Homecare - Betreuung zuhause

Testfall Telemedizin: Sprechstunde am heimischen Fernseher

29.01.2008
Von Handelsblatt 
In der Betreuung von Herzpatienten bahnt sich eine kleine Revolution an. In Friedrichshafen wird derzeit ein System für Telemedizin getestet. Dabei können sich die Patienten daheim erholen, müssen jedoch nicht auf Überwachung und ärztliche Hinweise verzichten. Doch noch gibt es einige Schwierigkeiten zu beseitigen.

BERLIN. Die Sprechstunde von zehn Friedrichshafener Herzpatienten findet neuerdings vor dem heimischen Fernseher statt. Sie wurden frühzeitig aus der Klinik nach Hause entlassen und werden nun von der Klinik aus der Ferne betreut. Ihr Blutdruck, Puls und Gewicht wird ständig überwacht - über eine drahtlose Bluetooth-Verbindung gelangen die Daten online zum Zentralrechner des Krankenhauses. Dort wird automatisch festgestellt, wenn sich die Werte verschlechtert haben. Über das TV-Gerät werden die Patienten mit Kardiologen der Klinik verbunden - natürlich nur, wenn etwas mit ihren Werten nicht stimmt.

Steigt etwa das Gewicht des Patienten innerhalb von drei Tagen um zwei Kilogramm, könnte das auf eine Wasseransammlung im Körper hindeuten. Dadurch steigt die Gefahr eines Kollapses. In einem solchen Fall fordert das Telemedizinsystem den Patienten automatisch per Bildschirm auf, sich künftig weniger salzhaltig zu ernähren - gefolgt von Tipps, worauf man dabei achten sollte.

Zur Kontrolle seines Lebensstils muss der Patient regelmäßig einen Multiple-Choice-Fragebogen ausfüllen, der von dem Rechner automatisch ausgewertet wird. Zeigt sich auch hier, dass es mit der richtigen Ernährung hapert, wird ein aufklärendes Video oder Schulungsprogramm online gestellt. Dafür gibt es einen Gesundheitskanal im Fernseher, der über eine separate, simpel handhabbare Fernbedienung genutzt wird.

Noch handelt es sich um ein von T-Systems mit Philips-Technik initiiertes Pilotprojekt für chronisch Herzkranke, das unter dem Namen "Mobile Visite" Anfang November gestartet worden ist. Doch das Telemedizin-System soll rasch seinen Kinderschuhen entwachsen. "In Friedrichshafen zeigen wir mit diesem ersten Projekt, wie Telemedizin die Situation von Herzkranken wesentlich verbessern kann. Systeme für andere chronische Krankheiten wie Diabetes und Bluthochdruck werden folgen", sagt Ina Roth, Leiterin Business Development bei T-Systems.

Die Technik ist die geringste Hürde. Patienten sollten allerdings über einen Breitbandanschluss verfügen. "Die Daten werden kabellos an eine Set-Top-Box geleitet, die diese über einen Breitband-Internetanschluss an unsere Server sendet. Von dort können sie in der Klinik eingesehen werden", erklärt Armin Brüge von Philips Medizin Systeme, der die telemedizinischen Systeme implementiert. Erleichtert wird der Umgang mit dem System für den Patienten dadurch, dass die Messgeräte die Werte automatisch per Bluetooth übermitteln - umständliches Einstöpseln oder gar händisches Eintippen ist kein Thema mehr. Brüge sieht noch Erweiterungspotenzial für das "Motiva" genannte System, da beispielsweise ein Blutzucker-Messgerät oder ein Spirometer für Asthma-Patienten einfach integrierbar sind. Philips verleiht die Geräte, was mit 60 bis 100 Euro pro Monat und Patient zu Buche schlägt.

Die Gebühr macht sich aufgrund geringerer Einweisungen rasch bezahlt: "Groß angelegte Studien in Holland haben ergeben, dass die Zahl der Einweisungen und die Verweildauer im Krankenhaus um 30 bis 40 Prozent gesenkt werden kann", berichtet Christoph Westerteicher, bei Philips für telemedizinische Anwendungen in Europa verantwortlich. "Weil Patienten und deren Angehörige durch Schulungsvideos mehr über ihre Erkrankung lernen, gehen sie verantwortlicher damit um", nennt Westereicher einen weiteren Vorteil.

Die zehn Testpersonen zwischen 65 und 81 Jahren und die Ärzte in Friedrichshafen testen, wie bedienerfreundlich die neue Technik ist. Detlef Jäger, Kardiologe und Chefarzt am Klinikum Friedrichshafen, ist zufrieden. Größter Nutzen sei, dass der Gesundungsprozess der Patienten mit Hilfe der Telemedizin viel besser überwacht werden kann. Jäger: "Die Telemedizin nimmt uns Arbeit und dem Patienten viel Fahr- und Wartezeit ab." Hinzu kommt, dass ein Rechner die Bewertung der Patientendaten vornimmt und gegebenenfalls Alarm schlägt. Außerdem läuft der Informationsfluss zwischen Klinik, Hausarzt und Patient besser, der bislang meist umständlich über Arztbriefe erfolgt.

Ganz nebenbei werde so ein unabhängiges und sicheres Leben zu Hause möglich, sagt der Kardiologe. Die meisten Patienten fühlen sich zu Hause wohler. "Die private Umgebung wirkt sich positiv auf das Befinden und damit auf die Genesung des Patienten aus", so Jäger.

Die Telemedizin macht aber nicht nur Patienten, Ärzten und Kliniken das Leben leichter. Auch die Kassen profitieren davon: Nach einer Erhebung der Techniker Krankenkasse suchen Telemedizin-Patienten ein Drittel weniger den Facharzt auf und werden um 13 Prozent seltener in eine Klinik überwiesen. Dennoch steckt die auch "Homecare" genannte Technik in Deutschland noch in den Kinderschuhen. Es gibt nur wenige Pilotprojekte wie das in Friedrichshafen. Sie testen vor allem den Einsatz der Technik bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Dennoch erwarten die Marktforscher von Frost & Sullivan bis 2010 ein Umsatzwachstum in der Telemedizin auf 1,5 Milliarden Euro. Wobei 71 Prozent des Umsatzes allein auf die Überwachung des Herzens, die so genannte Telekardiologie, entfallen. Das sieht der Branchenverband VDE ähnlich. Er rechnet damit, dass in Deutschland 450.000 von insgesamt 800.000 Herzkranken telemedizinisch betreut werden könnten und sich die Kosten um ein Drittel drücken ließen.

Auch der Kardiologe Jäger hält die Telemedizin für zukunftsträchtig und ihr Potenzial für Diagnostik, Therapie und Prävention bei weitem noch nicht ausgeschöpft: "Wir haben eine steigende Zahl älterer, chronisch kranker Menschen und zudem dünn besiedelte Gebiete mit schlechter medizinischer Versorgung, da wird die Technik ihre Vorteile voll ausspielen."

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