Münchner Elektronik-Multi in Genf von Kopf bis Fuß auf ISDN eingestellt

Siemens: Über Partner Kompetenz für offene Kommunikation

06.11.1987

GENF (bi) - Aussagen zur Neuregelung des Telekommunikationswesens und zu Weltmarktdaten frankierten die Präsentationen neuer Produkte der Siemens AG in Genf. Neben den Abkommen mit IBM und DEC (siehe CW 44, Seiten 1 und 5) interessierte die Anregung von Vorstandsmitglied Hans Bauer, analog zur amerikanischen BellCore (Bell Corp. Research Inc.) eine EuroCore zu gründen, die für Standardisierung und Telekom-Infrastruktur in Europa verantwortlich zeichne.

Eine besondere Rolle attestierte Bauer, Leiter des Unternehmensbereichs Nachrichten- und Sicherungstechnik, der Marktzugänglichkeit für jeweils ausländische Produkte. Er suchte mit Zahlenmaterial zu belegen, daß der von US-Seite häufig geäußerte Vorwurf, die europäischen Märkte seien geschlossen, für den Sektor der öffentlichen Netze jedenfalls nicht zutreffe. So sei beispielsweise der Sieben-Milliarden-Mark-Markt der Bundesrepublik nur zu 62 Prozent von rein inländischer Produktion abgedeckt, 6,5 Prozent der Telekommunikations-Ausstattung immerhin stammten völlig aus dem Ausland, der Rest sei zwar im Inland produziert, jedoch von Unternehmen in ausländischem Besitz. Als ganz geschlossen zeigten die Zahlen Japan und relativ geschlossen Frankreich, Großbritannien und Schweden; die USA, für die ein Marktvolumen von 35 Milliarden Mark geschätzt wurde, decken ihren Inlandsmarkt immerhin zu 73 Prozent mit eigenen Produkten ab.

Vor diesem Hintergrund sind die beiden großen Systeme der Siemens AG aus dem Sektor der öffentlichen Technik zu sehen, die in Genf im Mittelpunkt der Schau standen: der neue Hochleistungs-Multiprozessor CP113 für digitale EWSD-Vermittlungen und EWSP (einschließlich EWSP-V), ein neues Paketvermittlungssystem, das bei einem Datendurchsatz von 40 000 Paketen pro Sekunde pro Netzknoten bis zu 12 Leitungen bedient, wodurch ein Datennetz auf eine Größe von etwa 100 000 Teilnehmern anwachsen kann. Zur Zeit, so die Siemensianer, sei EWSP weltweit die schnellste Paketvermittlung für Datennetze und um den Faktor 40 schneller als das bisherige weltweit installierte Siemens-System EDX-P, zu dem EWSP voll kompatibel sei. Über den Einsatz in öffentlichen Netzen hinaus, zum Beispiel für geschlossene Benutzergruppen, bietet es sich für Value Added Services (VAS) an.

"CorNet" soll Normungsbeitrag leisten

Zur Einführung neuer Dienste (VAS) schlug der Telekom-Mann aus München Starthilfen etwa durch Übernahme der Gerätekosten oder günstige Gebühren vor. Damit spricht er sich gegen eine rein bedarfsorientierte Einführung neuer Telekommunikations-Anwendungen aus.

Am meisten Marktwachstum im Sektor Telekommunikation konstatierte Bauer weltweit bei der Text- und Datennetztechnik mit 15 Prozent; und gerade hier definiert Siemens sich mit einem Marktanteil von rund 50 Prozent als Marktführer.

In diesem Zusammenhang hat speziell das System EWSP-V strategische Bedeutung, und zwar zur Sicherung der künftigen Märkte, die sich im Zusammenhang mit den elektronischen Medien entwickeln, respektive mit dem Angebot von Basisdiensten der Postverwaltungen (Telex, Teletex, Btx, Fax, Datex-P, Datex-L und ISDN) und speziell von künftigen Leistungen privater Value-Added-Service-Anbieter. Die Mailbox-Funktionen entsprechen dem Standard X.400 des CCITT. Das verbindungsunterstützende System könne erstmals alle bestehenden Datennetze über Dienstübergänge verbinden, unterstütze aber auch zusätzliche Dienste der gezielten Verteilung oder Speicherung von Nachrichten und sei damit die Weiterentwicklung vom reinen Datentransportnetz zum intelligenten Datennetz.

