dort, wo die "Musik" tatsächlich spielt, können Lösungen entwickelt werden, die kreativ und realistisch sind. Bei der Scrum-Methode sichert der Daily Scrum das tägliche Zusammenkommen. Die hohe Betonung der Gestaltung geeigneter Team-Räumlichkeiten bei Design Thinking und Scrum zeigen ebenfalls wie der richtige Kontext geschaffen werden kann.

Einfach Visualisierung und Darstellung von Produktivität, Fehlern und Fortschritt stehen ebenfalls bei Lean, Design Thinking und Scrum im Vordergrund. Mit Hilfe von Scrum Boards, Impediment-Backlogs, Burdown Charts und viel Bastelmaterial im Design Thinking werden Team-Performance, Hindernisse und nicht zuletzt Prototypen einfach, unmittelbar und greifbar abgebildet.

Insgesamt zeigt sich, dass Fokussierung, Kontextorientierung und einfache, intuitive Visualisierung Erfolgsfaktoren sind, die nicht nur bei der Softwaregestaltung im Vordergrund stehen. Schließlich möchte niemand seinen Mitarbeitern einen Prozess zumuten, in dem der Sonderfall den Standardfall dominiert.

Wer in Koblenz etwas für Koblenz sucht, sollte schnell und einfach ans Ziel kommen und nicht lange über Sonderwege stolpern, die nur für eine kleine Minderheit angelegt wurden. Das gilt sowohl für die Anzeige der Wettervorhersage im Speziellen wie für Geschäftsprozesse im Allgemeinen.