Vom Web 2.0 zu Enterprise 2.0

28.06.2006
Von Thomas Gerick 
Wikis, Blogs und von Benutzern erzeugte Metadaten haben Konjunktur im Web. Immer mehr Firmen versuchen diese Techniken intern für sich fruchtbar zu machen.
Laut Gilbane Report dominieren Wissens-Management und Informationsaustausch bei der Nutzung von Blogs und Wikis in Unternehmen.
Laut Gilbane Report dominieren Wissens-Management und Informationsaustausch bei der Nutzung von Blogs und Wikis in Unternehmen.

Anfang der 90er Jahre etablierte der finnische Informatikstudent Linus Torvalds ein neues Organisationsprinzip in der Softwareentwicklung: offen, flach, autonom, experimentierfreudig. Einige Jahre später, im Sommer 1999, geriet ein ähnlicher Ansatz mit der Musiktauschbörse Napster wieder in die Schlagzeilen. Eine Revolution von unten mit 35 Millionen Kunden.

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567421: Wikis bündeln das Mitarbeiterwissen;

570723: Jotspot bringt Excel ins Wiki;

556244: Ingredienzien für coole Websites: Ajax, Tags und RSS.

Weitere Links:

Nick Carr: IT doesn’t matter (http://www.nicholasgcarr.com/articles/matter.html);

Andrew McAfee: The Trends Underlying Enterprise 2.0 (http://blog.hbs.edu/faculty/amcafee/index.php/faculty_amcafee_v3/the_three_trends_underlying_enterprise_20/);

Mark Choate: What makes an enterprise wiki (http://www.cmswatch.com/Feature/145-Wikis-in-the-enterprise)?

Wiki ist kein Ersatz für CMS

CMS Wiki

"Schwergewichtig" "Leichtgewichtig"

Hohe Investitionen Geringe Investitionen

Eher statisch Eher dynamisch

Hierarchische Inhalte Netzartige Inhalte

Redakteure können ändern Jeder kann ändern

Redaktionsprozesszentriert Nutzerzentriert

HTML- oder Wysiwyg-Editor Wiki-Syntax

Technische Fähigkeiten notwendig Kaum technische Fähigkeiten notwendig

Aktuelle Version zugreifbar Alle Versionen zugreifbar

Mehrere Jahre nach dem Ende der Dotcom-Ära zeigt sich, dass die Saat von Linux und Napster aufgeht. Der Übergang von der Britannica Online zur Wikipedia oder von Ofoto zu "Flickr" veranschaulicht, worum es eigentlich geht: Jeder ist Teil eines Netzwerks und kann nach dem Bottom-up-Prinzip das Web aktiv mitgestalten. Das vor allem kennzeichnet das Internet der zweiten Generation. Dabei kann es sich um Inhalte (etwa Wikis oder Blogs) oder Metadaten (Folksonomien) handeln, kollektive Bewertungen können Angebote bekannt machen (beispielsweise die Linkpopularität bei Googles Pagerank-Algorithmus).

Das soziale Web

Inzwischen haben sich neue Medienformate etabliert, die unter dem Sammelbegriff Social Software zusammengefasst werden können. Dazu gehören alle Anwendungen, welche die Kommunikation, Interaktion und Zusammenarbeit im Netz unterstützen. Weblogs, Wikis, Social-Bookmark-Dienste oder Podcasts ergänzen dabei ältere Anwendungen wie Instant Messaging oder Groupware.

Das Ausleben sozialer Bedürfnisse im Netz ist nicht neu. Das Innovative an sozialen Web-Technologien besteht darin, dass Unternehmen die Idee des "User-add-Value-Prinzips" als Kernbestandteil ihres Geschäftsmodells entdecken. So ergänzen Shop-Betreiber beinahe im Wochenrhythmus ihr Angebotsportfolio durch Social-Software-Bausteine. Beispielsweise können bei Amazon Buchautoren seit Februar mittels Weblog-Einträgen über neue Publikationen informieren. Diese sendet Amazon automatisch per Mail an alle Kunden, die in der Vergangenheit ein Werk des betreffenden Verfassers erworben hatten. Und auch Ebay plant Gratis-Blogs und ein Wiki für seine Mitglieder.

Aber was bringt Social Software in der Unternehmensrealität? Funktionieren entsprechende Tools auch hinter der Firewall?

Was nützt Web 2.0 in Firmen?