Einen "Normungsbeitrag" für die Signalisierung in privaten ISDN-Netzen will das Haus Siemens mit einer Initiative leisten, die sich "CorNet" nennt und zum Ziel hat, ein "CorNet-Protokoll" zu entwickeln, das die verschiedensten Endgeräte über digitale Nebenstellenanlagen, bei Siemens natürlich Hicom, untereinander sowie mit Host-Rechnern oder dem öffentlichen ISDN-System verbindet. Ein Bedarf dafür liegt auf der Hand. Erstens betreffen die vom CCITT bisher festgelegten Signalisierungsstandards hauptsächlich die öffentlichen Netze, nicht aber die netzinterne Signalisierung. Zweitens ist ein derartiges einheitliches Protokoll, das von vielen Herstellern unterstützt wird, die Voraussetzung dafür, daß Endgeräte unterschiedlicher Hersteller vom PC bis zum Host über unterschiedliche Nebenstellenanlagen auf unterschiedliche Leistungen des künftigen ISDN überhaupt zugreifen beziehungsweise untereinander kommunizieren können. Das CorNet-Protokoll soll auf CCITT-Empfehlungen für das öffentliche ISDN aufbauen und die Forderungen der offenen Kommunikation nach OSI erfüllen. CorNet wird allen Interessenten zur uneingeschränkten Anwendung zur Verfügung gestellt werden, über wesentliche Beiträge zur Erprobung sowie Ergänzungen und Weiterentwicklungen befindet ein Anwenderforum, das Siemens anregen wird. Mit von der CorNet-Partie ist bisher Siemens-Aussagen zufolge Digital Equipment, wie über haupt die Integration von Digital-Know-how in Siemens-Strategien und Produkte in Genf besonders auffiel.

Auch das EWSP-V-System enthält quasi in einer Server-Funktion DEC- Hard- und Software. Siemens bringt das Vermittlungssystem EWSP mit en entsprechenden Umsetzfunktionen ein, DEC liefert die Funktionen des Electronic-Mail und Massage-Handling sowie Hardware.

Neue Server wurden auch für das Inhouse-ISDN-System Hicom gezeigt:

- für Voicemail, ferner ein

- Multiservice-Terminal für den Anschluß des Bürokommunikationssystems 5800 für Text, Daten und Grafik, weiterhin

- ein Server als private Btx-Zentrale für schnellen Bildschirmtext via ISDN und ein

- zusätzliches Multiservice-Terminal (Hicom 3510), das Datenkommunikation zu Universalrechnern ermöglicht. Gezeigt wurde hier die Emulation als Datensichtstation IBM 3270 als auch für Siemens 9750. Die Anlage war über S(o)-Schnittstelle mit einer EWSD-Anlage der Schweizer PTT verbunden.

Unter den zahlreichen Demonstrationen von ISDN-Endgeräten und -Anwendungen auf dem Siemens-Stand fiel die sekundenschnelle Aufnahme und Übertragung eines Farbfotos auf, das mit einer Digitalisierkamera von Canon aufgenommen und über einen Canon-Umsetzer via ISDN in relativ guter Qualität übertragen wurde.

Bauer in einem Schlußstatement der Genfer Pressekonferenz: "Siemens macht ISDN vom Telekom-Chip über Hicom und die EWSD-Vermittlung bis hin zu Meßgeräten für die neuen ISDN-Netze". Synergiefaktoren "wie bei keinem anderen Unternehmen" und finanzielle Kraft gäben einen langen Atem: "Wir treten an, unseren Weltmarktanteil von heute 10 Prozent auf 15 Prozent zu steigern." Partnerschaften spielen dabei offenbar eine entscheidende Rolle. Als Nummer Drei vor Northern Telecom (6,4 Milliarden Mark Umsatz) und Ericsson (5, 1), nach Alcatel N.V. (11,3) und AT&T + APT (15,5), präsentierte der Telekom-Chef die Siemens AG im Sektor öffentliche Netze.