Skepsis ist erlaubt, zumal nach den Erfahrungen vieler Unternehmen mit dem Thema Wissens-Management. In der Vergangenheit wurde oft in das Wissensangebot investiert, jedoch kaum in die Wissensnachfrage. Datengräber und Informationssilos waren die Folge. Der Wissenstransfer fand nicht über Dokumenten- oder Content-Management-Systeme statt, sondern in der Kaffeeküche, via Telefon oder in Arbeitsgruppen. Aus unternehmerischer Sicht sind daher insbesondere Technologien gefragt, die über die Integration in Geschäftsprozesse das Wissen arbeits- und prozessabhängig liefern können.

Kollaborative Technologien basieren darauf, dass sie die Systemaktionen der Anwender quasi mitschreiben und für die Verhaltenssteuerung anderer Mitarbeiter verwenden. Das hat nichts mit dem herkömmlichen Verständnis von Zusammenarbeit zu tun, sondern mit dem Verarbeiten des Wissens von vielen Einzelnen unter Zuhilfenahme der Informationstechnologie. Noch sind die meisten Web 2.0-Anwendungen allerdings für den Einsatz in Unternehmen wenig geeignet. Es gilt Hürden wie Produktstabilität, Funktionalitätsumfang oder Datensicherheit zu überwinden.

Deutsche Firmen zurückhaltend

In Sachen Social Software ist Deutschland im Vergleich zu den USA noch Entwicklungsland. Dennoch: mit Blogs und Wikis wird in deutschen Unternehmen bereits eine Menge unstrukturierter Informationen textlich erfasst - und zwar dezentral. Damit etabliert sich eine flexible, nachfragegerechte Informationsversorgung, die an vielen Stellen positive Effekte hat. Im Folgenden seien einige konkrete Einsatzszenarien von Social Software unter dem Aspekt der Pflege und Nutzung von Inhalten beschrieben.

Beispiele für Firmen-Wikis

Gerade in größeren Organisationen bietet sich der Einsatz von Wikis an. Die Anwendungsmöglichkeiten dafür sind mannigfaltig - für ein FAQ-System, als Glossar, für Linklisten, für die Dokumentation beziehungsweise als gemeinsame Wissensbasis in der Qualitätssicherung oder bei Forschung und Entwicklung, als Projekt-Management-System, für Marketing-Kampagnen oder im E-Learning.

Einige Beispiele: Das komplette Intranet der Firma MySQL AB basiert auf einem Wiki - dieses nutzt natürlich die relationale Datenbank aus eigenem Hause. Techniker der BBC verwenden ihr Wiki zur Übergabe zwischen den Schichten, BBC-Redakteure erstellen auf diese Weise gemeinsame Berichte. Microsoft sammelt Kundenideen via Wiki, das US-Unternehmen firebright.com nutzt ein technisches Wiki-Forum, das QEDWiki dient bei IBM für Entwicklungszwecke. Auch Volkswagen, Bosch oder Adidas setzen die neue Technik ein.

Dennoch sind viele Unternehmen noch nicht bereit, sich dem Abenteuer Social Software zu stellen. Neben den erwähnten Hemmnissen hat dies nicht zuletzt kulturelle Gründe, denn Weblogs oder Wikis sind ihrem Charakter nach nur durch das Kollektiv steuer- und kontrollierbar. Aspekte wie Transparenz, Subjektivität und Kritikfähigkeit fordern nicht nur das Management - auch die Mitarbeiter, wenn es etwa darum geht, Einträge von Kollegen zu verändern oder zu kommentieren.

Keine Zeit zum Schreiben

Eine weitere Hürde betrifft die Zeit und Motivation der Wissensarbeiter, relevante Inhalte zu liefern. Vor allem darum kreiste kürzlich eine interessante Blog-Debatte ("Is Web 2.0 enterprise-ready?") zwischen dem Harvard-Professor Andrew McAfee ("Enterprise 2.0: The Dawn of Emergent Collaboration") und Nicholas Carr, bekannt geworden durch den Aufsatz "IT doesn’t matter". "Diejenigen, die das wertvollste Geschäftswissen besitzen, haben am wenigsten Zeit übrig" - konstatiert Carr und glaubt im Gegensatz zu McAfee nicht, dass diese zu eifrigen Bloggern, Taggern and Wiki-Autoren mutieren.

Man kann sich vorstellen, dass die Wahrheit irgendwo in der Mitte liegt - vor allem dann, wenn sich der Nutzen von Wikis zeigt und der redaktionelle Pflegeaufwand durch einfachste Handhabung und komfortable Editiermöglichkeiten so gering wie möglich gehalten wird. Und eine Erfahrung ist in diesem Zusammenhang ebenfalls interessant: Mitarbeiter, die über intelligente Recherchesysteme erfolgreich nach relevanten Informationen suchen und somit von den Erfahrungen der Kollegen unmittelbar profitieren, sind auch motiviert, ihr Wissen zu dokumentieren.

Kollektives Wissen nutzen

Im kleineren Rahmen verspricht heute intelligente Software für Unternehmen praktischen Nutzen, indem sie auf Basis semantischer Themennetze Inhalte quellenübergreifend finden. Solche Systeme lernen durch die Interaktion der Benutzer und verbessern das kollektive Recherchewissen in Form von aktuellen Themennetzen und spezifischen Suchausdrücken. Dies kann über Feedback- und Bewertungsfunktionen erfolgen, die - in die Prozesse integriert - den Dokumentationsaufwand verringern. Die Bewertung eines Dokuments, eine erfolgreich beantwortete Frage, ein eingegebener Suchbegriff, vorhandene Datenbanken, bestehende Abhängigkeiten - kollaborative Techniken nutzen heute jedes Wissens-Puzzleteilchen, um die Wissensströme innerhalb und außerhalb von Organisationen effizienter zu machen.

Die Stadt Köln verwendet beispielsweise Wissensdatenbanken, um ihren Bürgern innerhalb kürzester Zeit telefonische Auskünfte zu unterschiedlichsten Themen zu erteilen. Was beim Fällen eines Baumes im eigenen Garten zu beachten ist oder welche Dokumente nötig sind, um ein Straßenfest zu veranstalten - die Service-Agents geben entsprechende Fragen umgangssprachlich in das System ein und erhalten innerhalb einer Sekunde eine nach Passgenauigkeit qualifizierte Dokumentenliste. Innerhalb von 120 bis 150 Sekunden werden so weit über 80 Prozent der Anfragen direkt und abschließend beantwortet - Dokumentation inklusive. Trotz selbstlernender Mechanismen hat der Administrator alle Möglichkeiten, das Lernverhalten zu beeinflussen.

Selbstlernende Systeme

Ein letztes Beispiel soll veranschaulichen, dass gerade das systemseitige Lernen durch die Interaktion vieler Nutzer - ein Basisfaktor moderner Social Software - sich im betrieblichen Umfeld zukünftig weiter etablieren wird. MHZ Hachtel, ein Schweizer Hersteller von Fensterdekorationen, Lichtregulierung und Sonnenschutz, hat jüngst selbstlernende Diagnosebäume im Kundenservice vorgestellt. Mitarbeiter sind dort aufgrund komplexer und sich rasch ändernder Produkte zunehmend auf technisches Wissen angewiesen. Bei MHZ nutzt das System einen Algorithmus, der jede dokumentierte Lösung mit ihrer Erfolgsquote verknüpft. Bei der Abarbeitung der Fragen versucht das System den Gesprächsverlauf so zu steuern, dass als Erstes die Frage gestellt wird, welche die detaillierteste Aussage über die wahrscheinlichsten Lösungen erbringt. Dann folgt die Frage, die nach Bewertung der ersten Antwort wiederum mit der höchsten Wahrscheinlichkeit rasch zur passenden Lösung findet. Dieses Verfahren garantiert nicht, dass im Einzelfall keine unnötigen Fragen gestellt werden, die ein Mensch nicht stellen würde, weil er in Zusammenhängen denkt. Dennoch - in der Praxis stellt eine derartige Anwendung eine sehr kurze Bearbeitungszeit der Anfragen sicher.

Fazit

Web 2.0-Anwendungen erleben einen Boom. Was in den 90er Jahren als Social Software mit Open Source und Napster im Internet begann, setzt sich heute fort und erreicht auch immer mehr Unternehmen. Allerdings befinden sich entsprechende Enterprise-2.0-Lösungen oft noch im Alpha-Stadium. Social Software funktioniert im Web durch die Motivation vieler - das allein reicht im Unternehmensrahmen nicht. Die soziale Motivation muss hier durch die Integration in die Geschäftsprozesse ersetzt oder - besser noch - flankiert werden. (ws)